Sexagesimae (23. Februar 2025)
Apostelgeschichte 16,9-15
IntentionDamit das Evangelium Menschen erreicht und verändert, muss Gott selbst Türen und Herzen öffnen. So wie wir die kirchliche Situation bei uns gerade erleben, scheint er sie eher zu verschließen. Ich meine, der Predigttext gibt uns Hinweise (keine Rezepte, die immer funktionieren!), wie wir mit solchen Erfahrungen umgehen könnten.
PredigttextUnd Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: Ein Mann aus Makedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Makedonien und hilf uns! Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Makedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen.
Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Makedonien, eine römische Kolonie Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt.
Am Sabattag gingen wir hinaus vor das Stadttor an den Fluss, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen.
Und eine Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, eine Gottesfürchtige, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, sodass sie darauf achthatte, was von Paulus geredet wurde. Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns. (Apostelgeschichte 16,9-15)
Aufbruch in Philippi, Abbruch bei uns?„Der tat der Herr das Herz auf.“ So heißt es hier von dieser Frau mit Namen Lydia. Und das hat Folgen. Weil ihr Herz offen ist für die frohe Botschaft von Jesus Christus, öffnen sich weitere Türen. Sie lässt sich taufen – gemeinsam mit denen, die zu ihr, zu ihrem Haus, zu ihrem Betrieb gehören. Und sie öffnet dieses Haus für Paulus und seine Mitarbeiter. Lydia lädt sie ein, ja drängt sie geradezu. Und ihr Haus bleibt offen für alle weiteren, die dazukommen wollen. In Philippi sehen wir eine christliche Gemeinde heranwachsen, die erste auf unserem Kontinent, den wir Europa nennen.
Wenn so etwas doch auch heute passieren würde! mag nun mancher seufzen. Aber bei uns, in Europa, in Deutschland, ja sogar in Württemberg, das bis vor kurzem oft noch als „Insel der Seligen“ angesehen wurde, bei uns verläuft die Entwicklung umgekehrt.
Wenn ich irgendwo unterwegs bin, schaue ich mir gern den Schaukasten der Kirchengemeinde an. Und ich lese: Gottesdienst am nächsten Sonntag, aber dann erst wieder in einem Monat! Sonst ist der Zettel fast leer. Das Pfarrhaus steht neben der Kirche. Aber es ist nicht mehr bewohnt.
Welch ein Gegensatz zu der Erzählung vom Beginn der christlichen Gemeinde in Philippi! Da scheint alles wie geschmiert zu laufen, angefangen bei der nächtlichen Vision des Paulus bis zur Taufe der Lydia. Paulus und seine Begleiter gehen tatkräftig und gezielt vor. Aber das Entscheidende ist und bleibt: Es ist „der Herr“, der alles von Anfang an leitet und schließlich der Lydia „das Herz auftut“, nicht die Überlegungen und Aktionen der Menschen.
Verschlossene Türen und Herzen?Bevor der Mann aus Makedonien dem Paulus im Traum begegnet, scheinen er und seine Mitarbeiter genau das erlebt zu haben. Sie hatten ihre Reiseroute geplant. Aber irgendwie wurden ihnen alle Türen verschlossen. Die Missionare werden ratlos gewesen sein: Nach dem, was sie dann in Philippi erlebt haben, ist es ihnen klar geworden: Durch Gottes Geist soll anderswo etwas Neues beginnen. Er braucht dort Mitarbeiter. Aber in der Situation selber haben sie das noch nicht gewusst.
Vielleicht stecken auch wir gerade in solch einer Phase. Die Samen des Gotteswortes werden zwar ausgestreut, aber das Meiste davon scheint aus vielerlei Gründen nicht bis zur Frucht zu reifen. So hat es Jesus in einem Gleichnis ganz nüchtern erzählt (Lk 8,4-8). Das müssen wir annehmen. Paulus und seine Begleiter haben aber nicht resigniert und nur tatenlos zugeschaut. Ich meine, in ihrer Geschichte stecken Hinweise auch für uns.
Suchbewegungen„Sie versuchten, da und dorthin zu gelangen.“ So heißt es in den Versen vor dem Predigttext. Also Wege ausprobieren. Vieles wird ja in unseren Gemeinden versucht, zum Beispiel mit verschiedenen Gottesdienst-Formen. Wir wissen nicht, ob solche Versuche zum Ziel führen oder nicht. Aber das soll uns nicht vom Suchen und vom Vertrauen abhalten. Vielleicht gibt Gott ja doch das Gelingen. Dabei darf niemand behaupten, er habe das Rezept, das todsicher wirkt.
(Das gilt in der Kirche, das gilt ebenso in der Politik. Vergessen wir das nicht, wenn wir heute wählen!).
Da hat jemand eine Idee, eine Vision, wie Paulus damals. Die muss ins Gespräch gebracht werden. „Prüft alles und behaltet das Gute!“ sagt uns die Jahreslosung. Miteinander diskutieren wir, miteinander bitten wir Gott, uns den Weg zu zeigen, miteinander machen wir uns auf den Weg. „Wir!“ schreibt Lukas hier ganz betont. Wir kamen überein und wurden gewiss, dass Gott uns auf den Weg nach Makedonien berufen hatte.
„Komm herüber und hilf uns!“ Wenn wir Gottes Ruf hören wollen, müssen wir auf die Rufe der Menschen um uns herum hören. Manches wird ausgesprochen, manches müssen wir erspüren. Wir sind als Christenmenschen und als Gemeinde nicht für uns selbst da. Wenn wir beten, dass Gott den Menschen das Herz öffnet, beten wir vorher, dass er uns selbst Ohren, Augen und das Herz für diese Menschen auftut.
Merken wir, dass jemand einsam ist?
Dass einige nach der Gelegenheit suchen, sich persönlich auszusprechen?
Beobachten wir, dass Kinder morgens zur Schule gehen, ohne gefrühstückt zu haben?
Und gibt es dann Einzelne unter uns, die Besuche machen könnten?
Sollten wir versuchen, ein Angebot für Gespräche einzurichten? Vielleicht in der Kirche, in der nur noch wenige Gottesdienste stattfinden?
Und wie könnte den Schulkindern geholfen werden?
Dabei darf es uns nicht um Zahlen gehen. Paulus hätte sagen können: „Ach, nur die paar Frauen hier. Das lohnt sich nicht!“ Und es wäre nicht geschehen, was dann geschehen ist, zuerst nur mit einer einzigen Frau. Die Einzelnen gilt es ernst zu nehmen und das, was sie jetzt brauchen!
Hoffnungszeichen: Der Blick auf die weltweite KircheLydia war ohne Zweifel eine besondere Frau. Manche sagen: die erste Europäerin, die getauft worden ist. Oder noch pathetischer: die Gemeinde in ihrem Haus sei die Keimzelle des „christlichen Abendlands“ gewesen.
Lydia ist eine Migrantin gewesen, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Sie stammt aus der römischen Provinz „Asien“, genauer: aus Lydien. Daher hat sie auch ihren Namen. Ihre Heimatstadt Thyatira war bekannt für die kostbaren Purpur-Wollstoffe. Lydia handelt damit, aber nicht in der Heimat, sondern in Philippi.
Auch religiös ist sie Migrantin. Da wissen wir nichts über ihre Herkunft. Jetzt hat sie sich offenbar dem Judentum zugewandt. Sie ist aber nicht im vollen Sinn Jüdin geworden. Man hat solche Menschen als „Gottesfürchtige“ bezeichnet. Der Gott Israels ist ihr also nicht unbekannt. In gewisser Weise stand hier schon eine Tür offen für die Botschaft des Paulus: Durch Jesus Christus ist dieser Gott nicht nur der Gott Israels, sondern der Gott aller Menschen und Völker, auch dein Gott, Lydia!
Sie ist ein Beispiel für die regen Wanderungsbewegungen im römischen Weltreich. Menschen, Waren, Ideen gingen hin und her. Kulturelle und religiöse Prägungen beeinflussten sich gegenseitig – und tun es auch heute noch. Gerade das macht „Europa“ aus (auch das sollten wir bei der heutigen Wahl im Blick haben)!
Und das Christentum war und ist Teil dieses Prozesses. In den frühen Gemeinden kamen Menschen aus ganz verschiedenen religiösen und sozialen Richtungen zusammen. Denken wir nur an diese „Keimzelle“, das Haus der Lydia in Philippi. Sie als Frau ist die Chefin. Allein das ist schon ungewöhnlich. Offenbar ist sie durch ihr Gewerbe wohlhabend geworden. Aber unter denen, die mit ihr getauft werden, sind vielleicht auch Sklavinnen und Sklaven. Als Getaufte aber gehören sie alle zusammen. Diese große Vielfalt gehört vom Beginn bis jetzt zur DNA der Kirche.
Darum ist es hilfreich, über den eigenen Kirchturm hinauszuschauen. Da werden wir sehen: Das Wort Gottes wirkt. Es fällt auf gutes Land und trägt hundertfach Frucht. Lassen wir uns unseren Blick nicht von einer Untergangsstimmung einengen. Der Herr öffnet Herzen – in unserer Nähe und weltweit, in Afrika, in Asien! Da sind Kirchen, die wachsen. Und Menschen aus diesen Kirchen „kommen auch herüber“ zu uns. In unseren Städten gibt es viele internationale Gemeinden. Jeden Pfingstmontag treffen sich einige von ihnen am „Tag der weltweiten Kirche“ in Stuttgart zu einem Gottesdienst und zum kulinarisch-musikalisch-geselligen Beisammensein. Welch eine Vielfalt und welch ein Reichtum! Letztes Jahr konnte ich das zum ersten Mal miterleben. Da mag uns landeskirchlichen „Normalchristen“ manches fremd vorkommen. Aber wir sollten nicht nur die Stirne runzeln, sondern die Schwestern und Brüder willkommen heißen und uns mit ihnen daran freuen, wie der Geist Gottes und sein Wort wirken!
Die Trauer über das, was uns gerade verlorengeht, ist verständlich. Aber wir dürfen nicht darin versinken. Der Blick auf die weltweite Kirche kann uns Mut machen, schon damals in Philippi und heute bei uns. Darum: „Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist“ (EG 395)!
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