Reminiscere / 2. Sonntag der Passionszeit (17. März 2019)
Pfarrer Jochen Maurer, Stuttgart [Jochen.maurer@elkw.de]
Johannes 3, 14-21
IntentionIst Johannes 3,14-21 ein Weihnachtstext – oder gehört er in die Passionszeit, wie mit der neuen Perikopenordnung festgelegt? Luthers „Nun freut euch, lieben Christen g‘mein“ von 1523 eröffnet einen Zugang, der diese Alternativen überwindet. Das wird unterstrichen von Zitaten aus einer Predigt Luthers zu Johanns 3,16ff. Die Gabe Gottes, die frohe Botschaft in Menschengestalt, führt ins Gericht – das wird als ein Prozess der Selbsterkenntnis im Licht der göttlichen Liebe beschrieben.
[Als Lied vor der Predigt wird EG 341,1-4 „Nun freut euch, lieben Christen g‘mein“ gesungen]
Nun freut euch, lieben Christen g‘mein - gospel goes viral – anno 1523„Nun freut euch, lieben Christen g‘mein, und lasst uns fröhlich springen.“
Fröhliche, kräftige Worte; helle Töne, ein mitreißender Rhythmus:
„dass wir getrost und all in ein mit Lust und Liebe singen“.
Ein geistliches Volkslied aus der heißen Phase der Reformation:
Ein geistliches Volkslied, gar nicht bestimmt für Kirche und Gottesdienst,
ein Lied, das hinausdrängt auf die die Straßen, Gassen und Plätze.
Quicklebendig der Ton – obwohl das Leben mit aller Dramatik im Blick ist:
1523 getextet und vertont, eine Momentaufnahme des Reformators in einer heißen Phase seines Lebens.
Ja: Ängste und Sorgen hatte er fürwahr ausgestanden!
Allein vor Kaiser und Reichstag – und nichts, als das Vertrauen auf den gnädigen Gott auf seiner Seite.
Danach zehn Monate auf der Wartburg aus dem Verkehr gezogen – vogelfrei in der Reichsacht.
Luther leidet unter der erzwungenen Isolation.
Aber einsam ist er dennoch nicht.
Seine Tage bringt er zu mit zwei „Sprachgesellen“: Das ist einmal das griechische Neue Testament, und zum anderen die Sprache der Leute. Luther bringt beides zueinander: Das Evangelium, die gute, neue Mär, soll hinaus zu Hans und Grete, soll ihnen auf der Straße begegnen, sie direkt ansprechen, vertraut werden – ganz wie damals die Engelsbotschaft auf den Feldern den Hirten.
Das alles fließt ein, sucht unbändig lebendig und freudig Ausdruck, als Luther schließlich dieses Lied schreibt und so das Evangelium auf die Plätze und Gassen, zu den Leuten bringt – und Kirchenmauern können und sollen die Verbreitung nicht hindern.
Annäherung im Schutze der DunkelheitLiebe Gemeinde:
Luthers Lied führt hin zum Predigttext, der bisher zu Heiligabend gepredigt wurde.
Mit der neuen Leseordnung finden wir ihn in der Passionszeit wieder: Zu Reminiszere.
Es war Nacht, als folgende Verse aus Johannes 3 gesprochen wurden. Es geschah in einem intimen Rahmen. Eine Zwiesprache zwischen Nikodemus, einem vornehmen nächtlichen Besucher, und Jesus.
„Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden,
auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.
Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab,
auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.
Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt,
dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.
Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet,
denn er hat nicht geglaubt an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes.
Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist,
und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse.
Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht,
damit seine Werke nicht aufgedeckt werden.
Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht,
damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind.“
Im Schutz der Dunkelheit ist Nikodemus zu Jesus gekommen – inkognito.
Die Nacht ermöglicht ihm, seiner Sympathie für den Rabbi aus Nazareth nachzugeben.
War es Sehnsucht nach Freundschaft und Verstehen – genährt von dem, was man von Jesus erzählte?
„Der hat keine Berührungsängste: nicht vor Kranken; nicht vor Reichen; nicht vor Huren; nicht vor Fremden. Und wie er erzählen kann: Von einem Perlenkaufmann, der alles, was er hat, drangibt, um die unvergleichlichste Perle zu besitzen – mehr braucht es nicht!“
Nikodemus folgt der Anziehungskraft dieses Menschen, die Nacht deckt ihn wie ein Mantel.
Gabe und Hingabe – Passion und Weihnachten(Kurze Sprechpause)
»Das ist eines der herrlichsten Evangelien im Neuen Testament.
Wenn´s sein könnte, wär´s billig, daß man's mit goldenen Buchstaben ins Herz schriebe,
und ein jeder Christ sollte zusehen, daß ihm solche Worte ganz vertraut werden, […]
Denn da hört man Worte, die aus einem traurigen Menschen einen fröhlichen,
aus einem toten wieder einen lebendigen machen können, wenn man nur fest daran glaubt. (1)
Liebe Gemeinde:
Da ist sie wieder, die Freude Martin Luthers an der dramatischen, unbändigen Liebesgeschichte Gottes mit seiner Welt, mit Grete und Hans – in Jesus Christus, der göttlichen Gabe.
»So ist das Herz groß […] und der Geber ist auch groß. […]
Auch die Gabe ist unaussprechlich. Was gibt denn Gott? ‚Seinen eingeborenen Sohn.‘
Das heißt ja nicht einen Groschen geben, ein Auge, ein Pferd, eine Kuh, ein Königreich,
ja auch nicht den Himmel mit der Sonne und den Sternen, noch die ganze Kreatur,
sondern er gibt seinen Sohn, der so groß ist als er selber ist.
Das sollte eitel Licht, ja Feuer in unseren Herzen machen, daß wir immer vor Freuden tanzten.«(2)
Ein besonderes Geschenk zeichnet sich dadurch aus, dass es glücklich gewählt ist:
Glücklich schenken wir dann, wenn wir damit richtig liegen.
Darum sagt Luther weiter:
»Es soll wirklich Gabe heißen, soll nicht geborgt, geliehen oder bezahlt sein.
Man soll nichts dafür geben, sondern man braucht nicht mehr zu tun, als die Hand herzuhalten. […] Nimm nur!«(3)
Das ist Weihnachtsfreude! Und Passion ist es auch – eine Liebesgabe aus der Leidenschaft Gottes.
Und wir sind eingeladen, mit Nikodemus, der seinem Sehnen gefolgt ist, sich in diese nächtliche Zwiesprache begeben hat, um die Wahrheit seines Lebens, das Evangelium in Menschengestalt zu erkennen - aus dem Dunkel ins Licht zu treten!
Das Gericht der Liebe„Das ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist!“ (V 19)
Die gute Nachricht in Menschengestalt ist Gottes Abrechnung mit Gleichgültigkeit; Habgier; Unmenschlichkeit; dem Hass und Wiederhass – mit der Gott-Losigkeit der Menschen.
Was damit gemeint ist, kennen wir gut: das Gericht, das wir über andere halten.
Die Wut auf die Eliten „da oben“, die allen ihre politisch korrekte Sicht aufzwingen und verschweigen, was nicht ins Bild passt.
Oder auf die anderen, die aus Ängsten, Wut und Groll populistische Süppchen kochen.
Aber, liebe Mitchristen:
„Dazu ist das Licht in die Welt gekommen“ – damit wir uns selbst in diesem Licht erkennen.
Gott sei Dank! aber nicht im Licht der moralistischen Öffentlichkeit.
Nein: Gott sei Dank ist es ein anderes Licht, in das unser Fehlverhalten, unsere Sünde, gestellt wird:
„Denn unsre Missetaten stellst du vor dich,
unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht.“ (Ps 90,8)
Es ist das Licht des Evangeliums, das in die Welt gekommen ist – Gottes menschgewordene Gabe.
Gott gibt dabei nicht etwas, nicht jemand anderen – sondern Gott gibt alles – sich selbst!
Daran scheiden sich die Geister; dagegen wird Widerspruch laut, Widerstand;
dem wird der Prozess gemacht; der wird aus der Welt geschafft.
Wenn wir wissen wollen, wie dieses Gericht funktioniert,
dann können wir von Südafrika und Ruanda lernen:
Wahrheitskommissionen bringen die Wahrheit ans Licht –
Indem Opfer und Täter berichten von dem, was geschehen ist.
Ein Täter kann Amnestie erhalten, wenn er erzählt, was er getan hat,
wenn er sich zu seinen Taten stellt im Angesicht seiner Opfer.
Die Wahrheit – um der Menschen und um Gottes Willen:
Sie befreit trotz großer Schuld zu Vergebung, zu einem neuen gemeinsamen Anfang.
Liebe Gemeinde:
Jetzt sind wir mit Nikodemus nahe am heißen Kern.
Das Gericht Gottes über unsere Gottlosigkeit – und dieses Gericht ist ein Geschenk!
„Gott gibt seinen eingeborenen Sohn.“
Ja! Das ist eine Zumutung!
Die armselige Krippe ist ein Herrschaftszeichen.
Genau so, wie dass er als Jude geboren wurde und an einem römischen Kreuz starb.
Dieser Weg, der leidvolle, schmerzensreiche, ehrlose – es ist ein Weg zu uns.
In die Abgründe des Menschseins.
An die Seite der Leidenden und der Opfer,
der Weg Gottes zu uns – auch zu den Tätern!
„So sehr hat Gott die Welt geliebt!“
Da, liebe Gemeinde, sind wir ohne langes Suchen am Ziel.
Es ist diese Liebe Gottes, die wir in unseren Kirchen feiern – an Weihnachten, in der Passion, zu Ostern – an jedem Sonntag: das Gericht der Liebe.
Nun freut euch, lieben Christen g‘mein!Mit Nikodemus hörten wir die Stimme Jesu.
Er folgte seiner Sehnsucht – aber kam im Schutz der Dunkelheit.
Wie ist er gegangen?
Führte sein Weg aus der Dunkelheit jener Nacht hinaus ins Licht?
So, dass er offen für Jesus einstehen konnte für die erlösende Wahrheit – vor aller Welt?
Und wir?
Sind wir gepackt von Luthers Freude über den glücklichen Ausgang des großen Dramas?
Nun freut euch, lieben Christen g‘mein!
Amen.
Anmerkungen
1 Martin Luther, Predigt am 25.3.1534 zu Joh 3,16-21. In: D Martin Luthers Evangelien Auslegung, 4. Teil. Hrsg. v. E. Mühlhaupt, Göttingen 1961, S. 168.
2 a.a.O, S. 169.
3 a.a.O, S. 170.
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