Septuagesimae (24. Januar 2016)

Autorin / Autor:
Prälatin Dagmar Zobel, Freiburg [dagmar.zobel@gmx.de ]

1. Korinther 9, 24-27

Wir schaffen das!„Wir schaffen das!“ Der wahrscheinlich am meisten umstrittene und vieldiskutierte Satz unserer Bundeskanzlerin stach Frau Lehmann ins Auge, als sie dabei war, die gelesenen Zeitungen im Wohnzimmer aufzusammeln und zum Altpapier zu legen. „ Wir schaffen das!“ Brigitte Lehmann seufzte tief. Die lebhafte Diskussion am Abend zuvor fiel ihr wieder ein. Steigers waren zu Besuch, und natürlich kam man schnell auf die vierzig Flüchtlinge zu sprechen, die in unmittelbarer Nachbarschaft untergebracht waren.
Es lief eigentlich ganz gut bei ihnen am Ort. Wie sie gab es viele Einheimische, die sich engagierten und wirklich unterstützen wollten. Die Menschen aus Syrien und dem Irak waren allesamt freundlich und dankbar für den Schutz und den Frieden, den sie hier erlebten und die Kinder so zutraulich und unbeschwert – wenn man bedenkt, was die alles hinter sich hatten. Doch, es war richtig, dass die Kanzlerin so beherzt und entschieden handelte, auch wenn sie sich damit nicht überall Freunde machte.

Ein Platz im Himmel und ein Platz auf der ErdeFür Frau Lehmann stand jedenfalls fest, dass man helfen musste, egal wo die, die Hilfe brauchen, herkommen. Schon allein aus christlicher Nächstenliebe heraus. Dass einer ein Christ ist, soll man ja auch merken an dem, wie er sich verhält. Natürlich geht es nicht darum, sich durch gute Werke einen Platz im Himmel zu verdienen, aber Gottes Liebe und Gnade, die man erfahren hat, muss sich ja im Leben irgendwie auch auswirken.

Jesus Christus nachfolgen heißt für Brigitte Lehmann ganz praktisch, denen zu helfen, die in Not sind und die im Auge zu behalten, denen Jesus sich besonders zugewandt hat. Die haben ja genau wie sie diesen unverdienten Platz im Himmel und brauchen genauso wie sie einen Platz auf dieser Erde an dem sie leben können. Deshalb engagiert sie sich. Das fällt ihr oft nicht leicht, man ist ja auch mit sich beschäftigt, hat manchmal selbst keine Kraft und braucht Hilfe und Unterstützung. Aber angesichts der vielen Menschen, die um ihr Leben geflohen sind, die fürchterliche Dinge erlebt haben und jetzt auch noch in einem fremden Land zurechtkommen müssen, da gibt es für sie eigentlich keine Alternative und sie stellt staunend fest, wie viele da über sich hinauswachsen.

Das Ziel vor AugenIhr fielen die oft wiederholten Geschichten ein, die die Schwiegermutter erzählte von der Flucht aus Ostpreußen. „Weißt du, Brigitte“, sagte die so manches Mal, „wir sind einfach immer weiter gelaufen, ums nackte Überleben gelaufen. Wir mussten alles ausblenden, was unterwegs passiert ist, den Hunger genauso wie die fürchterliche Kälte. Am Schlimmsten waren die Toten, die wir auf dem Weg zurücklassen mussten. Wir hatten nur das eine Ziel vor Augen: bei den Verwandten im Westen anzukommen und wieder beieinander zu sein. Das hat uns vorangetrieben. Jeden Tag und jede Stunde. Wenn man ein Ziel hat, dann gibt man nicht so schnell auf. Na und Gott sei Dank haben wir die Kraft gehabt, das alles durchzustehen. Willkommen waren wir Millionen Flüchtlinge damals ja auch nicht überall im Westen. Das war schon bitter. Aber irgendwie haben wir das dann doch geschafft, hier heimisch zu werden.“

Größer denkenDass einem Kräfte zuwachsen, die man gar nicht für möglich hält, das scheint momentan ganz besonders das Thema von Brigitte Lehmann zu sein. Erst vor kurzem war es das auch im Gespräch zwischen ihr und ihrer Tochter. Die saß bleich und übernächtigt mit dunklen Augenringen bei ihr in der Küche und rührte in ihrem Kaffee, während die kleine Maike endlich in den Mittagsschlaf gefunden hat.

Wie anstrengend das Leben mit einem Kleinkind sein kann, das wusste Frau Lehmann. Sie erinnerte sich an die vielen Nächte vor dreißig Jahren, in denen sie todmüde ihr schreiendes Baby herumgetragen hat, in den Armen gewiegt und getröstet, bis die Kleine wieder eingeschlafen war. Wie sie erschöpft zurück ins Bett kroch, um nach einer Stunde wieder vom Schreien aufgeweckt zu werden und wieder aufstand... „Man kann gar nicht glauben, dass man das wochen- und monatelang durchgehalten hat, mit dem ganzen Hausbau noch dazu. Und heute“, sagte sie lächelnd zu ihrer Tochter, „heute kann ich nur noch deine Wärme von damals fühlen und wie dein kleiner Körper sich an mich schmiegt und wie du wieder eingeschlafen bist und am nächsten Morgen quietschvergnügt im Bettchen standst, und ich spüre die Liebe und Dankbarkeit, dass es dich gibt. Es hilft tatsächlich, manche schlimme Situation durchzustehen, wenn man weiß, dass es sich lohnt und wofür man es tut. Und für so ein großes Glück kann man schon auf manches verzichten. “

Einübung ins LebenUnd dann ging die Unterhaltung in eine ganz andere, heitere Richtung. Sie hatten beide vor Augen, wie die kleine Maike an Weihnachten auf wackeligen Beinen ihre ersten Schritte machte. Zuerst ging sie noch von Opa Walter an beiden Händen gehalten, dann ließ der erst eine Hand los und dann die andere und Maike stand und schwankte ein bisschen hin und her und plumpste auf den Boden. Opa half ihr wieder auf die Beine, und dann ging es los. Ein Schritt, ein zweiter, und wieder landete sie auf dem Hosenboden. Unermüdlich übte sie und freute sich an ihren Fortschritten, fiel wieder hin, stand wieder auf, drei, vier Schritte, bis sie von Opas offenen Armen wieder aufgefangen wurde. Es war faszinierend zu beobachten, mit welcher Ausdauer und Zähigkeit dieses kleine Wesen trainierte, um auf eigenen Beinen zu stehen und sich auch von unzähligen Rückschlägen nicht entmutigen ließ.

Der Preis des ErfolgsUnd Brigitte Lehmann erinnerte sich an ihre Jugendzeit, als die Sportlehrerin bei ihr damals ein großes Talent ausgemacht hat, das man unbedingt fördern sollte. Sie war eine gute Mittelstreckenläuferin, 800 Meter in 3:18, und tatsächlich hat sie bei vielen Wettbewerben auch Preise gewonnen. Aber es hat sie auch einiges gekostet. Meistens konnte sie wegen der Wettkämpfe nicht dabei sein, wenn ihre Freundinnen am Wochenende gefeiert haben. Dreimal die Woche hatte sie anstrengendes Training und oft genug musste sie gegen den inneren Schweinehund und die Unlust kämpfen. „Wenn du auf deine Befindlichkeit achtest, dann hast du schon verloren“, sagte ihr damaliger Trainer, „dann würdest du nämlich im Bett bleiben. Du musst das Ziel vor Augen haben, dich dahin orientieren, wo du hin willst.“
Na ja, für Olympia hat es dann doch nicht gereicht, aber es war eine gute Erfahrung für viele Situationen, die hinterher noch kamen. Zu wissen, dass man vieles schaffen kann, auch wenn es einen etwas kostet.

Ein unvergänglicher KranzLiebe Gemeinde,
ich kann mir vorstellen, dass der Predigttext des heutigen Sonntags Frau Lehmanns Zustimmung gefunden hätte. Er steht im 1. Korintherbrief im 9. Kapitel.
Der Apostel Paulus schreibt darin:

„Wisst ihr nicht, dass die, die in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, dass ihr ihn erlangt. Jeder aber, der kämpft, enthält sich aller Dinge; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen. Ich aber laufe nicht wie aufs Ungewisse; ich kämpfe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt, sondern ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde.“

Um Ziele, die man vor Augen hat, um Disziplin und Training geht es auch dem Apostel in diesen Zeilen.
Seine Perspektive ist nun noch eine neue Variante des Themas. Wie gestaltet sich das Leben im Glauben an Jesus Christus? Was heißt das für die Lebensführung eines Christen und einer Gemeinde, wenn sie das Heil in Jesus Christus vor Augen hat? Wenn man schon bereit ist, für einen Lorbeerkranz und eine Anerkennung so viel auf sich zu nehmen, wie viel mehr wird man dafür tun, dem entgegenzulaufen, der Heil und Leben mit sich bringt und einlädt, dass alle daran teilhaben können.

Da kommt es nicht darauf an, dass einer oder eine die Erste ist. Auch wer am Ende des Feldes läuft wird nicht leer ausgehen. Gottes Gnade ist unerschöpflich und reicht für alle.
Den Siegeskranz des Heils bekommt man allerdings nicht durch Zuschauen, sondern durch Mitspielen. Den Lauf des Evangeliums mitlaufen, das ist die Qualität, die ein Leben als Christin und Christ, als Gemeinde ausmacht. Und das heißt, dass wir uns auf den Weg einlassen sollen, den Jesus Christus für uns gegangen ist, mit allen Anstrengungen und aller Freude, die das mit sich bringt.

Frau Lehmanns Erfahrungen decken sich in Vielem mit dem, was Paulus an die Christen in Korinth über das Leben im Glauben schreibt. Das ist nicht verwunderlich. Denn christlicher Glaube findet ja nicht getrennt vom Leben statt oder abgehoben in geistigen Sphären. Alltägliche Erfahrungen sind Lebensmuster auch für den Glauben.

Auch unser Glaubensleben ist davon geprägt, dass wir hinfallen und wieder aufstehen, dass wir wieder neu anfangen können, dass es Zeiten gibt, in denen wir das Ziel, das Reich Gottes, nicht wirklich vor Augen haben, und Zeiten, in denen wir voller Zuversicht über uns hinauswachsen und dem entgegenwachsen, der für uns den Siegeskranz bereithält.

„Ja“, sagt Frau Lehmann, „so ist es.“
Amen.

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