Reminiscere / 2. Sonntag der Passionszeit (13. März 2022)
Pfarrerin Sophie Abendschein, Schwäbisch Hall [sophie.abendschein@elkw.de .]
Matthäus 26,36-46
IntentionDie Predigt sucht nach der Relevanz der Getsemane-Szene jenseits der Karwoche und richtet ihr Augenmerk dabei auf das Bittgebet Jesu. Das negative Beispiel der schlafenden Jünger fordert uns heraus, es mit wachen Sinnen anzuhören und wahrzunehmen. Wie lehrt es uns beten?
Liebe Gemeinde,
es ist Sonntagmorgen, wir sind frisch und ausgeschlafen – mehr oder weniger. Wir werden also jetzt auf keinen Fall einschlafen. Und das sollten wir auch nicht. Denn es gibt Erstaunliches zu entdecken. Wenn wir, anders als die erschöpften Jünger, wach bleiben, wenn wir nicht Augen und Ohren verschließen, sondern ganz beim betenden Jesus bleiben, werden wir mitgenommen in eine Gebetsschule der besonderen Art. Ich lese den Predigttext aus Matthäus 26,36-46:
„Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten, der hieß Gethsemane, und sprach zu den Jüngern: Setzt euch hierher, solange ich dorthin gehe und bete.
Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen.
Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wachet mit mir!
Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!
Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?
Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.
Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist’s nicht möglich, dass dieser Kelch an mir vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!
Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voller Schlaf.
Und er ließ sie und ging wieder hin und betete zum dritten Mal und redete abermals dieselben Worte.
Dann kam er zu den Jüngern und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn in die Hände der Sünder überantwortet wird.
Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät.“
Auf den ersten Blick kommt dieser Text zur Unzeit, viel zu früh. Die Szene in Getsemane gehört doch in die Karwoche, an den Gründonnerstagabend vielleicht. Auf den zweiten Blick verspricht aber genau das eine Chance zu sein. Denn in der Karwoche folgen die Ereignisse Schlag auf Schlag. Ist alles dicht, auch niederdrückend, eine schnelle Reise in die Tiefe, bevor die Stimmungskurve am Ostermorgen steil ansteigt.
Heute ist das anders. Wir sind noch recht am Anfang der Fastenwochen – und haben Zeit. Morgen ist nicht Karfreitag. Wir können im Garten Getsemane aus dem Ereignisschnellzug aussteigen, die Geschichte verlangsamen. Wirklich wahrnehmen, sehen, hören, was hier passiert – und einmal nicht fassungslos auf die schlafenden Jünger schauen, sondern auf Jesus.
Die Scheu vor der BitteIch schaue auf Jesus und sehe: Einen Jesus, der trauert. Einen Jesus, der zagt. Einen Jesus, der Todesangst hat. Einen Jesus, der verzweifelt einsam ist. „Bleibt hier und wacht mit mir,“ bittet er seine Jünger. Und an Gott gewandt: „Ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mit vorüber.“
Mich beeindruckt sein Mut. Jemanden um etwas zu bitten, ist oft gar nicht so leicht, wie es aussieht. Je wichtiger mir die Bitte ist, desto komplizierter kann es sein. Oft überlege ich mir genau, wen ich worum bitten kann. Ich will ja nicht aufdringlich sein. Ich will mir keine Blöße geben. Ich will niemanden in eine unangenehme Situation bringen. Ich will keine Absage riskieren. Jesus geht dieses Risiko ein – und verliert: Er überfordert seine Jünger. Sie halten diesen bedürftigen Jesus und seine Not nicht aus. Sie haben nicht die Kraft, fliehen in den Schlaf. Seine Bitte wird von den Jüngern nicht erfüllt.
Und Gott bitten? Auch hier kann mich eine seltsame Scheu befallen. Greift Gott überhaupt in den Lauf der Dinge ein? Und wenn ja – wie macht er das? Ist es ungehörig, Gott um etwas zu bitten, das schlicht aussichtslos ist? Ist mein Anliegen zu groß? Oder zu banal? Und was heißt es für mich und für Gott und für meinen Glauben, wenn das sehnlichst Erbetene nicht eintrifft? Verliere ich dann alles?
Hemmungslos bittenIch schaue auf den betenden Jesus. Er scheint all diese Skrupel nicht zu kennen. „Hemmungslos“ ist das Wort, das mir bei seinem Gebet in den Sinn kommt. Er gibt sich die Blöße. Er zeigt seine größte Angst ohne zu beschönigen, ohne sich zu verstellen. „Ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber,“ bittet Jesus. „Ist’s möglich, so lass mich verschont bleiben von Leid, Schmerzen und Tod.“ Größer – und vielleicht auch aussichtsloser? – geht es fast nicht.
Ich schaue auf den betenden Jesus und mir dämmert: Das alles ist ganz und gar nicht ungehörig. Im Gegenteil: Es gehört genau so. Von wem, wenn nicht von Gott, kann ich, Mensch, alles, alles, alles erbitten, was ich brauche, ersehne, erhoffe? Vor wem, wenn nicht vor Gott kann ich aufhören, meine übliche Rolle zu spielen? Aufhören, so zu tun, als hätte ich die Dinge selbst in der Hand, aufhören, so zu tun, als bräuchte ich niemanden?
In dieser Haltung bittet Jesus – und viele Menschen mit ihm: Kinder bitten, dass das kranke Haustier gesund wird. Verliebte Teenager (und nicht nur sie!) bitten, dass ihre Gefühle erwidert werden. Fahrschüler, dass sie die Prüfung bestehen, Eltern, dass ihren Kindern auf dem Schulweg nichts passiert, Kranke, dass die Therapie Heilung bringt. Mit Jesus bitten heißt hemmungslos bitten, ohne die Scheu enttäuscht zu werden, ohne Verstellen, voll Vertrauen.
Dein Wille gescheheDas klingt gut. Und trotzdem hat ein Teil von mir das Gefühl: Wenn ich so bitte, rase ich ungebremst auf einen Abgrund zu. Das kann es noch nicht gewesen sein mit dem Bitten. Der Blick auf den bittenden Jesus gibt mir Recht: Das war es noch nicht. „Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst“, schließt Jesus sein erstes Gebet. Und als er sich ein weiteres Mal an seinen Vater wendet, heißt es gar „Mein Vater, ist’s nicht möglich, dass dieser Kelch an mir vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!“ Jesus bittet hemmungslos – und tritt gleichzeitig einen Schritt zurück.
„Dein Wille geschehe.“ In jedem Vaterunser sprechen und beten wir diese Worte.
„Dein Wille geschehe“ bitten wir und hoffen dabei, dass sich das Gute, das Helle, das Leben durchsetzt. „Im Himmel“ ist das schon Wirklichkeit. „Auf Erden“ sehnen und beten wir es noch herbei. Auch gegen den Augenschein von militärischen Auseinandersetzungen, Pandemie-Erschöpfung und Alltagsrückschlägen.
Im Einklang mit Gottes Willen beten klingt gar nicht so schwer. All meine Bitten um Frieden, um Heilung, um Liebe, um Bewahrung müssten doch darunter fallen, oder?
Ich schaue auf Jesus. Seine Bitte um Verschonung wird nicht erfüllt. Und meine Gebete und die vieler anderer oft genug auch nicht. Obwohl sie doch vermeintlich unter Gottes Willen fallen. Obwohl wir doch das Beste wollten. Obwohl viel für uns auf dem Spiel steht. „Dein Wille geschehe“ schützt uns nicht vor Enttäuschung, Krankheit und Tod. „Dein Wille geschehe“ schützt mich nicht davor, dass meine Befürchtungen wahr werden, dass meine Zukunftsträume zerbrechen, dass ich bitter scheitere.
Ich schaue auf den betenden Jesus: Es geht ihm wie mir. Und mit ihm an meiner Seite kann ich das vielleicht aushalten: Dass mein guter Wille nicht immer deckungsgleich ist mit Gottes gutem Willen. Dass es „auf Erden“ noch nicht immer und überall „wie im Himmel“ ist. Dass „auf Erden“ noch nicht überall Gottes Wille geschieht. Oder dass ich noch nicht alles verstehe, dass mir das weh tut und Angst macht. Weil im Willen Gottes vorübergehend vielleicht auch Dunkles Platz hat, Schweres, Abgebrochenes, Schmerzendes, Unaufgelöstes.
VorübergehendVorübergehend. Der Kelch bleibt Jesus nicht erspart, aber Getsemane und Golgata sind nicht das Ende. Jesu Geschichte bleibt hier nicht stehen. Sie geht auf Ostern zu. Auf das Licht des Ostermorgens. Auf das leere Grab. Auf ungläubiges Staunen über den Lebenswillen Gottes. Und ich kann gewiss sein: Auch meine Geschichte bleibt nicht stehen. Auch meine dunkelsten Getsemanenächte sind nicht das Ende. Auch meine Geschichte geht auf Ostern zu, mit allem, was ich verloren habe, was nicht heil ist, was vorerst unvollendet bleibt. Im Licht von Ostern kann ich mit Jesus hemmungslos bitten und dann voller Vertrauen schließen: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ Amen.
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