Sexagesimae (19. Februar 2017)

Autorin / Autor:
Dekanin Dr. Brigitte Müller, Brackenheim [Brigitte.Mueller@elkw.de]

Markus 4, 26-29

„Ach, immer der!“Liebe Gemeinde,
ein älterer Pfarrer erzählt, wie er einmal mit seiner kleinen Tochter im Pfarrgarten war. Die fragte: „Papa, wer hat die Bäume gemacht?“ Und er antwortete: „Der liebe Gott.“ Da fragte die Kleine einzeln und der Reihe nach: „Papa, wer hat die Sonne gemacht?“ und „den Wind?“ und „die Blumen?“ und „die Bienen?“. Und jedes Mal habe er geantwortet: „der liebe Gott!“ Nachdem das Mädchen ein weiteres Mal gefragt und wieder die Antwort erhalten hatte: „der liebe Gott“, da habe das Kind schließlich erwidert: „Ach, immer der!“(1)

„Ach, immer der!“ – Wie mit einem Stoßseufzer macht sich da Enttäuschung Luft. Wenn der liebe Gott alles gemacht hat und überall am Werk ist, welche Rolle spielt dann noch der Mensch mit seinem Schaffensdrang?
Welche Rolle spielen wir selbst? Was ist unsere Aufgabe in Gottes Welt?

Gleichnis von Gottes Welt„Und er sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie.
Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre.
Wenn aber die Frucht reif ist, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.“

Der Acker GottesWas ist das für ein Mensch, von dem Jesus erzählt? Er bleibt namenlos. Ohne jedes Charakteristikum. Nicht einmal „Sämann“ wird er genannt oder „Bauer“.
„Ein Mensch“ … Neutraler geht es nicht. Geradezu farblos bleibt er in der Erzählung Jesu. Es kommt ganz offensichtlich nicht auf diesen einen Menschen an.

Das ärgert uns, nicht wahr? Mit wem sollen wir uns identifizieren? An wem sollen wir uns gedanklich abarbeiten?
Wenigstens ein bisschen aufregen wollen wir uns über diesen Menschen:
Geht der einfach nach Hause, schläft und steht auf, schläft und steht auf … Nacht und Tag … und kümmert sich nicht um den Acker. Und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein. Wo gibt’s denn sowas? – In der Bibel.

Was inzwischen auf dem Acker passiert?
Nun, der Same geht auf, der Halm wächst und die Ähre und das Korn.
Jesus malt ein beschauliches Idyll.
Aber ein jeder Landwirt weiß, dass es nicht damit getan ist, ein bisschen auf dem Traktor zu sitzen tagsüber und abends auf der Bank vor dem Stall. Von alleine verkommt der Acker. Von alleine wachsen nur Chaos und Schulden.
Und Jesus weiß das auch. Er überzeichnet das Bild mit Absicht.
Er überzeichnet es, damit der Mensch nicht auf den Gedanken verfällt, er sei es, an dem das Gedeihen letztendlich hängt, wie in folgender Geschichte aus China:

„Ein Mann aus Sung war sehr betrübt, dass sein Korn nicht recht wachsen wollte. Er versuchte daher, die Halme selbst in die Höhe zu ziehen. Nach dieser Arbeit kam er ganz benommen heim und sagte zu seinen Leuten: „Ich bin sehr müde, ich habe meinem Korn geholfen zu wachsen.“ Sein Sohn lief hinaus, um sich dies anzusehen, fand aber alle Halme verwelkt.“ (Mong Dse, 372-289 v. Chr.) (2)

Man kann dem Korn nicht beim Wachsen helfen. Das ist klar. Oder doch nicht?
Steine absammeln, Unkraut heraushacken, bewässern … Das ist doch notwendig und gut.

Gottes Welt in unserer Welt – unsere Welt in Gottes WeltMit dem Reich Gottes ist es aber offenbar anders. Da hat der Mensch nichts dran zu schaffen. Das ist eine eigene Welt Gottes in unserer Welt. „Unvermischt und ungetrennt“ liegen die beiden ineinander(3) , so wie die göttliche und die menschliche Natur in Christus. In beiden aber ist Gott selbst am Werk.
So schlicht die Erzählung auch daherkommt, so tiefgründig ist sie doch.

In unserer Welt, in unserer Erfahrung, wächst die Saat vielleicht „automatisch“, wie es im Gleichnis heißt. Aber ungefährdet wächst sie nie. Auch nicht die Saat des Reiches Gottes. Die wurde schon immer zertrampelt. Und das schon gleich nach der Aussaat, nämlich am Kreuz. Und gründlich wie man vorging, hat man nicht nur die Saat, sondern mit ihr auch den Sämann niedergetreten und aufgehängt.(4) Aber seine Saat ist dennoch aufgegangen, „von selbst“; will heißen: ohne menschliches Zutun, trotz menschlichen Widerstands, durch Gottes Kraft.

Unsere Rolle im Drama von Gottes Welt(en)?Was ist nun unsere Rolle in diesem Drama von Gottes Welt? Was ist unsere Aufgabe? Ganz einfach: In der Spur Jesu den Acker bestellen. Jahr für Jahr. Nacht und Tag. Schlafen und aufstehen, schlafen und aufstehen … Was sonst?

Ein BeispielIch habe vor wenigen Monaten nach 50 Jahren meine Grundschullehrerin der ersten Klasse wieder getroffen. Sie hat sich, glaube ich, kaum an mich erinnert.
Nur daran, dass mir ein Bub auf dem Schulhof den vorderen Schneidezahn eingerammt hat … ein bleibendes Andenken. Die junge Lehrerin hatte mich damals blutüberströmt zum Arzt gefahren. Und der, so wusste sie noch, habe sich nur dafür interessiert, welche Versicherung zahle.

Ich aber erinnere mich an viel mehr: an ihren Tweedrock und die roten Rollkragenpullover, die sie immer trug, die Morgenlieder vom „Ele-Zwele-Drelefant“ und „Das walte Gott“, die schwungvollen Buchstaben, die wir zur Übung mit bunter Wachskreide auf Tapetenmuster malten … Und am liebsten erinnere ich mich an die Tischrunde mit den ersten Spätaussiedlerkindern, die damals kamen. Ich durfte mit ihnen das Lesen üben, weil ich es schon sehr gut konnte.
Das danke ich dieser Lehrerin und allen späteren am meisten: dass sie mir etwas zugetraut haben und nicht bezweifelten, dass ich es schaffen würde. Denn die, die ein Kind unterschätzen, bringen es nicht weiter. Am Zutrauen aber wachsen Kinder.

Ich glaube nicht, dass es notwendig ist, ständig an einem Kind herum zu erziehen. Das könnte manchmal ebenso kontraproduktiv sein, wie auf jenem chinesischen Acker, wo am Ende alle Halme verdorrten, weil der Bauer ihnen beim Wachsen hatte helfen wollen.
Es kommt der Punkt, wo man das Geschehen sich selbst überlassen muss, um nichts zu verderben. Aber wichtig ist es, den Anstoß zu geben, das Geschehen in Gang zu setzen, mit den Worten des Gleichnisses: die Saat zu säen. Das könnte unsere Rolle in der Welt Gottes sein.

Wer bringt die Ernte ein?Und die Ernte? Wer bringt die Ernte ein?
Am Beispiel der Lehrerinnen und Lehrer ist es offensichtlich: Sie ernten normalerweise nicht, was sie gesät haben. Es gibt keine Prämie für erfolgreiche Schüler … Natürlich gibt es auch freundliche und dankbare Worte, wenn sich die nicht mehr ganz jungen Leute nach Jahren auf die Bemühungen ihrer Lehrerinnen und Lehrer besinnen. Und manchmal werden sogar begeisterte Erinnerungen laut. Aber das sind in der Regel doch seltene Erlebnisse im Vergleich zu der großen Zahl an Schülerinnen und Schülern, die durch das Leben eines Lehrers oder einer Lehrerin gegangen sind.

Auch so eine Lehrerin tut nichts anderes als der Mensch im Gleichnis: Schläft und steht wieder auf, schläft und steht wieder auf, Nacht und Tag … und macht es richtig.
Falsch wird es, wenn die Alpträume überhand nehmen und der Burnout droht, die Überlastung gerade im Lehrerberuf, weil man es einfach nicht allen Recht machen kann: Kindern und Eltern und der Schulleiterin und dem Schulamt – und den eigenen Ansprüchen …
Beim Wachsen helfen können, wie schön wäre das. Aber was für ein Anspruch, was für eine Hybris, Überheblichkeit!
Der Mensch im Gleichnis schläft gut. Jedenfalls ist nichts Anderes gesagt.
Und Gottes Welt kommt trotzdem – wir wissen nicht wie.

Und wer bringt nun die Ernte ein? Jesus sagt: „Wenn aber die Frucht reif ist -wörtlich: Wenn es die Frucht aber erlaubt(5) -, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.“
Er schickt die Sichel, unser Mensch. Und die Sichel scheint ihr Werk von alleine zu tun … Wenn die Frucht es erlaubt …
Was für merkwürdige Formulierungen. Hätte der Evangelist nicht einfach schreiben können: „Wenn die Frucht reif ist, so nimmt er die Sichel und geht hinaus; denn die Ernte ist da.“
Natürlich hätte er so schreiben können, wenn er gewollt hätte. Hat er aber nicht.
Mehr noch als bei der Aussaat tritt der Mensch bei der Ernte in den Hintergrund.
Er wird nicht selbst aktiv. Er schickt die Sichel. Aber wer die Sichel führt, bleibt unausgesprochen.

Die Sichel führt – schon wieder der, ach, immer der!Die Sichel ist das Werkzeug des Gerichts. Und das Gericht ist auch nach unserer Erzählung ganz offensichtlich nicht die Aufgabe des Menschen. Eher schon des Menschensohns. Aber von dem ist in diesem Gleichnis nicht die Rede.
So kann am Ende nur einer gemeint sein, der die Sichel führen wird: der, der den Weizen wachsen lässt, ohne dass der Mensch weiß wie. Gott, der alles gemacht hat. Schon wieder der. „Ach, immer der!“

Zum Glück, möchte ich sagen. Denn unter seinen Händen verdirbt nichts. Wir können ihm vertrauen und schlafen, den Schlaf der Gerechten schlafen. Und aufstehen, aufstehen auch gegen die Ungerechtigkeit. Aber immer gewiss: Gottes Welt kommt auch ohne unseren Aufstand. Unwiderstehlich. Wir wissen nicht wie. – Und sie ist schon da, angelegt in der Spur, die Jesus auf Gottes Acker gezogen hat und immer weiter zieht Nacht und Tag und Jahr für Jahr bis – ja, bis wann?

Die Predigt folgt stellenweise Anregungen aus der Kommentar-, Meditations- und Predigtliteratur, die in den Anmerkungen aufgeführt sind.
1 Lothar Steiger berichtet diese Begebenheit aus dem Leben von Hermann Diem in: Lothar Steiger, Er geht mit uns. Wiederentdeckte biblische Wegweiser, 1990, S. 72.
2 Zitiert von Anne Vagt in: Calwer Predigthilfen 1998/1999, 1. Halbband, S.124.
3 Formuliert in Anlehnung an das Chalcedonense von 451 n. Chr., das für die Christologie die Zweinaturenlehre entfaltete.
4 Die christologische Deutung ist alt. In der neueren Exegese wird sie aber bestenfalls angedeutet (vgl. Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus. Studienausgabe, 2010). Kurt Marti hat sie 1967 in seiner Auslegung der Stelle ebenfalls verwendet. Dieses Gleichnis hat nicht nur einen Vergleichspunkt (tertium comparationis); das heißt, es ist nicht formtypisch formuliert. Daher halte ich es für vertretbar, auch in der Auslegung die Form zu durchbrechen und den Erzähler in die Erzählung und ihre Auslegung mit hinein zu nehmen.
5 Übersetzungsvarianten bei Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus. Studienausgabe, 2010, S. 182.

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