Reminiscere / 2. Sonntag der Passionszeit (16. März 2025)
Johannes 3,14–21
IntentionDie Predigt möchte dazu einladen, Gottes liebende Gegenwart gerade in einer Welt voller Leid mehr und mehr zu entdecken. Glauben bedeutet im Johannesevangelium „sehen“: nicht nur den Augenschein zu sehen, sondern mit dem Herzen eine tiefere Ebene der Wirklichkeit zu entdecken, Gottes Reich.
PredigttextUnd wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.
Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er hat nicht geglaubt an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes. Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind.
Liebe Gemeinde,
wir sind in dieser Welt nicht allein! Auch wenn vieles zum Himmel schreit in diesen Wochen und Monaten, vieles, woran wir in der Passionszeit 2025 verzweifeln könnten. Immer sind wir umgeben von der Liebe Gottes!
Die Dunkelheit in der Welt und die lichtvolle Gegenwart GottesWar es denn jemals anders? Auch damals, als Johannes sein Evangelium schrieb, litten die Menschen unter Krieg, Besatzung, Verfolgung. Und auch zur Zeit Jesu. Nikodemus kommt in der Nacht zu Jesus. Das ist mehr als eine Zeitangabe. In der Bibel ist Dunkelheit ein Symbol für Chaos und Gewalt. In der Nacht lauern Gefahren, die Nacht verbirgt vieles, Nikodemus kommt heimlich. Nikodemus, ein vornehmer, gebildeter, wohlhabender Mann. Einer, der mit Jesus sympathisierte und doch skeptisch war.
Sie reden miteinander – zwei jüdische Gelehrte. Es geht um die große Frage: Wie kann man in einer Welt, die so ist, Gottes Reich sehen? Und Jesus sagt: Wer von neuem geboren wird, von oben her, vom Geist Gottes, wer also ein neuer Mensch wird, kann das Reich Gottes sehen.
Gott ist gegenwärtig. Das Licht ist in der Finsternis.
Nikodemus ist skeptisch. Wer könnte ihn nicht verstehen?
Die in der Wüste aufgerichtete Schlange als ZeichenJesus sagt zu Nikodemus, einem herausragenden Lehrer Israels: Das weißt auch du. Und er erinnert ihn ganz konkret an eine Situation während der Wüstenwanderung, die Nikodemus natürlich kennt. Jesus erinnert ihn daran, dass Mose die kupferne Schlange aufgerichtet hat. Das Volk hatte sich bitter beklagt bei Mose und bei Gott! Über die Wüste und die harten Bedingungen, das karge Essen, vor dem man sich schon ekelte. „Von Gott ist hier nichts zu sehen! Wir werden noch alle sterben!“, so wüten sie. Und dann waren da feurige Schlangen und bissen, und viele starben tatsächlich. Angst und Not griff um sich! Und nun tat es ihnen leid, dass sie so aufbegehrt hatten. Mose bat für das Volk zu Gott. Und Gott sprach zu Mose: Mach eine kupferne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die kupferne Schlange an und blieb leben.
Schaue hindurch, was immer du siehstAuch hier geht es ums Sehen. „Was soll mir das bringen, auf diese Schlange zu schauen? Das ist doch Humbug!“ Ob es damals auch Skeptiker gegeben hat? Geholfen hat letzten Endes ja nicht die Schlange aus Kupfer, sondern Gott. Die Schlange war ein Zeichen für Gottes Gegenwart in dieser Situation. Und die, die sich in ihrer Not auf Gottes Angebot eingelassen haben, haben auf die Schlange geschaut, haben sie regelrecht fixiert – und haben dadurch auf Gott geschaut, der das angeboten hatte.
„Schaue hindurch, was immer du siehst, schaue hindurch mit deinem Herzensauge“ (Franz-Xaver Jans-Scheidegger). Der Skeptiker sieht eine kupferne Schlange, und er hat auf einer Ebene recht – wer vertraut, sieht durch das Zeichen hindurch auf den unsichtbaren Gott und wird gerettet.
Auch das Kreuz ist ein Zeichen„So wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.“
Der Menschensohn muss erhöht werden. Jesus spricht hier von seinem Tod am Kreuz. Er blickt, obwohl es noch ganz am Anfang des Evangeliums ist, schon zurück auf seinen ganzen Weg, auf sein Sterben und Auferstehen – der Evangelist Johannes hat es später aufgeschrieben. Auch das Kreuz ist ein Zeichen.
Wer skeptisch ist, sieht auf das Kreuz und sieht, wie jemand erniedrigt wird, gedemütigt wird, wie jemand Qualen erleidet und stirbt. Wer vertraut, sieht noch eine andere Ebene. Sieht, wie Jesus seine Feinde liebt und für sie betet, wie Gott liebt – mitten im größten Elend. Wer vertraut, sieht durch das Kreuz hindurch, wie Jesus aufersteht, wie Gott rettet. Das Kreuz ist ein Zeichen, dass Gott gerade in den schlimmen Situationen anwesend ist. Gott hat seinen Sohn mitten in das Elend geschickt, mitten hinein in das Leiden in der Welt. Dadurch zeigt er: Hier bin ich anwesend. In jeder Situation. Ich leide mit. Jeder gequälte und geschundene und erniedrigte Mensch, jeder, der schlimme Schmerzen leidet, der ausgegrenzt und verspottet wird, kann sich in der Nähe Jesu sehen, von seiner Liebe umhüllt; er leidet mit und hilft hindurch. Das Kreuz ist ein Zeichen des Lebens. Darum hat Gott seinen Sohn auf diesen schweren Weg geschickt. Damit wir Menschen wissen: Wir sind in dieser oft grausamen Welt nicht allein. Durch den Juden Jesus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, steht der ganzen Welt der Zugang zum Gott Israels offen.
Es geht um unsLiebe Gemeinde, haben Sie es gemerkt? Es geht schon lange nicht mehr um Nikodemus. Er ist verschwunden, aufgebrochen durch die Nacht. Es geht um uns. Sind wir skeptisch oder vertrauend? Wahrscheinlich ist es mal so und mal so. Sehen wir das Licht? Suchen wir die Gegenwart Gottes in jeder Situation? „Hindurchzuschauen“ – das kann man ein Leben lang üben.
Die Sehnsucht GottesWir sollen nicht verloren werden! Gott sehnt sich danach, uns zu berühren. Von uns gesehen zu werden! Er sehnt sich danach, dass wir seine Liebe spüren und annehmen und erwidern. Es klingt ein wenig so, als ob Gott manchmal daran verzweifelt, dass wir Menschen die Finsternis mehr lieben als das Licht:
„Das Licht ist in die Welt gekommen und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse.“ Die Menschen strafen sich selbst durch ihre bösen Taten. Das ist das Gericht. Menschen verurteilen sich selber zu einem Dasein ohne Licht und Liebe.
Liebe Gemeinde: Gott ist mit seiner Welt noch nicht ans Ziel gekommen.
Gott drängt sich nicht auf. Er lässt uns Freiheit. Wir alle sind schon mal gescheitert. Aber Gott will nicht, dass wir verloren gehen. In jedem Augenblick können wir von neuem beginnen und ihn suchen und die Wahrheit tun. Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.
Die an ihn glauben, haben das ewige LebenEs ist ein großer Unterschied, ob ich in dieser Welt allein unterwegs bin oder ob ich bei allem mit Gott verbunden bin. Eine Freundin erzählte mir, wie sie einmal beim Zeitunglesen aufstöhnte über die entsetzlichen Nachrichten – dann innehielt und mitfühlend fragte: „Und du, Gott, wie geht‘s dir damit?“
Was für ein Gebet!
Ich schaue hindurch, wie er mit all seinen Menschen mitleidet. Mit den jüdischen Geiseln in all den Monaten seit dem 7. Oktober 2023 und mit ihren Familien. Mit den Menschen in Gaza, den vielfältig Verratenen und Missbrauchten. Wie er in der Ukraine ist, wie er sich nach Putins Herz sehnt. Wie er im Ostkongo ist, bei den Opfern des Bürgerkrieges, bei den Frauen. Ich spüre, wie Gott selbst trauert und entsetzt ist über die Zustände. Das hat er nicht gewollt. Das tun Menschen. Die Menschen wollen die Finsternis. Und er hört nicht auf zu lieben. Das taucht alles in ein anderes Licht.
Dann sehe ich, wie eine Frau mutig widerspricht, wenn jemand sagt, die Flüchtlinge hier müssen weg. Ich lese, wie Grundschulkinder in einer Metrostation von Charkiw unterrichtet werden. Wie ein Palästinenser sich gegen Antisemitismus einsetzt. Wie Geiseln in die Freiheit zurückkehren. Wie Studierende in Vorpommern ehrenamtlich ein Demokratieprojekt mit Jugendlichen durchführen. Wie weltweit Menschen in der Not zusammenhalten. Gottes liebende Gegenwart.
Jeden Morgen empfinde ich Dankbarkeit für den neuen Tag, für jeden Atemzug, für das Leben. Trotz allem. Ich verstehe, dass ich dazu gerufen bin, selbst Licht zu sein. Mich anderen zuzuwenden. Freundlich zu reden über die anderen. Mitzuwirken, dass wir einander zuhören. Aufzustehen gegen den Hass. Dann ist es nicht mehr so wichtig, was mit mir ist. Weil ich in Gottes Hand bin. Gott wohnt in mir und ich in ihm. Das ist ewiges Leben, das Gott uns schenkt. Wir feiern es in jedem Gottesdienst. Wir sind nicht allein in dieser Welt. Amen.
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