Vorletzter Sonntag des Kirchenjahrs / Volkstrauertag (14. November 2021)
Pfarrerin Dr. Birte Janzarik, Tuttlingen [Birte.Janzarik@elkw.de]
2. Korinther 5, 1-10
Intention2. Korinther 5, 1-10 ist ein rätselhafter, schwerer und tiefer Text, so empfinde ich es. Mit meiner Predigt möchte ich diese Tiefe für Menschen von heute zum Sprechen bringen. Die Themen des Paulus (Sterblichkeit, Sehnsucht, Trost, Auferstehung jetzt und in Ewigkeit) sind Themen, die alle Menschen zu allen Zeiten existenziell betreffen. Mit den Gedanken und Bildern von Paulus treten die Texte von Marie Luise Kaschnitz, wie ich finde, in einen wunderbaren Dialog. An entscheidenden Stellen lebt der Bibeltext, lebt das Gedicht und lebt auch die Predigt von dem, was sie auslassen; von dem, was sie in Bildern nur andeuten; von dem Raum, den sie – hoffentlich – für die Hörenden aufschließen können.
Liebe Gemeinde!
„Der Herr lässt sich Zeit mit mir.“ Ich denke an die alte Dame, hoch betagt und lebenssatt, die gern sterben möchte. Ihre Geschwister, die alten Freunde – alle sind schon gegangen. Sie ist immer noch hier. Sie hat genug gelebt, alles ist mühsam geworden. Aber der Herr lässt sich Zeit …
Der Wunsch danach, sterben zu dürfen: Bei alten oder sehr kranken Menschen bin ich diesem Wunsch schon öfter begegnet. Wie demütig und geduldig ein Mensch das Sterben erwarten kann, das bewegt mich. Es steckt eine tiefe Weisheit in diesem Warten und Warten-Können. Oft sind es glaubende Menschen, die sich so geduldig auf ihr Sterben ausrichten.
Dass ein alter, ein schwer kranker Mensch irgendwann genug hat vom Leben, dass er oder sie gern sterben möchte – das kann ich verstehen. Bloß nicht noch eine Operation, noch eine Chemotherapie; bloß nicht weitere Monate voller Einschränkungen und Schmerzen.
Wer dagegen gesund ist, in seinen besten Jahren, wer mitten im Leben steht: der wird so schnell nicht den Wunsch verspüren zu sterben. Das Leben ist schön; so viel Schönes gibt es noch zu entdecken! Meine Zeit, sie ist kostbar. Ich will sie auskosten, so lange es geht! Jede Faser an mir ist lebendig, und ich hänge an diesem Leben. Ich hänge an diesem Leben! Es sei denn …
Es sei denn …, ich bin verzweifelt, allein, kann keinen Sinn mehr erkennen.
Es sei denn …, das Leben erscheint mir dunkel, schal, ohne Halt, ohne Grund.
Es sei denn …, ich fühle mich nicht zu Hause auf dieser Welt; ich habe Sehnsucht nach etwas ganz anderem. Eine Sehnsucht, die sich nirgendwo stillen lässt: nicht an den Tagen und nicht in den Nächten; nicht im Wald und nicht in der Kirche; nicht im Singen und nicht im Gebet …
Ich hänge an diesem Leben!
Oder, am Ende, doch nicht so sehr?
Die Sehnsucht, die sich nirgendwo stillen lässt:
Wo kommt sie her? Warum rührt sie uns an? Wo führt sie uns hin?
Predigttext (Teil 1)Wir hören den Predigttext aus dem 2. Brief des Apostels Paulus an die Korinther, Kapitel 5, zunächst die Verse 1-4:
„[Denn] Wir wissen: Wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden, weil wir dann bekleidet und nicht nackt befunden werden. Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben.“
Die Zumutungen der Sterblichkeit„Solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert.“
Wo wir gewohnt sind, vom „Körper“ zu sprechen, vom menschlichen Leib, da sieht Paulus eine zugige „Hütte“, die nur auf den Abbruch wartet.
Wo wir „Lebendigkeit“ sehen, da nimmt Paulus „Sterblichkeit“ wahr.
Wo wir nach Glück und Erfüllung streben, da fühlt sich Paulus „beschwert“, da streckt er sich seufzend aus nach dem Himmel, nach seinem „ewigen Haus“.
„Solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert.“
Sterblich zu sein – das ist tatsächlich nicht leicht.
Es ist nicht leicht, älter zu werden, auf den Tod zuzugehen, unentrinnbar.
Es ist nicht leicht, geliebte Angehörige verfallen zu sehen, geistig, seelisch, körperlich. Irgendwann geht es nur noch bergab.
Es ist nicht leicht, Angst zu haben um meine Kinder, denen jeden Tag etwas zustoßen kann.
Es ist nicht leicht, dass alles vergeht, dass nichts von Dauer ist, dass ich alles loslassen muss.
Predigttext (gesamt)Ich lese aus dem 2. Korintherbrief, Kapitel 5, nun weiter bis zu Vers 10:
„[Denn] Wir wissen: Wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden, weil wir dann bekleidet und nicht nackt befunden werden. Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben.
Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat. So sind wir denn allezeit getrost und wissen: Solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen.
Wir sind aber getrost und begehren sehr, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn. Darum setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, dass wir ihm wohlgefallen.
Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeder empfange nach dem, was er getan hat im Leib, es sei gut oder böse.“
Vorgeschmack auf die EwigkeitLiebe Gemeinde! „Damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben“ – muss man dazu erst sterben?
Solange ich hier auf der Erde bin – in diesem Körper, in dieser „Hütte“ –, solange hat die Sterblichkeit mich fest in der Hand.
„Damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben“ – muss ich dazu erst sterben?
Ich denke an Augenblicke voller Lebendigkeit.
Momente, in denen die Zeit kreisrund wird, in denen nichts mehr offen bleibt oder fehlt.
Augenblicke, Stunden, Tage, an denen ich von Tod und Sterben nichts weiß und nichts wissen will.
Der Weg durch den Wald.
Die Berührung, die tiefer geht.
Verstehen, verstanden werden.
Das Licht, das durchs Fenster fällt.
Die Stimmen, die sich im Kirchenraum zum Lob Gottes vereinen.
Die Gemeinschaft im Abendmahl.
Die Stille. Ihr Klang und ihre Verheißung.
„Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat.“
„Unterpfand“: Man könnte auch „Vorschuss“ sagen.
Gottes Geist: unser „Vorschuss“ auf das Leben, das nie mehr sterben wird.
Unser Vorgeschmack auf die Ewigkeit; auf eine Gegenwart, die nicht schmerzlich vorüberzieht, in der nichts mehr offen bleibt oder fehlt.
Gott sendet uns seinen Geist – das Sterbliche, es ist verschlungen vom Leben!
Auferstehung (ein Gedicht von Marie Luise Kaschnitz)
Manchmal stehen wir auf
Stehen wir zur Auferstehung auf
Mitten am Tage
Mit unserem lebendigen Haar
Mit unserer atmenden Haut.
Nur das Gewohnte ist um uns.
Keine Fata Morgana von Palmen
Mit weidenden Löwen
Und sanften Wölfen.
Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken
Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.
Und dennoch leicht
Und dennoch unverwundbar
Geordnet in geheimnisvolle Ordnung
Vorweggenommen in ein Haus aus Licht. (1)
Wir wandeln im GlaubenDass es leicht wäre, im Glauben zu wandeln und nicht im Schauen, das sagt Paulus nicht.
Wer Gottes Geist gekostet hat, der will weiter und mehr davon kosten.
Wenn der Geist uns treibt, dann wird die Sehnsucht nicht kleiner, sondern nur immer größer werden.
Noch sind es bloß Momente, in denen die Sterblichkeit ganz verschlungen ist. Noch weilen wir fern von dem Herrn. Aber wir sind getrost, sagt Paulus. Unser Leib, er ist nur eine Hütte. Zugleich aber, auch das hat Paulus gesagt: „Euer Leib ist ein Tempel des Heiligen Geistes.“
Ob ich Gott „wohlgefalle“ in diesem „Tempel“, in dieser „Hütte“? Wer kann das sagen …
Das Gericht Christi aber, das will ich glauben, wird ein Gericht voller Liebe sein. Ein Gericht, das ins Licht führt, über jeden Abgrund hinweg, und das alle Sterblichkeit für immer verschlingt.
Ein Leben nach dem Tode (ein Gedicht von Marie-Luise Kaschnitz)
Glauben Sie fragte man mich
An ein Leben nach dem Tode
Und ich antwortete: ja
Aber dann wusste ich
Keine Antwort zu geben
Wie das aussehen sollte
Wie ich selber
Aussehen sollte
Dort
Ich wusste nur eines
Keine Hierarchie
Von Heiligen auf goldenen Stühlen sitzend
Kein Niedersturz
Verdammter Seelen
Nur
Nur Liebe frei gewordne
Niemals aufgezehrte
Mich überflutend
Kein Schutzmantel starr aus Gold
Mit Edelsteinen besetzt
Ein spinnwebenleichtes Gewand
Ein Hauch
Mir um die Schultern
Liebkosung schöne Bewegung
Wie einst von tyrrhenischen Wellen
Wie von Worten die hin und her
Wortfetzen
Komm du komm
Schmerzweb mit Tränen besetzt
Berg- und Tal-Fahrt
Und deine Hand
Wieder in meiner (…) (2)
Amen.
Anmerkungen
1 Aus: Marie-Luise Kaschnitz, Gedichte, ausgewählt von Peter Huchel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1975, S. 15.
2 Aus: Marie-Luise Kaschnitz, Seid nicht so sicher, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1979, S. 72.
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