Trinitatis (04. Juni 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Alexander Fischer, Stuttgart [fischer@dbg.de]

Jesaja 6,1-8

IntentionDie Predigt rückt die Begegnung Jesajas mit dem Heiligen Israels in den Blick und befragt sie auf dem Hintergrund unserer ganz und gar unheiligen Welt. Die Hörerinnen und Hörer sollen die ambivalenten Gefühle Jesajas wahrnehmen und die mit seiner Thronvision verbundene Erschütterung für sich als etwas Heilsames annehmen.


Jesaja 6,1-8 (BasisBibel)
1 In dem Jahr, in dem König Usija starb, hatte ich eine Vision: Ich sah den Herrn auf einem hoch aufragenden Thron sitzen. Die Schleppen seines Gewandes füllten die ganze Tempelhalle aus. 2 Serafim standen dienend vor ihm. Jeder von ihnen hatte sechs Flügel. Mit zweien verhüllte er sein Gesicht, mit zweien seine Beine, und mit zweien flog er. 3 Einer rief dem anderen zu: »Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaot! Sein herrlicher Glanz erfüllt die ganze Erde.« 4 Sie riefen so laut, dass die Türschwellen im Tempel bebten. Das ganze Gebäude füllte sich mit Rauch. 5 Da sprach ich: »Wehe mir, ich bin verloren! Denn ich bin ein Mensch mit unreinen Lippen und lebe in einem Volk mit unreinen Lippen. Und doch habe ich den König, den Herrn Zebaot, mit eigenen Augen gesehen.« 6 Da kam einer der Serafim zu mir geflogen. In seiner Hand hielt er eine glühende Kohle. Die hatte er mit einer Zange vom Altar genommen. 7 Damit berührte er meine Lippen und sagte: »Wenn ich jetzt deine Lippen berühre, ist deine Sünde verschwunden und deine Schuld vergeben.« 8 Dann hörte ich den Herrn sagen: »Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein?« Ich antwortete: »Hier bin ich, sende mich!«

Liebe Gemeinde! »Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaot!«, in diesem dreifachen »Heilig« haben christliche Gemeinden schon früh einen Hinweis auf den dreieinigen Gott gefunden: den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Dieser heilige Dreiklang soll Gott in seiner ganzen Dimension erfassen: Heilig ist der Schöpfer, der uns geschaffen hat. Heilig ist der Erlöser, der uns vom Tod befreit hat. Heilig ist der Geist, der uns täglich die Kraft zum Leben schenkt. So die christliche Lesung des dreifachen »Heilig« in unserem Predigttext, heute am Sonntag Trinitatis, an dem wir das Fest des dreieinigen Gottes feiern. Im Judentum bezieht sich das dreifache »Heilig« auf Gott als den »Heiligen Israels«, wie er häufig im Buch Jesaja genannt wird. Die christliche und die jüdische Lesung, sie stehen aber nicht gegeneinander, sondern nebeneinander. Beide verbinden sich in dem gemeinsamen Bekenntnis: Gott ist heilig. Aber was bedeutet »heilig«? Ich will es mal so sagen: Das Wort »heilig« kennzeichnet die Gegenwart Gottes in der Welt. Sie berührt und betrifft uns Menschen. Sie zieht in den Bann. Sie konfrontiert mit einem Gott, der sich gerade nicht in unsere Welt hinein auflösen lässt, sondern sich unserer menschlichen Verfügung entzieht. Deshalb ist das Verständnis des Heiligen heute mehr denn je um-stritten. Wir leben ja in einer durch und durch profanen Welt, die alles funktionalisiert, entzaubert und verwertet, die nur noch das Faktische, das Beweisbare, das Dokumentierbare gelten lässt. Gibt es in einer solchen Welt noch einen Platz für das Heilige? Gibt es überhaupt noch etwas in unserem Leben, das heilig ist?

Die Thronvision des JesajaDiese Frage führt uns hinein in den Predigttext. Er schildert uns die Begegnung des Propheten Jesaja mit dem Heiligen Israels, im Tempel von Jerusalem, vielleicht sogar in einem Gottesdienst, wie heute. Vor den Augen des Propheten enthüllt sich ein gewaltiges Bild: Er sieht Gott auf einem Thron sitzen. Aber schon das ist zuviel gesagt! Denn Jesaja sieht nur die Schleppe seines Gewandes und damit nur den alleruntersten Teil der göttlichen Kleidung. Doch sie berührt nicht nur den Boden, sondern füllt bereits die gesamte Tempelhalle aus. Der Thron, auf dem Gott sitzt, ist hoch aufragend. In der senkrechten Achse ragt er über den Tempel hinaus wie ein hoher Berg. Die Vorstellung sprengt alle räumlichen Dimensionen. Sie verbindet Oben und Unten, Himmel und Erde. Der Heilige nimmt Platz in den engen und engsten Grenzen eines irdischen Hauses und überragt doch das gesamte Gebäude. Der Tempel kann Gott nicht fassen.
Und noch etwas ist unfassbar. Vor dem gewaltigen Thron schweben Wesen, die als »Serafim« bezeichnet werden. Auch sie können den Anblick des Heiligen nicht unverhüllt ertragen. Die Serafim wissen jedoch, wie man sich gegenüber dem Heiligen angemessen verhält. Sie erweisen ihm Ehre mit Lobgesang: »Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaot! Sein herrlicher Glanz erfüllt die ganze Erde.«
Und noch einmal sprengt diese Thronvision die räumlichen Dimensionen, jetzt auf der waagrechten Achse. Der herrliche Glanz Gottes drängt hinaus in die Welt. Er macht nicht Halt an den Mauern des Tempels, des Gotteshauses, der Kirche. Er durchstößt die heiligen Mauern und erfüllt alle Länder. Innen und Außen gibt es nicht mehr. In seiner Gegenwart beansprucht Gott restlos die ganze Welt. Deshalb beben die Türen des Tempels und Rauch verhüllt den Heiligen Israels. Das großartige Bild, das Jesaja hier zeichnet, ist eben doch ein sehr indirektes Bild von Gott, ein geradezu modernes: Gott lässt sich nicht fassen. Er lässt sich nicht in ein Bild fassen, das sich einrahmen und in eine Ecke stellen lässt. Gott ist überwältigend: heilig, heilig, heilig.

Wo ist sein herrlicher Glanz?Liebe Gemeinde! Mich drängt es, meinen Platz zu wechseln, runter von der Kanzel und in den Kirchenraum. Ich würde gerne mal in der Kirchenbank Platz nehmen, viel-leicht neben Ihnen, und mal schauen, wie dieses großartige Bild des Jesaja an diesem Sonntag auf mich wirkt. Ob ich etwas spüren kann von der raumfüllenden Gegenwart Gottes, vom Beben der Türschwellen und von dem ganzen Glanz des Heiligen. Da sitze ich nun und warte, dass mich der Predigttext inspiriert. Das Echo des Lobgesangs klingt noch etwas in mir nach: »Sein herrlicher Glanz erfüllt die ganze Erde.« Doch wie ich da sitze, komme ich ins Grübeln. Ich frage mich: Wo ist denn sein herrlicher Glanz in der Welt? Kann ich etwas davon sehen, spüren, erahnen? Kann ich das Heilige wahrnehmen? Ich will es schon, aber anderes kommt mir in den Sinn, nämlich eine ganz und gar unheilige Welt: heillose Kriege in der Ukraine und im Sudan, Ausbeutung der Natur auf allen Kontinenten, viel haltloses Geschwätz und wenig Hilfe, Hasskommentare gegen Minderheiten im Netz, ein um sich greifender Egoismus. Das ist wahrlich eine unheilige Allianz. Ganz unvermittelt trifft mich das Wort des Jesaja aus dem Predigttext: »Wehe mir, ich bin verloren! Denn ich bin ein Mensch mit unreinen Lippen und lebe in einem Volk mit unreinen Lippen.« Das könnte wahr sein. »Wehe mir, ich bin verloren!« Denn ich sitze hier, mit meinen Unzulänglichkeiten, meiner Unsicherheit und meinen unreinen Lippen. Nichts davon kann ich vor Gott verbergen. Gehöre ich nicht auch zu denen, die Gott nicht mehr brauchen, auch und gerade in unserer heutigen Zeit? Jesaja hat das wohl genauso gesehen. Die Begegnung mit dem Heiligen Israels ist für ihn offensichtlich kein Moment froher Gewissheit, sondern ein Moment der Erschütterung. Das Beben der Türschwellen setzt sich bis in sein Innerstes fort. Der große Prophet Jesaja! Jetzt ganz kleinlaut und verloren.

Das Wegbrennen der SchuldDas Wichtigste aus unserem Predigttext ist noch nicht zur Sprache gekommen. Denn Gott lässt Jesaja in seiner Trübsal nicht allein. Er lässt ihn nicht mit seinen depressiven Gedanken im Tempel zurück, passiv und unfähig, sich daraus zu lösen. Himmlische Mächte werden aktiv, genauer die Serafim. Einer von ihnen kommt Jesaja zu Hilfe. Er fliegt zu ihm hin mit einer glühende Kohle, die er mit einer Zange vom Räucheraltar genommen hat. Mit dieser glühenden Kohle berührt er die unreinen Lippen des Propheten und sagt zu ihm: »Wenn ich jetzt deine Lippen berühre, ist deine Sünde verschwunden und deine Schuld vergeben.« Eine symbolische Handlung, deren Bedeutung sich auch so umschreiben lässt: Durch die glühende Kohle wird die ganze Schuld des Menschen geradezu weggebrannt. Gott löst Jesaja aus seiner unheiligen Allianz, er macht ihn frei von dem, was ihn niederdrückt. Und nur so ist es möglich, dass der Prophet auf den Ruf Gottes spontan und innerlich befreit antworten kann: »Hier bin ich, sende mich!« Und das können auch wir. Denn Gott löst auch uns hier und heute aus der unheiligen Allianz, befreit uns aus unseren Verstrickungen. Ja, er will uns wie Jesaja in seinen Dienst nehmen. Wir können ganz freiwillig zu ihm sagen: »Hier bin ich, sende mich!« Und weil das unsere Kräfte übersteigt, können wir bitten: Schick uns deinen Geist, du dreieiniger Gott.
Aber nicht, dass Sie jetzt meinen, wir wären alle Propheten. Wir sind es nicht! Und vielleicht braucht die Welt auch keine neuen Propheten. Aber wenn Gott uns ruft, können wir uns von ihm in seinen Dienst nehmen lassen. In unserer ganzen Freiheit, mit unserer ganzen Aufmerksamkeit für das, was wir für Gott tun können. Du und ich, mit unseren unterschiedlichen Fähigkeiten, in unseren verschiedenen Lebensbereichen. Und eigentlich tun wir damit nur, worum wir Gott bitten, auch in unserem Gottesdienst: »Geheiligt werde dein Name.«

UnfassbarDie Begegnung mit dem Heiligen Israels, wie sie uns der Prophet Jesaja schildert, sie übersteigt die menschliche Vorstellungskraft. Was ist das für ein Gott? Was ist das für eine Kraft seiner heiligen Gegenwart? Gewaltig, erschütternd, ergreifend und um-fassend. Gott will den ganzen Menschen. Er beansprucht dich und mich mit allen unseren Sinnen, mit allen unseren so ganz unterschiedlichen Geschichten. Und immer bleibt dabei ein letztes Moment der Ungewissheit, der Angst und des Muts, sich auf die Begegnung mit Gott einzulassen. Können wir die Heiligkeit Gottes aushalten? Seinen unbedingten Anspruch? Seine ungeheure Fülle? Seine in die Welt drängende Gegenwart? Friedrich Hölderlin hat dies vorsichtig und nachdenklich in einem Vers zum Ausdruck gebracht [in seinem Gedicht »Brot und Wein«]. Er lautet:

„Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen,
Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch.“

Offenbar sind wir nicht immer in der Lage, Gott in seiner Größe zu fassen und seine heilige Gegenwart zu ertragen. Das ist wohl wahr! Aber vieles, was uns in unserem gewöhnlichen Leben so überaus wichtig, bedeutungsvoll und unentbehrlich scheint, wird durch den absoluten Anspruch des Heiligen zurechtgerückt und relativiert. Ein solches Zurechtrücken kann sehr heilsam sein. Und vielleicht tut es uns gelegentlich gut: Diese Erschütterung, von der Jesaja spricht, das Einbrechen des Heiligen in die alltägliche Welt, die heilsame Unterbrechung unseres Alltags, die Neuausrichtung auf das, was wirklich im Leben zählt. Und ich ergänze im Sinne unseres Predigttextes: Vielleicht tut es uns gelegentlich auch gut, um unsere eigenen Grenzen zu wissen, im Umgang mit Gott und seiner heiligen Fülle:

„Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen,
Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch.“

Amen.

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