Septuagesimae (16. Februar 2025)

Autorin / Autor:
Dekan Frithjof Schwesig, Blaubeuren [frithjof.schwesig@elkw.de]

Prediger 7, 15-18

IntentionDer Prediger Salomo ist ein genauer Beobachter. Er muss feststellen: Der Böse scheint mit seiner Bosheit durchzukommen, während der Gerechte untergeht. Die Predigtverse sind ein Plädoyer für die gesunde Mitte. Übertreib es nicht mit dem Frommsein! Sei aber auch nicht allzu gottlos! Halte dich an die gesunde Mitte, dann findest du immer den rechten Weg.

Liebe Gemeinde,
reden wir doch einmal über „Gerechtigkeit“. Dazu vorneweg ein paar Fragen. Ist es gerecht, dass Frauen in Deutschland im Schnitt 18% weniger verdienen als Männer? Ist es gerecht, dass die Bildungschancen eines Kindes von seiner sozialen Herkunft abhängen? Ist es gerecht, dass soziale Berufe hoch gelobt, aber schlecht bezahlt werden?

All diesen Fragen ist gemeinsam, dass die Antwort gefühlt „Nein“ lautet: Nein, es ist nicht gerecht, dass Frauen weniger verdienen als Männer, dass Bildungschancen von der sozialen Herkunft abhängen, dass soziale Berufe schlecht bezahlt werden. Was ungerecht ist, darüber sind sich viele einig. Aber was gerecht ist, bleibt umstritten.

Übertragen wir das Thema „Gerechtigkeit“ einmal auf Gott. Jesus erzählte ein-mal ein Gleichnis von einem Weinbergbesitzer, der so großzügig war, dass in der Folge sich viele ungerecht behandelt fühlten. Zuviel Güte scheint irgendwie auch ungerecht zu sein. Seltsam!

Auch unser heutiges Predigtwort redet von Gerechtigkeit. Es sind Worte des sogenannten Predigers Salomo. Ich lese die Verse 15 bis 18 aus dem 7. Kapitel:

„Dies alles hab ich gesehen in den Tagen meines eitlen Lebens: Da ist ein Ge-rechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit. Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit. Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen.“ 

Gottes Gebote zu halten – dazu fordert uns die Bibel immer wieder auf. Und sie verspricht: „Wenn du das tust, wird es dir gut ergehen.“ So etwa in den Zehn Geboten, z.B. im 4. Gebot, ein Gebot, dass nicht nur etwas von uns fordert, sondern uns auch etwas verspricht: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir’s wohl gehe und du lange lebst in Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.“ Aber im Lauf unseres Lebens haben wir mehr als einmal er-lebt, dass auch ein guter Sohn oder eine liebevolle Tochter bereits in jungen Jahren starben. Das geschieht bis heute. Jeder kennt Beispiele dafür.

Was unser Gerechtigkeitsempfinden erwartet, ist dieses: Wer in seinem Leben nach Gott fragt und Gutes tut gegenüber den Mitmenschen, der soll ein glückliches Leben führen können. Wer aber lebt, ohne nach Gott zu fragen, und Böses tut, dessen Leben soll davon gezeichnet sein.

Unsere Lebenserfahrung aber lehrt uns anderes. Da lebt einer rechtschaffen und vergisst Gott nicht. Und dann bricht es über ihn herein: Unglück im Betrieb, ein Examen gelingt nicht, eine Beziehung zerbricht, der Tod eines nahen Angehörigen.
Und daneben gibt es die, denen nichts heilig ist, die nur an sich denken, die aus Betrug Profit erzielen - und die sich in ihrer Bosheit auch noch eines langen und guten Lebens erfreuen können.

„Das ist doch nicht gerecht!“, denkt sich der Prediger Salomo, der Verfasser unseres Predigtwortes. Wir denken es auch. Und wir gehen noch einen Schritt weiter und sagen: „Wenn Gott gerecht ist, dann darf das nicht sein!“

Wir erwarten, dass es bei Gott gerecht zugeht, und erleben, dass dem oft nicht so ist. Wie sollen wir damit umgehen?

Es gibt den alten Tröstungsversuch zu sagen: Abgerechnet wird im Jenseits. Dort wird der Böse seine gerechte Strafe empfangen, der Gerechte aber belohnt werden. Schließlich gibt es in der Bibel Beispiele dafür – z.B. die Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus. Die hat Jesus erzählt.

Der Reiche lebt in Saus und Braus, genießt sein Leben und schert sich einen feuchten Kehricht um den armen Lazarus, der vor seiner Tür Menschen anbetteln muss. Der Reiche erleidet dann aber nach seinem Tod in der Hölle ewige Qualen. Aber der arme Lazarus, der bettelarm und von seiner Krankheit entstellt ist, erfährt nach dem Tod im Himmel Belohnung. Könnte das nicht ein bisschen Genugtuung bereiten? Aber das ist schon ein ziemlich wackeliger Trost, finde ich. Was nützt mir die Hoffnung auf das Jenseits, wenn ich hier in der Welt mit der Ungerechtigkeit nicht klarkomme?

Wir erwarten, dass es bei Gott gerecht zugeht, und erleben, dass dem oft nicht so ist? Wie sollen wir damit umgehen?

Man könnte sagen: Wenn mein Tun keinen Einfluss darauf hat, wie es mir im Leben ergeht, dann ist doch letztlich egal, wie ich mein Leben gestalte. Deshalb: Nach mir die Sintflut! Ein Hoch auf den Pragmatismus! Lasst uns leben ohne moralische Einschränkungen. Hauptsache wir haben unseren Spaß!

Der Prediger Salomo geht einen anderen Weg. Er sagt: „Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit.“ 

Zunächst die Aussage: „Sei nicht allzu weise!“ Wovor werden wir gewarnt, all-zu weise zu sein? Vielleicht vor der Gefahr, zu glauben, wir könnten die Welt und alles Geschehene erklären. Dass wir vielleicht sogar glauben, wir könnten auch Gott erklären, ja mehr noch, wir wären Gottes Sprachrohr.
Eine große Freikirche in Stuttgart erlebte vor einiger Zeit eine Spaltung, u.a. weil sich die Geister schieden an der Person des Pastors der Gemeinde. Der behauptete von sich, er sei Gottes Sprachrohr und würde direkte Anweisungen von Gott erhalten – und er beanspruchte, entsprechend behandelt zu werden.

„Sei nicht allzu weise.“ Ich verstehe das so: Maß‘ dir nicht an, genau Auskunft geben zu können, warum Gott so oder so handelt. Tu nicht so, als könntest du alles göttliche Handeln erklären. Gott ist manchmal eben auch ein dunkler Gott, den wir nicht verstehen können, der uns rätselhaft bleibt. Selbst Jesus muss am Kreuz schreien: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das gehört auch zum Glauben dazu – leider.

Dann die Warnung „Sei nicht allzu gerecht!“ Wir kennen politische Ideologien, die allen Menschen Gerechtigkeit bringen wollten und die zu menschenverachtenden, diktatorischen Regimen entarteten. Gerechtigkeit taugt nicht zum Fanatismus. Wenn nur ich weiß, was die Gerechtigkeit herbeibringt und alle anderen nicht, wird es gefährlich. Eine gerechte Welt gibt es nicht. Aber es lohnt sich für eine Welt zu streiten, in der es gerechter zugeht. Aber Achtung: An einem Übermaß an Gerechtigkeit kann man zugrunde gehen. Denn es ist nur ein schmaler Grat zwischen gerecht und selbstgerecht.

Ich erinnere mich an einen Bericht über eine Gruppe von Tierschützern. Sie waren heimlich in Mastbetriebe eingedrungen, um öffentlich zu machen, wie fabrikmäßig Tiere gehalten werden. Ihre Videos zielten darauf, dass einem der Appetit auf Fleisch vergeht. Aber um ihre Bilder zu bekommen, stellten sie in einem Mastbetrieb die Lüftung aus, so dass Tiere zu Hunderten verendeten.

Es ist nur ein schmaler Grat zwischen gerecht und selbstgerecht. Der Prediger Salomo warnt vor einem Übermaß an Gerechtigkeit.
Auch vor zu viel Gottlosigkeit warnt der Prediger Salomo: „Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit.“

Eigenartig. Auf der einen Seite hat der Prediger Menschen gesehen, die es ohne Gott lange und vielleicht auch gut aushalten konnten. Und doch bleibt er davon überzeugt, dass es auch hier ein "Zu viel" geben kann. Ein "Zu weit weg von Gott". Denn was passiert dort, wo Gott fehlt? Wo Gott fehlt, dort tritt der Mensch selbst an Gottes Stelle. Macht sich zum Maß aller Dinge. Scheinbar kann es dort, wo Gott nicht ist, kein Vakuum geben, keine Leerstelle. Wo kein Gott ist, da treten Menschen an seine Stelle. Auch das kann und wird nicht gut gehen. Die Diktatoren des letzten und dieses Jahrhunderts geben davon beredtes Beispiel.

Darum gibt der Prediger Salomo zum Schluss einen Rat: „Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen.“ Mit anderen Worten: Halte dich an die gesunde Mitte. Wenn du Gott ernst nimmst, findest du immer den rechten Weg. Das ist ein Plädoyer für das Mittelmaß. In Sachen Gerechtigkeit. In Sachen Glauben. Und auch das ist gemeint: Finger weg vom Fundamentalismus! Wenn nur ich recht habe und alle anderen im Unrecht sind. Wenn nur mir der Himmel offen-steht und alle anderen draußen bleiben müssen. Vorsicht vor denen, die festgelegt haben, was Gott will oder was an Gottes Stelle steht!

Den Schlüssel zu einem guten Leben erwähnt der Prediger Salomo ganz zum Schluss: „Denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen.“
Das ist das Allerwichtigste: Gott ernst nehmen. Mit Gott rechnen. Die Gerechtigkeit ihm überlassen anstatt mit aller Gewalt durchzusetzen, was ich selbst für richtig halte. Das Gerechte tun, aber mein Tun nicht zum Maß aller Dinge zu machen. In Gelassenheit leben. Vielleicht ist ein gelassenes Leben viel dichter an der neuen Welt Gottes dran als alle Visionen von einer schönen, neuen Welt.
So lässt sich leben: Gemäßigt. Gelassen. Erfüllt.
Amen.

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