Reminiscere / 2. Sonntag der Passionszeit (25. Februar 2018)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Karl Hardecker, Stuttgart [karl.hardecker@t-online.de ]

Jesaja 5, 1-7

Liebe Gemeinde,
das ist nicht die schlechteste Hinterlassenschaft – ein Weinberg, der gut bepflanzt ist und gut dasteht. An einer solchen Hinterlassenschaft würde deutlich, wie wir gearbeitet haben.

Unsere Hinterlassenschaften – unsere HandschriftSo ein Weinberg wäre noch etwas mehr als nur das Geld, das wir vererben. An einem Weinberg würde auch unsere Handschrift sichtbar werden – wie fleißig wir waren und mit welcher Sorgsamkeit wir hier gewirtschaftet haben. Insgeheim setzten wir unsere Hoffnung auch darin, dass die Nachgeborenen nicht nur den Wohlstand erkannten, den wir vererben, sondern auch unsere Art und Weise mit dieser Welt umzugehen. Und in einem könnten wir sicher sein, dass die nach uns Geborenen mindestens sagten: „Das muss ein feiner Mensch gewesen sein, mit einem Sinn für die Rebstöcke und für den Weinberg. So sorgsam und umsichtig er seinen Weinberg bewirtschaftet hat – ein grober und gewalttätiger Mensch kann dies bestimmt nicht gewesen sein!“
Als ein kultivierter Mensch würden wir in den Augen anderer dastehen.
Das wäre doch etwas, oder nicht?

Ein Weinberg steht für die KulturDenn so ein Weinberg steht schon immer für die Kultur. Er steht dafür, dass Menschen die Natur als Schöpfung Gottes bebauen und bewahren und so damit umgehen, dass sie davon reich werden können und der Wein, den sie keltern, ihnen und anderen Lebensfreude bereitet.
Einen Weinberg zu bepflanzen setzt sodann den Frieden voraus. In Kriegszeiten nämlich würden Feinde den Weinberg überrennen und ihn verwüsten.
So steht der Weinberg also für eine gelingende Kultur, eine Kultur, die sich entfaltet im Gegenüber zu Gott dem Schöpfer, eine Kultur, die den Frieden voraussetzt und die Lebensfreude ermöglicht.
Aber wie weit trägt diese Kultur? Ist sie wirklich so stark, dass sie Unrecht verhindert und einen Schutzwall darstellt gegen Krieg und Gewalt?
Zweifel sind angebracht.

Grenzen der KulturMit Entsetzen musste man in den Jahrzehnten nach dem Faschismus konstatieren, dass die deutsche Kultur, zu der immerhin Schiller, Goethe, Bach und Mozart gehören, die Barbarei des Holocaust nicht verhindern konnte. Diese Kultur war offensichtlich zu schwach gegen diese zerstörerischen Kräfte. Auf diese Schwäche der Kultur hat Theodor Adorno nachdrücklich verwiesen!
Ähnlich frustriert muss Jesaja gewesen sein. Der Weinberg, den sein Freund gepflanzt hatte, konnte nicht verhindern, dass in seinem Land das Recht gebrochen und Menschen ungerecht behandelt wurden.

Die ganze Kultur also umsonst? Wozu die Gebote des Herrn, wenn sie nicht eingehalten werden? Wozu die Gottesdienste im Tempel, wenn die Armen bedrückt und die Witwen und Waisen allein gelassen wurden? Wozu also einen Weinberg bepflanzen und bebauen, wenn um ihn herum so viel Unrecht geschieht?
Was ist das für eine Kultur, so fragt Jesaja, die auf den Anspruch des Herrn nicht mehr antwortet und die Welt nicht mehr nach seinen Maßstäben gestaltet?

Wenn Arme immer ärmer werden und die Not immer größer in einem doch reichen Land, wenn sich dies Land nach außen hin abschottet und in allen Fremden nur Feinde sieht, ja dann ist so ein Weinberg nicht wert, dass man ihn länger pflegt, dann kann er eingerissen und umgepflügt werden.
Wo bleibt denn die größere Wirklichkeit, die der Glaube bezeugt, wenn jeder nur noch an sich selber denkt? Und wenn es nicht möglich ist, diese größere Wirklichkeit, die der Glaube bezeugt, auch in der Welt zu gestalten, dann verblasst dieses Bild vom Weinberg als eine der schönsten Gestalten der Schöpfung.

Die ChristuswirklichkeitWenn unser Denken und unser Handeln nur noch Ausdruck unserer Selbstsorge ist, dann verliert auch dieses Wort des Christus an Kraft:
„Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“
Denn Christus hat eine Wirklichkeit bezeugt und in diese Welt gebracht, die enge Herzen und enge Horizonte öffnet, die den Notleidenden hilft und den Ängstlichen Raum zum Atmen gibt. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“ Das entfaltet seine Kraft nur, wenn wir in seiner Nachfolge auf die überwindende Kraft seines Geistes setzen und in der Hoffnung auf die überwindende Kraft seines Geistes auch handeln.

Denn der Weinstock verspricht mit seiner Frucht, mit dem Wein, eben den Geist, in dem wir handeln können. Dieser Geist befähigt Menschen dazu, eine Kultur zu schaffen, in der die Verschiedenheit nicht als Bedrohung, sondern als Reichtum erfahren wird. Dieser Geist des Gekreuzigten und Auferstandenen verhilft uns dazu, mit den Nöten dieser Welt konstruktiv umzugehen, also nicht den Kopf in den Sand zu stecken, sondern gemeinsam darüber nachzudenken, wie es Lösungen geben könnte für die Aufgaben, die vor uns stehen.

Alte sollen nicht in Angst und Schrecken älter werden, weil ihnen die Rente nicht reicht oder weil sie darum bangen müssen, wie mit ihnen umgegangen wird, wenn sie einmal gebrechlich und hilfsbedürftig sind. Kinder sollen so aufwachsen können, dass sie vor der Willkür der Erwachsenen geschützt sind und dass sie von Erwachsenen großgezogen werden, die ihrer Verantwortung gerecht werden können.
Arbeiter und Angestellte, die nicht über Top-Qualifikationen verfügen, sollen dennoch Aufgaben finden, die sinnvoll sind und für die sie so entlohnt werden, dass sie davon auch leben können.

Im Geiste JesuJesus musste die zerstörerischen Kräfte von Menschen an seinem eigenen Leib erfahren. Die Kultur, in der er lebte, war zu schwach, um ihn zu schützen. Seine bedingungslose Liebe und Zuwendung zu den Ärmsten musste er mit seinem Leben bezahlen. Weil er aber ein Gerechter gewesen ist und als Gerechter gestorben ist für die vielen, deshalb hat ihn Gott vom Tode auferweckt. Diesen Jesus hat Gott erhöht und ihm die Macht verliehen, dass er den Seinen seinen Geist schenkt. Im Vertrauen auf diesen Geist können wir so handeln, dass wir Lieblosigkeit und Hass überwinden, dass wir mit bauen an seinem Weinberg und dass so sein Reich komme, ein Reich der Gerechtigkeit und ein Reich des Friedens. Amen.


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