Reminiscere / 2. Sonntag der Passionszeit (08. März 2020)
Pfarrer Jochen Schlenker, Stuttgart [jochen.schlenker@elk-wue.de]
Römer 5, 1-5 (6-11)
IntentionGlaube ist eine Kraft, die gerade in Krisenzeiten auch von Person zu Person spürbar wird. Dieses stellvertretende Glauben ist exemplarisch in einem Klinikgottesdienst wahrnehmbar.
Das Eingeständnis des PredigersEs ist ein Wagnis, vor Menschen für eine Sache einzustehen, die diese Menschen für bedeutungslos oder gar nichtig halten.
Es ist ein Wagnis hier vor Ihnen, liebe Gemeinde in der Klinik, für die Glaubenshoffnung einzutreten, die für einige von Ihnen vielleicht an Bedeutung verloren hat oder gar nichtig, nichtssagend geworden ist. Da könnte ich auch hoffnungslos scheitern.
Ein viel Leichteres ist es, denen von ihnen, die einen festen Glauben haben, von der Glaubenshoffnung zu predigen, denen, die durch die Gnade Gottes gnädig mit sich und anderen sein können und die Gottes Liebe im Herzen spüren. Denn es gibt etwas zum Anknüpfen, Verstärken, Ausmalen. Doch was ist mit denjenigen Menschen hier in der Klinik, deren Leben durch eine Krankheit so erschüttert wurde, dass auch der Glaube nichts an festem Fundament gibt? Die gnadenlos von Schmerzen und Komplikationen und Krisen geplagt werden und von Gottes Gnade nichts mehr hören können? Deren Herzen voller Angst und Ohnmacht sind und denen die Liebe Gottes allenfalls als ein sehr fernes Gefühl aus Kindheitstagen in Erinnerung ist?
Es ist ein Wagnis, vor Menschen für die Glaubenshoffnung einzustehen, die für diese Menschen bedeutungslos oder gar nichtig geworden ist.
Das Einstehen gegen die NichtigkeitZwei tot auf die Welt gekommene Frühchen waren es diese Woche in der Klinik. Der Klinikseelsorger, ein erfahrener Pfarrer, hat die Eltern begleitet, mit ihnen Abschied genommen und ihre vielen unbeantwortbaren Fragen und ihre große Verzweiflung an der Sinnlosigkeit ausgehalten. Und er hat bei den Aussegnungen passende Worte gefunden. Er ist dabei für die Hoffnung auf die Liebe Gottes eingestanden. Die Liebe Gottes umfängt die viel zu Kleinen nun und bewahrt sie und lässt sie in Ewigkeit bei Gott leben, hat er gesagt.
Jetzt will er nach Hause. Doch diese Begleitungen belasten ihn. Schon länger war er nicht mehr in der Klinikkapelle. Sie wurde neu gestaltet, sehr modern und schlicht, ja eigentlich kahl und kalt. Ein kleines Holzkreuz als einziger Schmuck. Er will die Verzweiflung der Eltern, die auch ihn gepackt hat, vor Gott ablegen. Doch er sitzt in der Kapelle und da ist nichts. Keiner, vor dem er etwas ablegen kann. Keiner, der ihm Geborgenheit gibt. Nichts, was für die Glaubenshoffnung einsteht. Beinahe bedrängt fühlt er sich durch dieses Nichts und diesen Niemand und verlässt fluchtartig die Kapelle. Er möchte fast laut schreien: Wo ist dieser Gott, für den ich hier tagtäglich einstehe?
PredigttextPaulus wagt es im heutigen Predigttext, für die Glaubenshoffnung einzustehen. Ich lese aus dem 5. Kapitel des Römerbriefes:
„Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus. Durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit, die Gott geben wird. Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“
Paulus als schlechter Seelsorger?Es gab Zeiten meines Lebens, in denen mir durch manche Bedrängnis die Glaubens-hoffnung nichtssagend geworden ist. Ich hätte da einen Paulus, der mir mit diesen Worten gekommen wäre, vielleicht nur schwer ertragen. Denn ich brauchte keine Ratschläge, keine Rezepte. Die bekomme ich für ein oder zwei Euro in jeder Illustrierten am Kiosk – und mein Horoskop gibt es noch gratis dazu.
Und beinahe als Rezept kommen mir die Worte des Paulus vor: Bedrängnis bringt Geduld, Geduld bringt Bewährung, Bewährung bringt Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden...
Ist es nicht auch Vertröstung? Denn schon von der Bedrängnis zur Geduld kann es ewig weit sein. Der Patientin, die noch immer keine eindeutige Diagnose hat für ihren Tumor, wird sicher von vielen gesagt, sie müsse jetzt halt zwei Tage Geduld haben. So lange brauchte die Gewebeuntersuchung. Sie sagt sich das selbst immer wieder zwei Tage und – noch schlimmer – zwei Nächte hindurch. Eine Ewigkeit, eine grauenvolle, so scheint es. Und wenn sie nach Jahren zurückblickt, erinnert sie sich immer noch mit Grauen an diese zwei Tage und Nächte und würde so gerne sagen: „Seit damals bin ich viel geduldiger und gelassener geworden. Ich bin dankbar für diese Erfahrung.“ So liest man das ja oft. Bei Paulus heißt es: Wir rühmen uns der Bedrängnis, weil sie Geduld bringt. Aber es stimmt für manche eben nicht.
Doch rücke ich Paulus, wenn ich ihn mir als Seelsorger in meinem Leben und hier an den Klinikbetten vorstelle, nicht zu Unrecht in ein schlechtes Licht?
Paulus als stellvertretend GlaubenderWenn ich Paulus einreihe in die Seelsorgerinnen und Seelsorger hier im Haus, die ehren- und hauptamtlichen, dann wird mir wieder klar, was er mit seinen Worten will: Er wagt es, einzustehen für die Glaubenshoffnung, die für manche Menschen bedeutungslos und nichtig geworden ist. Er tut es mit viel erklärenden Worten, hinter denen er fast nicht mehr spürbar ist.
Paulus steht ein für seine Glaubenshoffnung. Er stellt sie als Halt für uns zur Verfügung. Er sagt: Wir haben Frieden mit Gott. Wir stehen in seiner Gnade. Gott wird uns Herrlichkeit geben. Gott liebt uns – und ich spüre es in meinem Herzen.
Er macht mit vielen Worten das, was manche der Seelsorgerinnen und Seelsorger hier im Haus mit einem Holzkreuz tun. Sie geben den Patientinnen und Patienten ein Holz-kreuz zum Anfassen und sagen damit: „Da ist ein Halt. Da ist nicht Nichts. Das glaube ich. Dafür stehe ich ein. Das lasse ich Ihnen da, wenn ich wieder weggehe. Ich stehe stellvertretend für Sie für die Glaubenshoffnung ein.“
Paulus will in diesen Worten des Predigttextes stellvertretend für uns für die Glaubens-hoffnung einstehen. Er glaubt stellvertretend für mich.
Menschen, die für unseren Glauben einstehenGlaube ist etwas, was sich mir ursprünglich und immer wieder neu an der Glaubenshoffnung anderer Menschen erschließt. Da war am Anfang das Abendgebet meiner Mutter an meinem Kinderbett. Dann der Kirchgang mit meiner Patentante. Später der Jugendleiter, der die Glaubensfragen, die ich hatte, auszusprechen wagte. Und der Freund, der zu mir stand, als ich und andere einfach nicht mehr zu mir stehen wollten. Letztens die Kollegin, die mich vor einem schweren Gang segnete.
Ich könnte noch viele andere Menschen herholen. Sie könnten viele dazustellen. Und es wäre dann wohl ziemlich voll hier in der Kapelle. Voll mit Menschen, die für uns für die Glaubenshoffnung eingestanden sind, als diese uns bedeutungslos oder gar nichtig wurde. An diesen Glaubenshoffnungsmenschen habe ich mich festgehalten. Durch sie war nicht Nichts. Sie sind stellvertretend für mich für die Glaubenshoffnung eingestan-den, sie haben stellvertretend für mich geglaubt.
Diese alle und Paulus stehen ein für die Glaubenshoffnung, weil Jesus Christus dafür eingestanden ist. Bis zum schändlichen Tod am Kreuz stand er für einen gnädigen, liebenden, menschenfreundlichen Gott ein. Und er durchlitt das Nichts, den Tod, drei Tage. Doch er wurde nicht zuschanden. Er lebt, und wir werden auch leben.
In Bedrängnisse die Liebe spürenIch brauche diese Glaubenshoffnungsmenschen immer wieder – und ich brauche auch die alten Texte. Ich entdecke ihre Glaubenskraft. Paulus rühmt für uns die Hoffnung, und doch redet er die Bedrängnisse nicht klein. Denn er kennt sie wohl – die Bedrängnisse durch körperliche Gebrechen, berufliches Scheitern und staatliche Verfolgung. Mit ihm will ich es neu wagen zu glauben. Mit ihm kann ich es auch wagen, von den Bedrängnissen zu reden, zu klagen über das Nichts, das mich manchmal bedrängt.
Manchmal fühle ich mich gottverlassen und bin hoffnungslos. Dann muss ich oft lange an den alten Texten der Bibel kauen, bis ich die Hoffnung wieder schmecke. Dann muss ich durchaus am Glauben von Menschen fest rütteln, um mich daran festhalten zu können, bis ich wieder fester stehe in meiner Glaubenshoffnung.
Wie spürt man denn in dem allem die Liebe Gottes? Die Liebe eines mir nahestanden Menschen meiner Familie und meines Freundeskreises spüre ich gerade dann, wenn er oder sie es mit mir aushält und zu mir steht. Vor allen dann, wenn ich es gerade selbst mit mir nicht aushalte und nicht zu mir stehen kann. Die Liebe Gottes spüre ich, wenn ein Glaubenshoffnungsmensch meiner Verzweiflung und meiner Hilflosigkeit trotzt, mich und meine Bedrängnisse aushält und für die Glaubenshoffnung, für Gott, spürbar und immer wieder einsteht. Und durch solche Begegnungen geschieht es immer wieder: Die Liebe wird ausgegossen in unsere Herzen.
Amen.
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