Reformationsfest (31. Oktober 2024)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Reinhard Mayr, Fellbach [ramayr@outlook.de]

Römer 3, 21-28

Intention
Die Predigt soll unser Zutrauen in Gottes vergebende und annehmende Liebe stärken. Sie ist größer als all unser Zweifel und Unglaube, als all unsere Schuld und unser Versagen. Wir sind recht vor Gott – weil und nur weil er uns liebt! Das macht uns frei und befähigt uns, das auch unseren Mitmenschen zuzusprechen und sie spüren zu lassen.

Die Frohe Botschaft zum heutigen Reformationsfest steht im 3. Kapitel des Römerbriefs. Ich lese aus dem Kapitel 3 die Verse 21 -28:

„Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Den hat Gott für den Glauben hingestellt zur Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden in der Zeit der Geduld Gottes, um nun, in dieser Zeit, seine Gerechtigkeit zu erweisen, auf dass er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist aus dem Glauben an Jesus. Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens. So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“

Dieser Text, liebe Gemeinde, steht an der Wiege unserer evangelischen Kirche. Auf der verzweifelten Suche nach einem annehmenden, gnädigen Gott hat der Mönch und Theologieprofessor Martin Luther ihn in der Bibel wieder entdeckt. Er war ja, wie viele seiner Zeitgenossen, umgetrieben von der Angst, Gott nicht recht zu sein. Diese Sorge ging einher mit der Angst, dem Willen Gottes nicht gerecht zu werden und das eigene Leben zu verfehlen. Sie fürchteten, schreckliche Strafen und Höllenqualen erleiden zu müssen. Eine Seelenpein, die die damalige Kirche ihren Gläubigen letztlich nicht nehmen konnte. Zu sehr standen die Strafen und die zu erbringenden Bußleistungen im Vordergrund des Denkens. Das verdunkelte die Sicht auf Gottes Liebe und Vergebungsbereitschaft. Und trotz all der damals praktizierten Formen der Buße und Selbstbestrafung, trotz allen Fastens und aller Geldgaben (Ablass) und trotz eines entbehrungsreichen Lebens im Kloster blieb den Menschen eine tiefe Unsicherheit: „Genügt das alles wirklich? Mache ich es Gott wirklich recht? Ja, bin ich Gott überhaupt recht?“ Für viele Christen war das eine quälende, zutiefst verunsichernde Lebenssituation. Das ändert sich auch nicht grundlegend, wenn man heute vor allem danach fragt: Bin ich meinen Mitmenschen recht? Bin ich beliebt? Gehöre ich dazu oder werde ich gering geschätzt und ausgegrenzt?

„Bin ich also recht? Bin ich euch recht?“ sind Fragen, die unter die Haut gehen. Denn wir spüren: da geht es um mein Leben! Da geht es um die Frage, ob ich der oder die sein darf, die ich im tiefsten Innern bin. Und ob ich so, wie ich bin, eine Zukunft habe, vor allem in der Gemeinschaft mit andern. Stehen die Menschen, die für mich wichtig sind, zu mir, auch mit meinen Grenzen und Schwächen? „Bin ich Gott recht – bin ich euch recht“ sind Fragen, die sich meist in Situationen stellen, wo es kritisch geworden ist, wo die eigene Identität auf dem Spiel steht, wo nicht mehr ganz klar ist, ob ich überhaupt noch festen Boden unter den Füßen habe.
Die Frage stellt sich einem Jugendlichen, der von seiner langjährigen Clique ausgegrenzt wird, weil er nicht mehr zu ihnen zu passen scheint. Die Frage kennen Trauernde, die den Menschen an ihrer Seite vermissen, der dort über lange Zeit seinen Platz hatte. Trauernde erkennen sich plötzlich selber nicht mehr, weil der Tod des anderen auch ein Stück von ihnen, von ihrer Identität mit ins Grab genommen hat. Die Umwelt hat dafür oft wenig Verständnis. Sie erwartet, dass man rasch wieder normal reagiert und funktioniert. Aber genau das geht auf einmal nicht mehr. „Bin ich Gott noch recht – bin ich euch noch recht?“ So oder ähnlich fragen auch Menschen, die etwa durch einen Unfall oder eine plötzliche Erkrankung ihr gewohntes Leben nicht mehr weiterführen können. Oft spüren sie Befremdung und Ablehnung bis in den engsten Freundes- und Familienkreis hinein.

„Bin ich Gott recht – bin ich euch recht?“ Hinter dieser Frage steht natürlich auch die selbst-kritische Erkenntnis, dass niemand von uns immer recht ist. Wir wissen, dass wir vor Gott und unseren Nächsten und nicht zuletzt auch vor uns selber fehl gehen. Dass wir das Falsche tun und das Richtige unterlassen. Wir kennen unseren Geiz, unser zuweilen stures Beharren auf dem eigenen Standpunkt. Wir wissen, dass wir engstirnig sein können. Wir kennen die Momente das Scheitern, der Niederlage und das Zerbrechen von Lebenshoffnungen in unserem Leben. „Bin ich Gott recht – bin ich euch recht?“ Wenn wir nur auf unsere Leistungen oder auf unsere Moral sehen, müssen wir selbstkritisch sagen, dass wir das gewiss nicht, zumindest nicht immer sind.
Und doch ist es wichtig, dass es jemanden gibt, der diese Frage mit einem eindeutigen JA beantwortet, allen unserer Schattenseiten zum Trotz. Denn um als Mensch leben zu können, brauchen wir andere, die rückhaltlos zu uns stehen. Andere, die uns zeigen, dass wir wertvoll und geschätzt sind. Und dass wir eine Würde haben, die wir nicht laufend unter Beweis stellen müssen.
Diese bedrängende menschliche Frage, ob wir recht sind und ob unser Leben im tiefsten gewollt und geborgen ist, ob wir einen Halt und eine Zukunft haben, richtet sich aber immer auch über unsere gelebten menschlichen Beziehungen hinaus an Gott. An den Gott, der der verlässliche Ursprung, der tragende Grund und das letzte Ziel unseres Lebens sein will. Von ihm her erst können wir eine Antwort erwarten, die uns trägt, auch über das Scheitern und über die Abgründe unseres Lebens hinaus.

Das Bibelwort, das Luther wieder entdeckt hat, beantwortet diese Frage eindeutig und klar: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Durch diese Entdeckung Luthers war es ihm und vielen nach ihm wieder möglich geworden, zu Gott ganz neu Vertrauen zu fassen. Die bedrückende Angst und Unsicherheit vor dem unbarmherzigen, strengen Gott verloren sich. Denn „gerecht werden“ bedeutet ja nichts anderes als „angenommen und von Gott bejaht zu sein“. Dem Gott, den Jesus Christus verkündigt und gelebt hat, geht es nicht ums Verurteilen und Bestrafen, sondern ums Annehmen und Gerechtsprechen. Er möchte die Menschen nicht zugrunde richten, sondern zurecht richten und aufrichten. Die Frage, „Bin ich Gott recht?“ ist beantwortet: JA, ich bin es! Nicht weil das gedeckt wäre durch mein Handeln. Auch nicht durch meinen Glauben oder meine moralischen Leistungen. Da gilt ja vielmehr „denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen.“ Aber genau das hindert Gott nicht daran, zu uns JA zu sagen. In Jesus Christus zu uns JA zu sagen. Und in Ihm sind wir tatsächlich bedingungslos Angenommene! So erklärt Gott uns für gerecht!
Und es ist das große Verdienst der Reformation, diesen Gott und diese frohe Botschaft ohne Einschränkungen wieder entdeckt und den Menschen in angefochtener, in kritischer Lebenssituation zugesprochen zu haben. Am Reformationsfest feiern wir diese Entdeckung: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Einen Satz, den wir heute eigentlich den ganzen Tag vor uns hin summen oder beten, oder auf ein Plakat schreiben sollten. Oder in unser Herz! Denn er gilt uns, gerade dann, wenn wir selber an uns verzweifeln oder unter uns selber zu leiden haben. Dieser Satz gibt Rückhalt und festen Boden. Er gibt uns Würde und ermöglicht einen aufrechten Gang.
Dieser Satz ist alles andere als harmlos. Denn er gilt ja nicht nur uns persönlich! Diese Frohe Botschaft dürfen wir nicht an uns reißen wie ein billiges Schnäppchen aus dem religiösen Supermarkt und für uns behalten. „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Dieser wunderbare Satz gilt ja auch denen, die uns zuweilen zur Verzweiflung treiben oder uns das Leben schwermachen. Diesen Satz sollen wirklich alle hören. Alle, die schon zu uns kommen. Und alle, die weiterhin eingeladen sind. Denn die Gemeinden Jesu Christi sollen doch die Orte auf einer oft gnadenlosen Welt sein, wo Menschen genau das erfahren: „Ihr seid von Christus gefundene und angenommene Menschen!“. Hier soll ihnen zugesprochen werden: „Du bist uns recht.“ Hier sollen sie erleben: Wir nehmen dich so an, wie du bist. Für uns gehörst auch du zu denen, die Jesus Christus als Bruder und Schwester angenommen hat. AMEN



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