Reformationsfest (31. Oktober 2022)

Autorin / Autor:
Dekan Michael Werner, Ludwigsburg [Dekanatamt.Ludwigsburg@elkw.de]

Psalm 46, 1-12

IntentionWir feiern im Gottesdienst am Reformationstag Gottes Lebendigkeit und das Wort, das unser Glauben, Hoffen und Lieben trägt. Dazu hören wir Musik von Johann Sebastian Bach. Sie bringt dieses Wort zum Klingen und öffnet Zugänge zur Freiheit eines Christenmenschen.

Psalm 46
Gott ist unsre Zuversicht und Stärke,
eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.
Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge
und die Berge mitten ins Meer sänken,
wenngleich das Meer wütete und wallte
und von seinem Ungestüm die Berge einfielen. SELA.
Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben
mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind.
Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie fest bleiben;
Gott hilft ihr früh am Morgen.
Die Völker müssen verzagen und die Königreiche fallen,
das Erdreich muss vergehen, wenn er sich hören lässt.
Der HERR Zebaoth ist mit uns,
der Gott Jakobs ist unser Schutz. SELA.
Kommt her und schauet die Werke des HERRN,
der auf Erden solch ein Zerstören anrichtet,
der den Kriegen ein Ende macht in aller Welt,
der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt.
Seid stille und erkennet, dass ich Gott bin!
Ich will mich erheben unter den Völkern, ich will mich erheben auf Erden.
Der HERR Zebaoth ist mit uns,
der Gott Jakobs ist unser Schutz. SELA.

„Ein feste Burg?“ – Wir haben Sehnsucht„Ein feste Burg ist unser Gott, / ein gute Wehr und Waffen.“ Wie singen wir das? Triumphierend, protestierend oder eher sehnsuchtsvoll? Wir hören es jedenfalls gern. Erst recht in der Fassung, die Johann Sebastian Bach diesem Lied in seiner Kantate zum Reformationstag gegeben hat. Heute Abend darf es so klingen wie es in der Musik Bachs klingt. Eindrucksvoll. Berührend. Und da und dort auch mächtig und triumphierend. Mit Pauken und Trompeten, auch wenn die erst nach Bachs Tod in die Kantate hineingeraten sind.
Dabei singen wir die „Marseillaise der Reformation“, wie Heinrich Heine sie nennt, in unseren Gottesdiensten eher selten. Kein Wunder. Sie steht ja auch quer zu unserer Zeit und zu unserem Selbstbild. Als Triumphlied einer Evangelischen Kirche, der so gar nicht mehr nach Triumphieren zumute ist. Und auch nicht nach „Wehr und Waffen“. Das Militärische ist schon lange nicht mehr unser Ding. Geistliche Aufrüstung erst recht nicht. Schon gar nicht in Zeiten, in denen uns der Krieg so nahe gekommen ist. Dabei weichen Lieder und Choräle dem Bösen in unserer Welt nicht aus. Unisono singen sie dagegen an, wie wir das im 5. Satz „Und wenn die Welt voll Teufel wär“ vom Chor gehört haben. Nur ist uns eben das Heroische in unseren postheroischen Zeiten abhandengekommen. Das muss kein Fehler sein, schon gar nicht am Reformationstag. Wer sich allein aus Gnade, allein aus Glauben und allein durch Jesus Christus gerechtfertigt weiß, muss kein Held und auch keine Heldin sein.
Dafür haben wir Sehnsucht. Auch in unseren Kirchen. Sehnsucht mit vielen anderen Menschen nach Frieden und nach einem sicheren Ort. Sehnsucht nach einer Welt, die mit ihren multiplen Krisen irgendwann zurecht und dann auch wieder zu etwas mehr Ruhe kommt. Und in der am Ende das Recht und nicht die Gewalt die Oberhand behält. Wir haben als Kirche Sehnsucht nach Orten, an denen man uns noch zuhört und an denen wir Kirche für und mit anderen sein und vor allem bleiben können. Allen Veränderungen zum Trotz oder besser: durch alle Veränderungen hindurch, durch die wir gerade gehen. Manchmal mutig. Manchmal auch etwas müde und verzagt. Und trotzdem Kirche bleiben, weil „Wir sind es ja nicht, die da könnten die Kirche erhalten…“ (Martin Luther, WA 50, 476). Davon möchten wir als Kirche leben. In allem, was vor uns liegt und um uns herum geschieht. Mutig und zuversichtlich. In den kleineren und größeren Nöten, die uns betroffen haben. Nicht ängstlich besorgt und vor allem nicht ausschließlich mit uns selbst beschäftigt, sondern gelassen, getrost vom Evangelium der Liebe Gottes bewegt, das wir unter die Leute bringen. Wir möchten sichtbar bleiben als Kirche mitten im Dorf und als öffentliche Kirche in der Stadt, die sich einmischt und mitmischt, weil das gar nicht anders geht, wo wir es mit dem Gott zu tun bekommen, den das Lied und die Kantate besingen. „Fragst du, wer der ist? / Er heißt Jesus Christ, / der Herr Zebaoth, / und ist kein andrer Gott, / das Feld muss er behalten.“
Mit diesem Gott sind wir unterwegs und möchten es bleiben. Danach sehnen wir uns. Es lohnt sich, für einen Moment auf diese Sehnsucht zu blicken. Auch in unseren Sehnsuchtsbildern haben die letzten Jahre ihre Spuren hinterlassen. Die Pandemie. Die Erfahrungen des Ukrainekriegs. Die Sorge vor dem, was vielleicht noch kommt. Dazu die Wahrnehmung, was es heißt, eine kleiner werdende Kirche zu sein, in der vieles anders wird. Nicht nur dort sind uns selbstverständliche Sicherheiten abhandengekommen. Aber vielleicht kommen wir gerade so, mit unserer Sehnsucht dem Lied „Ein feste Burg“ und uns selbst eher auf die Spur als in Zeiten, die es ganz ungebrochen gesungen haben.

Dem Psalm als Sehnsuchtslied näher kommenGanz sicher kommen wir mit unserer Sehnsucht dem Psalm näher, dem das Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ folgt. Dieser Psalm ist tatsächlich ein Sehnsuchtslied für Menschen, die einen Ort suchen, an dem sie sicher wohnen können mitten in einer chaotischen Welt. Es ist ein Lied, das vertrauensvoll und „hoffnungsstur“ diesen rettenden Ort besingt, damit auch andere ihn finden:

„Gott ist unsre Zuversicht und Stärke,
eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.
Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge
und die Berge mitten ins Meer sänken (…)“

Gott ist unsere Zuversicht und Stärke. Das ist die Melodie dieses Lieds. Dabei bilden gerade die großen Nöte die Gegenmelodie dazu und machen das Lied eindringlich. Sie schildern eine aus den Fugen geratene Welt, in der das Oben und Unten ununterscheidbar geworden ist und die deshalb keinen Halt und keine Orientierung mehr bietet. Eine Welt der multiplen Krisen, die einander ablösen, sich überlagern und sich darin verstärken. Der feste Boden unter den Füssen wankt. Die Berge, die doch eigentlich unverrückbar feststehen, fallen in sich zusammen und versinken im Meer. Dafür steigt der Meeresspiegel – lange vor der von Menschen verursachten Klimakrise. Dazu kommt das Toben und Wanken der Völker, die ins Chaos zurückfallen, wenn Gott laut wird, so dass sich keiner seines bescheidenen Glücks mehr sicher sein kann. Bis, ja bis Gott schließlich selbst eingreift und den Kriegen und dem Zerstören gewaltsam ein Ende setzt, indem er die Rüstungsgüter dieser Welt ein für allemal zerstört. „Seid stille und erkennt, dass ich Gott bin! / der Höchste unter den Heiden, / der Höchste auf Erden.“ Was für eine Aussicht, was für eine Zeitenwende!

Es ist eine mythische Welt, die die Bilder dieses 46. Psalms malen. Und doch möchte man einer solchen Welt weder im Mythos noch in der uns umgebenden Wirklichkeit ausgeliefert sein. Es ist keine beschauliche und es ist erst recht keine krisenfeste Welt. Die Bilder entstammen der Erfahrung bedrohter Menschen. Und wenn man eine Vorstellung davon bekommen will, was es mit diesen Bildern auf sich hat, dann muss man denen zuhören, die im Krieg oder in einer der großen Katastrophen unserer Tage alles verloren haben. Die Familie aus Mariupol zum Beispiel, die vor wenigen Wochen beim Friedensgebet auf dem Ludwigsburger Marktplatz so eindrücklich von ihrer Odyssee aus der zerstörten Stadt bis zu uns erzählt hat. Oder die Menschen im Ahrtal, für die ihre Heimat auch nach mehr als einem Jahr noch nicht wieder zum sicheren Ort geworden ist.

Schutz bieten nicht MauernEinen solchen Ort aber haben die Beterinnen und Beter dieses Psalms mitten im Chaos, das sie umgibt, gefunden. Einen Ort, der tatsächlich nicht wankt. Der Schutz und Halt bietet mitten in einer haltlosen Welt. Dessen Wasser anders als die Chaoswasser am Anfang ruhig dahin fließen und Leben spenden. Wo sonst als in der Stadt, in der Gott selbst seine Wohnung hat, könnte das sein. Wo sonst könnte man in einer sich selbst gefährdenden Welt fein lustig bleiben. Alles andere wäre der Tanz auf dem Vulkan, den es in untergehenden Welten bekanntlich immer auch gibt. Was die Stadt Gottes aber mit ihren Brünnlein – eigentlich sind es die Ströme, die auch den Paradiesgarten Eden umgeben – zum Schutzort macht, das wiederholt dieser Psalm wie ein Mantra immer wieder: „Der HERR Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz.“ Das kann man nicht oft genug wiederholen. Daran kann man nicht oft genug erinnern: Schutz bieten nicht die Mauern und Abwehrschirme der Gottesstadt. Sicherheit bietet diese Stadt, weil Gott in ihr wohnt. Der Gott, der unsere Zuversicht und Stärke ist, unsere Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Der Gott, der bei uns wohnt in unseren sicheren und weniger sicheren Zeiten. Der unsere Hilfe ist nicht nur in unseren Nöten. Der Gott Jakobs ist unser Schutz.
Liebe Gemeinde, wer so betet, blickt über Krisen hinaus. Er oder sie weiß: Auch das noch so Böse und Bedrohliche ist begrenzt. Begrenzt nicht durch mich. Aber durch einen anderen. Durch den, der unsere Zuversicht und Stärke ist, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.
Das schafft unserem Glauben, Hoffen und Lieben einen weiten Horizont. Wenn das mehr ist als ein Mantra, wenn Gebete wie dieser Psalm mehr sind als eine fromme Beschwörung vergangener frommer Zeiten und auch mehr als eine fromme Weltflucht in eine noch frömmere Gottesstadt, wenn das immer noch trägt und unserem Glauben immer noch Halt gibt, dann sollten wir uns rasch, lieber heute als morgen, auf den Weg dorthin machen.
Gibt es diesen Ort und diese Stadt? Ludwigsburg ist nicht Jerusalem, liebe Gemeinde. Und auch die real existierende Gottesstadt zur Zeit dieses Psalms war kein Ort, der von Paradiesströmen umgeben allen Stürmen standgehalten hätte. Im Gegenteil: Israel vermag über Jerusalem noch andere Lieder zu singen. „An den Flüssen Babylons saßen wir und weinten“ singen später die Verschleppten, die die Zerstörung ihrer Stadt haben mit ansehen müssen. Und auch Martin Luther, der in diesem Psalm persönlichen Trost in ganz persönlich großen Nöten gefunden hat, mag als junger Mönch für einige Zeit in der Wartburg Schutz und Geborgenheit gefunden haben. Dauerhaften Schutz vor allen Krisen und Gefahren aber gibt es unter den Bedingungen von Raum und Zeit an keinem Ort. Das weiß der Psalm. Und wir wissen es auch.
Also vielleicht doch nur ein Traumbild, eine fromme Utopie, zu der sich unsere Seele vorübergehend aufschwingt, wenn sie ihre Flügel ausspannt – „weit über alle Lande, als flöge sie nach Haus“ – so wie heute Abend, begleitet von der Musik Johann Sebastian Bachs, die uns diesen Ort, der keiner ist, wenigstens mit ihren Tönen nahebringt? Nein, ganz bestimmt nicht. Wir hätten den Psalm und wir hätten das wiederentdeckte Evangelium der Reformation, das allein aus Glauben, allein durch das Wort, das unsere Freiheit und Gewissheit begründet, schlecht verstanden, wenn wir mit diesem Ort nicht rechnen würden. Denn er ist ja da. Er ist auch heute Abend da. Und wohnt mitten unter uns.

Sicher wohnen im Wort, das uns trägt„Es ist eine große Sache ein Christ zu sein und sein Leben verborgen zu haben. Nicht an einem Ort. Und auch nicht im Herzen, das ein Abgrund ist. Sondern in dem unsichtbaren Gott selbst, der nirgendwo in Erscheinung tritt als in dem dürftigen Zeichen des Worts und im Hören.“ So schreibt Martin Luther über den Ort, an dem unser Leben Grund und Halt findet, damit wir als Christenmenschen frei und unserer selbst gewiss werden.
Es ist kein anderer Ort als das Wort, das mich anspricht, noch ehe ich da bin, und mich aufrichtet, damit ich in seiner Nähe den aufrechten Gang übe: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.“ (Jes 43,1). Kein anderer Ort als das Wort, das meine Füße auf weiten Raum stellt, auch wenn das Äußere um mich herum eng wird. „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“ (Jes 54,10). Kein anderer Ort als das Wort, das uns als Kirche verspricht: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Mt 28,20).
Wir haben diesen Ort nicht anders als so. Nicht anders als in den Worten der Bibel, die mir immer wieder dann zur Heiligen Schrift wird, wo dieses Wort mich berührt und mir Räume erschließt, in denen wir angstfrei verschieden und zugleich sicher wohnen können. Nicht anders als in den Liedern und Chorälen und in der Musik, die dieses Wort nahe bringt. Und wenn wir Gottesdienst feiern, dann feiern wir dieses Wort, das uns frei macht, den Blick zu heben und über uns hinaussehen.
Es ist ein bewegliches Wort. Das ist seine Natur. Eine mobile Gottesstadt, die mitgeht. Sie ist nicht ortsgebunden, sondern bindet sich an Menschen. Das ist gut so. Sie geht auch dort mit, wo wir nicht ganz freiwillig auf dem Weg sind und uns verändern. Sie ist da, auch wenn das Oben und Unten nicht immer klar unterscheidbar scheinen. Wenn der Boden, auf dem wir stehen, fester sein dürfte. Und der gestirnte Himmel über uns klarer. Auch dann ist dieses Wort da. Und mit ihm der menschenfreundliche Gott, der uns in seiner Stadt beherbergt. Mehr muss man nicht wissen.
Deshalb: Gott ist unsere Zuversicht und Stärke. „Das Wort sie sollen lassen stahn / und kein Dank dazu haben. / Es ist bei uns wohl auf dem Plan / mit seinem Geist und Gaben […] das Reich muss uns doch bleiben.“ Amen.

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