Trinitatis (07. Juni 2020)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Gertraude Kühnle-Hahn, Stuttgart [Gertraude.Kuehnle-Hahn@elk-wue.de]

4. Mose 6, 22-27

IntentionIn der Predigt soll die Schönheit und Kostbarkeit des Aaronitischen Segens zum Ausdruck kommen. Der Segen ist purer Zuspruch. Wir Menschen müssen nichts dafür tun. Im Segen wird uns zugesprochen, wer Gott für uns ist.

4. Mose 6,22-27 Der HERR redete mit Mose und sprach: Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich: so sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet: Der HERR segne dich und behüte dich; der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden. So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne.

Liebe Gemeinde,
diese Worte aus dem Alten Testament gehören neben dem Vaterunser zu den bekanntesten Worten der Bibel. Jeder Gottesdienst schließt mit diesem Segenswort. Einen Gottesdienst ohne den Segen am Ende – da würde Entscheidendes fehlen. Mir ist das in den zurückliegenden Wochen, in denen die Kirchen geschlossen waren und man Gottesdienste nur online erleben konnte, aufgefallen. Die Online-Gottesdienste waren in der Regel kürzer. Es wurden Lieder weggelassen, auf die Schriftlesung oder das Gebet am Anfang verzichtet, aber niemals auf den Segen am Schluss.
An diese festgefügten Worte sind wir gewöhnt. Und zwar nicht so, dass es uns gar nicht auffallen würde, würden sie nicht gesprochen. Wir sind in einem guten Sinne gewöhnt. Wenn sie fehlen würden, würde uns etwas fehlen.
Mir kommen diese vertrauten Segensworte vor wie eine schöne Schale, in die man immer wieder etwas hineinlegt, deren Schönheit und Wert einem jedoch gar nicht mehr bewusst sind.
Deshalb: Lassen Sie uns auf die Schönheit und den Wert dieser Worte schauen und achten.

Was bedeutet „Segen“ für uns? Und was geschieht, wenn wir gesegnet werden?Es ist üblich, bei allen möglichen Anlässen Segenswünsche auszusprechen. Segen wünschen nicht nur gläubige Menschen. Nach meinem Eindruck empfinden viele Menschen, dass es etwas tiefer geht, wenn dem „Viel Glück“ auch noch ein „Viel Segen“ hinzugefügt wird.
Segen wünschen wir nicht nur Geburtstagskindern, sondern auch Brautleuten, Jubilaren oder Menschen, denen ein wichtiges Amt übertragen wird. Bei allen wichtigen Stationen des Lebens ist vom Segen die Rede: so bei der Taufe und bei der Konfirmation, die auch Einsegnung genannt wird. Bei der letzten Lebensstation, der Beerdigung, wird die verstorbene Person ausgesegnet.
Diesen Segen wünschen sich viele Menschen, auch solche, die sich sonst der Kirche und dem gemeindlichen Leben nicht verbunden fühlen. Dieser Wunsch ist viel mehr als eine Formsache, auch wenn manche Menschen nicht genau sagen können, was der Wunsch nach einem Segen bedeutet.
Ich spüre da eine Sehnsucht nach Unzerbrechlichkeit und Stärke, nach Wohlergehen, nach Erfüllung der Träume, mit denen man das Leben begonnen hat. Man möchte stark sein und dem Leben gewachsen. Man möchte eine innere Sicherheit haben und einen Weg gehen, an dessen Ende man dankend sagen kann: Das war ein gesegnetes Leben. Manche denken dabei vielleicht auch an Kinder, die ein Haus mit Lebendigkeit erfüllen, an Heiterkeit und Sorglosigkeit und Gesundheit dazu. Und für andere sind ganz klar Erfolg, Wohlstand und Besitz Zeichen eines gesegneten Lebens.

Wenn Segen nicht erfahren wirdWenn der Segen solche konkreten Bilder und Gestalten hat, dann wird andererseits deutlich, wenn Segen fehlt: Wenn die Träume sich immer weiter von dem entfernen, was das Leben bereithält. Wenn der Lebensweg brüchig wird, weil sich Krankheit einmischt oder Trauer oder bedrohliche Sorgen. Wenn Erfahrungen sich häufen, dass wir zerbrechlich sind, dass wir vieles nicht im Griff haben. Wenn sich Unsicherheit und Ungewissheit ausbreiten. Ich denke, dass für viele Menschen das Erleben der Coronakrise mit den unüberschaubaren Folgen eine solche Dimension hat.
Da mag es uns schwer werden, auch dann noch an Segen zu denken, zu glauben, dass Gott wirklich segnet. Aber er tut es, so sagen die biblischen Worte. Gott segnet. Das wird Menschen immer wieder zugesprochen.
Uns sind die Segensworte meist in der Möglichkeitsform vertraut: „Der Herr segne dich.“ Wir hören sie dadurch mehr als einen Wunsch oder gar als Aufforderung. Im hebräischen Urtext hingegen steht das Wort für segnen in der Wirklichkeitsform: „Der Herr segnet dich.“ Bei diesen Beobachtungen geht es um mehr als um Grammatik. Denn dadurch wird deutlich, dass etwas ganz Grundlegendes für unseren Glauben gesagt wird. Wenn der Indikativ – so lautet der grammatische Begriff – die Wirklichkeit darstellt, dann wird damit bekräftigt: Es ist so. Gott segnet. Und dies nicht nur in Zeiten des Glanzes.

Der Ursprung des SegensWir Christinnen und Christen haben diese Worte aus der Hebräischen Bibel übernommen. Mit ihnen wurde nach der biblischen Erzählung das Volk Israel von Aaron, dem Bruder des Mose, am Berg Sinai gesegnet. Deshalb werden diese Segensworte auch Aaronitischer Segen genannt. Später wurden damit die Israeliten im Jerusalemer Tempel gesegnet. Diese alten, kostbaren Worte verbinden uns zutiefst mit unseren jüdischen Geschwistern. Zu deren Geschichte gehört viel Entbehrung, Verfolgung und Mutlosigkeit, angefangen damals bei der Wanderung des Volkes Israel durch die Wüste. Und dennoch haben die Segensworte sie durch die Jahrhunderte hindurch begleitet, aufgerichtet, gestärkt. Dass Aaron, der von Gott zum ersten Priester der Israeliten berufen wurde, und dass die nachfolgenden Priester im Segnen den Namen Gottes auf die Israeliten legten, war ihnen wie eine schützende Hülle.
Der Segen Gottes bewirkt also nicht eine Erfolgsgeschichte im Sinne von Reichtum und Glück. Und die magische Vorstellung, dass man mit ihm unversehrt durchs Leben kommt, erfüllt er auch nicht.

Segen ist ZuspruchDer Segen Gottes ist Zuspruch pur. Ich muss für ihn nichts tun und nichts vorweisen, und ich muss auch nicht seine Wirkung nachweisen. Das mag für uns Menschen gar nicht so einfach sein. Denn wir mühen uns oft ab, aktiv zu sein, alles in der Hand zu haben, mitzubestimmen, zu planen und zu gestalten. Demgegenüber bedeutet Gottes Segen eine große Entlastung: Ich muss nichts tun. Ich muss mir nicht einmal Gedanken machen. Der Segen ist der Ort höchster Passivität, so drückt es der Theologe Fulbert Steffensky aus.
Im Segen leuchtet ein anderes Angesicht über uns als unser eigenes oder das eines anderen Menschen. Wenn wir uns selbst anschauen, machen wir das oft mit einem prüfenden, einem kritischen, vielleicht auch abwertenden, gnadenlosen Blick: Wie sehe ich denn schon wieder aus? Was habe ich da wieder gemacht? Auch wenn andere uns anschauen, entdecken wir immer wieder in Frage stellende, misstrauische oder abschätzige Blicke: Was soll denn das? Was willst du schon wieder? Manchmal sind wir auch einfach unsicher: Wie soll ich diesen Blick verstehen? Wie ist er gemeint?
Demgegenüber wird uns im Segen zugesagt: Gottes Angesicht leuchtet über uns. Es leuchtet eindeutig: Gott schaut uns gnädig an. Auch wenn uns das vielleicht anders scheinen mag. Auch wenn in uns zuweilen das Bild eines missbilligenden Vaters auftaucht, der einem zeigt, dass man es nicht recht gemacht hat. Gott sieht uns gnädig an. Gott will unser Wohl. Gott lässt sein Angesicht über uns leuchten wie einen hellen, wärmenden Strahl. Und er gibt uns Frieden. Keinen Frieden, den wir mühsam erkämpfen und mit allen möglichen Waffen verteidigen müssen. Er gibt uns jenen Frieden, der höher ist als all unsere Vernunft.

Ein Geborgenheitsritual – und unser AmenWas das bedeuten kann, wird in einem Buch von Inger Hermann eindrücklich beschrieben. Sie gibt darin ihre Erfahrungen als Religionslehrerin an Stuttgarter Förderschulen wieder. Die Kinder sind fast alle vernachlässigt und erfahren in ihren Familien viel verbale und körperliche Gewalt. Ein geordneter Unterricht ist selten möglich. Gerade deshalb ist Inger Hermann ein fester Rahmen wichtig, ein Gebet am Anfang und der Segen am Ende jeder Unterrichtsstunde. Den hat sie mit den Kindern auswendig gelernt. Den Kindern liegt an diesem Ritual. Sie spüren, dass da etwas anders ist und stellen für diesen Moment ihre Störungen ein und sorgen mitunter selbst für die dafür notwendige Ruhe. Als es einmal wieder drunter und drüber geht in der Unterrichtsstunde und selbst am Ende keine Ruhe einkehren will, fährt ein Schüler seine immer noch quasselnde Mitschülerin an: „Halt’s Maul, jetzt kommt der Segen!“ Dieser Satz, der zum Titel des Buches wird, wirkt. Dann sprechen alle miteinander den Segen.
„Geborgenheitsritual“ nennt Inger Hermann diesen festen Rahmen, wo die Kinder für kurze Zeit etwas spüren, was völlig anders ist als das, was sie in ihrem Alltag erleben.
Ein Geborgenheitsritual kann der Segen auch für uns sein, gerade dann, wenn wir unser Leben nicht als gesegnet und geordnet und glücklich erleben. Dabei ist es gut, dass jemand anderes uns den Segen zuspricht, sei es am Ende eines Gottesdienstes oder eines seelsorgerlichen Gesprächs. Wir müssen und können uns nicht selbst segnen. Wenn uns Segen zugesprochen wird, dürfen wir ihn auf uns legen lassen wie eine schützende Hülle. Wir dürfen uns damit umfangen lassen und gestärkt und aufgerichtet weitergehen. Uns bleibt nur eines: „Amen“ zu sagen. Damit drücken wir aus: So sei es. Darauf vertrauen wir. Darin verankern wir uns. Gott lässt sein Angesicht über uns leuchten.
Amen.

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