Trinitatis (12. Juni 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Bärbel Koch-Baisch, Schwäbisch Hall [Baerbel.Koch-Baisch@diakoneo.de]

Römer 11,33–36

IntentionWie kann ich leben angesichts der Rätselhaftigkeit Gottes?

Liebe Gemeinde,
manche Fragen beschäftigen uns ein Leben lang. Wir wälzen sie hin und her und kommen doch nicht zu einem befriedigenden Ergebnis. Es erschließt sich nicht. Es gibt keine befriedigende Erklärung, und unsere Fragen finden keine Antwort. Das Leben ist nicht immer glatt. Angesichts von Krieg und Vertreibung, von Krankheit und Leid, von Naturkatastrophen fällt es schwer, einen Sinn in allem zu sehen. Wir verstehen nicht, warum etwas so kommen konnte. Manche Dinge sind einfach unbegreiflich und nicht nachvollziehbar, furchtbar, und wir können sie nicht erfassen. Alle möglichen Erklärungen lassen einen doch am Ende mit einem unbefriedigenden Gefühl zurück. Bei aller Fraglichkeit des Lebens, beim Blick in die große Welt und ins eigene Leben – wir versuchen immer wieder, die Rätsel des Lebens zu lösen, eine Antwort zu finden, mit der wir leben können.
Aufklärung ist wichtig. Verstehen ist wichtig. Mutig bleiben. Was uns Menschen besonders macht, ist doch unsere Fähigkeit, unsere Neugier und Wissbegier, die Dinge zu durchdringen. Wir erforschen die Ursachen, suchen Antworten zu geben auf die Geheimnisse der Natur, die Fragen des Lebens.
Die Spannung zwischen Wissen-Wollen und Erkennen-Können beschäftigt Menschen immer schon, beschäftigt bis in unser Innerstes hinein gerade auch unseren Glauben.

Die Lebensfrage des PaulusPaulus hat in seinem letzten Brief, den er an die Gemeinde in Rom geschrieben hat, lange nachgedacht über eine Frage, die ihn sein halbes Leben lang beschäftigt hat: Warum glaubt das von Gott auserwählte Volk Israel dem Evangelium und seinem Christus nicht zuerst? Warum glaubt es ihm nicht, wohl aber die Heiden? Voller Schmerz und Trauer und Unverständnis erkennt Paulus, dass seine jüdischen Geschwister – einige ausgenommen – in Jesus nicht den Sohn Gottes erkennen. Mehrere Briefkapitel lang (Römer 9–11) sucht Paulus sein Ringen mit dieser Frage zu ergründen und in Worte zu fassen. Er versucht, Gottes Wege zu erforschen und zu erklären, zitiert dabei aus seiner Bibel und sucht zu begreifen.

Am Ende hätte Paulus sich verbittert zurückziehen können. Er hätte mit Gott hadern und ihn anklagen können. Doch es ist erstaunlich, dass er zuletzt nicht unzufrieden über die offenen Fragen zurückbleibt.
Im Gegenteil: Paulus lobt Gott. Er stimmt ein Loblied an auf Gott in seiner unbegreiflichen Tiefe und seinem unerforschlichen Reichtum:

„O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!
Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!
Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?
Oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm zurückgeben müsste?
Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.
Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.“ (Römer 11,33-36)

Liebe Gemeinde, nach langem Ringen um Erklärungen lässt Paulus alles Nachdenken sein. Er hört auf zu argumentieren. Er kommt zu der staunenden Einsicht: Wie unbegreiflich und unerforschlich sind Gottes Wege. Nicht resigniert wird diese Einsicht ausgedrückt, so, als könnte ihm keiner mehr helfen, die unlösbare schwere Lebensaufgabe zu beantworten. Es ist auch nicht das mühsame Seufzen schon vor Beginn eines langen Weges: „Ich versteh das alles nicht!“ Im Gegenteil.
Am Ende eines langen Weges des Nachdenkens und Ringens mündet Paulus in das Lob auf Gottes Weisheit. Es ist ein Lob auf Gottes Pläne, die alles menschliche Denken und Rechnen übersteigen, alle kleinkarierten Grenzziehungen, alle Überlegenheitsgefühle derer, die sich für etwas Besseres halten, für klug und weise.

Unsere Fragen an das LebenKönnen mit diesem Lob auf den tiefen Reichtum der Weisheit und Erkenntnis Gottes auch die Zweifel in unserem Kopf ein Ende finden? Zweifel, die bei allem, was wir nicht begreifen und uns nicht erklären können, denken: „Das ist unmöglich“, „das geht nicht“.
Stattdessen: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes. Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“

Ich spüre in mir eine Sehnsucht, die sagt: Schön wäre es, wenn ich wie Paulus das Fragen sein lassen könnte und alles Ungeklärte, allen Schmerz und alle Trauer Gott überlassen könnte im Vertrauen darauf, dass er schon weiß, was gut für mich ist. Doch für mich geht das nicht so rasch von einem auf den nächsten Moment. Es meldet sich zuerst der Einwand: Kann ich in das Lob Gottes einstimmen angesichts der Rätsel unserer Welt? Geht das denn? Gott loben in menschlichen Schrecken von Krieg und Hungerkatastrophe, von Gewalt und Erderwärmung? Angesichts von eigenem und fremdem Leid, das so ungerecht verteilt ist?
Wir alle kennen doch Tage und Stunden, in denen das Leben uns fraglich ist und wir uns Gott eben nicht im Lob zuwenden, sondern mit unseren Fragen, mit unserer Klage und auch Anklage gegen Gott. Vielen sind Situationen nicht fremd, in denen uns der Boden unter den Füßen wankt und wir keinen Halt mehr spüren.

Lob in der Fraglichkeit des Lebens – paradoxDass Paulus in dieser Situation, in der ihm alles fraglich erscheint, in ein Loblied auf Gott einstimmt, erscheint mir geradezu paradox. Widersinnig.
Doch ist das nicht geradezu Ausdruck eines tiefen Vertrauens auf Gott? An Gott festhalten – gerade in dieser für mich so widersprüchlichen Welt mit ihren Fragen und Ungeklärtheiten. In meiner Tiefe und Dunkelheit, in meinem Zweifel die Tiefe des Reichtums der Weisheit und der Erkenntnis Gottes loben, das lässt unserer Welt keinen Ort der Verlorenheit. Was wir nicht begreifen, woran wir zweifeln – Gott holt uns alle ein mit seinem Erbarmen.
Gott setzt unserem Nichtverstehen sein „Dennoch“ dagegen. So wie es in Psalm 73 heißt: „Dennoch bleibe ich stets an dir, denn du hältst mich bei meiner rechten Hand“ (Vers 23). Oder in Psalm 23: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich“ (Vers 24).
Im Loblied angesichts der Fragen des Lebens steht Paulus in der Tradition seines Volkes und dessen Gebeten: Gott scheint auf, wo keiner und keine es erwarten. Er ist da, wo wir ihn nicht suchen würden. Er leitet uns nach seinem Rat. Unerforschlich sind seine Wege, unbegreiflich seine Entscheidungen. Aber am Ende gilt: „Du nimmst mich am Ende mit Ehren an“ (Psalm 73,24).

Die Tiefe christlicher Gottesweisheit liegt darin, dass der Gott in der Höhe auch uns Menschen in der Tiefe umfassen und nach Hause bringen kann.
Diesen Gott kann man nicht nur bewundern. Man kann ihm vertrauen. Und voll Vertrauen kann ich dann bekennen, dass alles von Gott und durch Gott und zu Gott ist. Einem Gott, dem nicht alles gleichgültig ist. Ich kann mich bergen in Gott, der sich gegen Erbarmungslosigkeit und Tod mit seinem Leben und seinem Erbarmen durchsetzen wird.

Lob aus dem „Dennoch“Paulus hält an Gott fest. Er hat an Gott festgehalten, auch wenn er ihn nicht ganz verstanden hat. Auch wenn er nicht alles, was er mit Gott erfahren hat, mit seinem Glauben und seinem Leben zusammenbringt. Am Ende vertraut er darauf, dass Gottes Liebe zu seinem Volk bleibt. Diese Liebe Gottes zu Israel ist unergründlich und unerforschlich so wie die Liebe zwischen Menschen auch. Alle möglichen Erklärungen können nie ganz erfassen, was Liebe ist. Liebe kann man nicht erklären. Liebe ist da. Ich merke: Ich liebe jemand, ob ich will oder nicht. Ob ich es ganz verstehe oder nicht. Ich tu es einfach. Manchmal auch gegen alle Vernunft.
Gott liebt das jüdische Volk. Es gibt keinen besonderen Grund dafür. Wie ein Gärtner einen Ölbaum pflanzt, ihn hegt und pflegt, seine Zweige beschneidet, so hegt und pflegt Gott sein Volk, achtet und liebt es. Durch Jesus haben nun alle Menschen an dieser Liebe Gottes Anteil bekommen. Was aus dem Ölbaum Israel wird, das weiß nur Gott. Unergründlich und unerforschlich ist Gottes Liebe zu uns Menschen, ob sie nun Juden oder Christen sind. Ob sie zu einer anderen Religion oder gar keiner Religion angehören. Paulus kann nur staunen und Gott loben für diese Liebe und Treue zu uns Menschen.

Loben aus dem Rückblick auf das LebenManche von uns können von Führung und Fügung in ihrem Leben erzählen: Nach langen und mühsamen Wegen durch eine Krankheit tut sich eine Perspektive auf, und Lebensfreude kehrt zurück. Umwege durch Wüste und Leiden sind zu Ende. Für mich sind solche Erfahrungen Vorgeschmack auf den Himmel. Wir halten einen Zipfel von der „Tiefe des Reichtums der Weisheit und der Erkenntnis Gottes“ in unserer Erinnerung und viel mehr noch im Herzen. Ein solches Herz kennt keinen Ort mehr im Leben und im Sterben, der gottverlassen wäre. So haben wir keinen Grund, für irgendwen und irgendwas die Hoffnung aufzugeben. Solche Hoffnung stirbt auch zuletzt nicht.
Das wünsche ich mir, dass ich wie Paulus die offenen Fragen münden lassen kann in das Lob Gottes. Das Lob Gottes gründet im tiefen Vertrauen und lässt Gott Gott sein. Gott, der reich und weise und wissend ist. Der uns Menschen liebt. Mit mir geht und mich nicht mir selbst überlässt. „Denn von ihm und durch in und zu ihm sind alle Dinge“ – auch ich. Ihm, „Gott sei Ehre in Ewigkeit.“ Amen.

Predigt zum Herunterladen: Download starten (PDF-Format)