Reformationsfest (31. Oktober 2017)
Kirchenrätin Dr. Christiane Kohler-Weiß
Matthäus 10, 26-33
Liebe Festtagsgemeinde,
endlich ist er da, der Reformationstag, an dem wir 500 Jahre Reformation feiern. Ein bewegtes Jahr liegt hinter uns. Wir haben neu entdeckt, was uns die Reformation gebracht hat, den Kirchen und der ganzen Gesellschaft. Wir haben uns mit den Schattenseiten der Reformation konfrontiert und manchmal geschämt für „unseren“ Luther. Wir haben nach ökumenischen Gemeinsamkeiten für die Zukunft gesucht, bewegende Konzerte gehört und Theaterstücke, Filme oder Musicals zu Luther erlebt. Wir haben über die christliche Freiheit nachgedacht und darüber, was es heute an unserer Kirche zu reformieren gibt. Und manchmal haben wir uns auch einfach gefreut, dass es uns gibt: uns, die Evangelischen, eine unverwechselbare Stimme im großen Chor all derer, die sich zu Jesus Christus bekennen und den dreieinigen Gott loben.
Das Hören auf Gottes Wort als evangelische Tugend
Heute sind wir in diesem Gottesdienst versammelt, um das zu tun, was die Reformation ausgelöst hat – auf Gottes Wort zu hören. Die Reformation lebte vom Lesen, Studieren und Predigen der Bibel. In den Worten der Heiligen Schrift begegnete Luther der gnädige Gott, nach dem er sein Leben lang so verzweifelt gesucht hatte. Dort begegnet den Menschen aller Zeiten der lebendige Gott. Das ist unsere Überzeugung als evangelische Kirche, und darum steht in evangelischen Gottesdiensten bis heute die Predigt im Zentrum. Zurecht!
Was für schöne Predigttexte für diesen Tag hätte es gegeben! Texte über Gottes Barmherzigkeit und Gnade, ermutigende Texte. An einem Tag wie heute wünschen wir uns Worte voller Wärme, Zuversicht, Liebe und wegweisender Kraft. Den Predigttext für den heutigen Tag hätte sich wohl niemand ausgesucht. Ich jedenfalls nicht. Die evangelische Tugend, auf das zu hören, was uns Jesus Christus sagen möchte, und nicht nur auf das, was wir selbst hören wollen, wird durch diesen Predigttext herausgefordert. Aber so bleiben wir als Kirche in Bewegung. Wenn wir uns einlassen auf zunächst fremde Worte, kann Gott uns auch in Frage stellen und weiterbringen. Der Predigttext für den heutigen Tag steht im Evangelium nach Matthäus, Kapitel 10, die Verse 26b bis 33:
„Denn es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird.
Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das verkündigt auf den Dächern.
Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet viel mehr den, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.
Verkauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater.
Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Haupt alle gezählt.
Darum fürchtet euch nicht; ihr seid kostbarer als viele Sperlinge.
Wer nun mich bekennt vor den Menschen, zu dem will ich mich auch bekennen vor meinem Vater im Himmel.
Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem Vater im Himmel.“
Das Geschenk der ReligionsfreiheitDiese Worte aus der Aussendungsrede Jesu sind an Menschen gerichtet, die anders als wir in Deutschland in einem feindlichen Umfeld leben. Jesus bereitet in dieser Rede seine Jüngerinnen und Jünger darauf vor, dass sie verfolgt und unterdrückt werden, ja manchmal sogar getötet. Ich bin ziemlich sicher, dass dieser Text eine tröstliche Kraft entfalten kann bei denen, die wegen ihres christlichen Glaubens an Leib und Leben bedroht sind: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können… bei euch sind sogar die Haare auf dem Haupt alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht…“
Wir sind in Deutschland in einer ganz anderen Situation. Wer sich bei uns als Christ outet, wird in der Regel respektiert, manchmal vielleicht belächelt, aber jedenfalls nicht verfolgt oder bedroht. Die Kirchen und der Staat arbeiten hierzulande vertrauensvoll zusammen, sie gewähren einander Freiheit bei der Wahrnehmung ihrer jeweiligen Aufgaben, und heute feiern sie sogar zusammen den 500. Reformationstag.
Der heutige Predigttext erinnert uns daran, dass diese friedliche und förderliche Umgebung für gläubige Menschen und ihre Religionsgemeinschaften nicht der Normalfall ist, sondern ein Glücksfall. Es war ein langer Weg bis dorthin. Religiös motivierte Verfolgung, ja sogar Religions- und Konfessionskriege gab es auch in Deutschland. Wir können nur dankbar sein, heute in einer Gesellschaft leben zu können, in der die Religionsfreiheit zu den Grundrechten jedes Menschen gehört. Und nach christlichem Verständnis erwächst aus jeder Freiheit, aus jeder Dankbarkeit eine Verpflichtung: Menschen, die aus Glaubensgründen verfolgt werden, brauchen unsere Gebete, unsere Unterstützung und oft auch Herberge bei uns. Wenn eine Folge des Reformationsjubiläums wäre, dass wir durch den Rückblick auf unsere 500-jährige Geschichte die Religionsfreiheit wieder neu wertschätzten und ein Gefühl der Solidarität mit Glaubensflüchtlingen entstünde, dann wäre schon das ein Gewinn.
Fürchtet euch nicht!Aber was hat uns dieser Text darüber hinaus zu sagen? Für den ganzen Predigttext zentral ist die rechte Unterscheidung zweier Arten von Furcht, die Furcht vor den Menschen und die Gottesfurcht. Im Blick auf die Menschen sagt Jesus zwei Mal in dem Predigttext – und wenn man den Vers davor hinzunimmt, sogar drei Mal – „Fürchtet euch nicht!“ Das sind ermutigende Worte, die Jesus nicht nur einfach so dahinsagt, sondern auch begründet. Eine der Begründungen, die Jesus anführt, lautet: Die Macht von Menschen ist begrenzt. Das ist die Pointe des Satzes: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können.“ Die Seele ist der Verfügung durch andere Menschen entzogen. Andere Menschen können uns beleidigen, enttäuschen, Gewalt antun und schweren Schaden zufügen, aber sie können nicht darüber bestimmen, wer wir sind. Über den Kern unserer Person hat kein anderer Mensch Macht. Macht über die Seele hat allein Gott. Darum, meint Jesus, brauchen wir andere Menschen nicht zu fürchten.
Die Kostbarkeit der SeeleVielleicht denken Sie jetzt: Das ist ja ein schwacher Trost, wenn einem Leib und Leben genommen wird. Aber es ist kein schwacher Trost, sich klar zu machen, dass der Mensch mehr ist als sein Leib und dass unser Leben hier auf Erden nicht das einzige ist, das wir haben. Von diesen Dingen zu reden, ist in einer materiellen Welt nicht leicht. Unser ganzes Sorgen und Bestreben kreist im Alltag ja um den Erwerb oder Erhalt von materiellem Wohlstand und von leiblicher Gesundheit bis ins hohe Alter. In diesen Sorgen sind wir alle gefangen, auch ich. Die Sorge um unseren Leib, unsere Gesundheit, unser Einkommen, unsere Alterssicherung und unseren Besitz macht sich in unser aller Leben so breit, dass wir ständig in der Gefahr sind, aus den Augen zu verlieren, worum es im Glauben geht: um die Seele oder, wie Luther sagt, „den inwendigen, geistlichen Menschen“ und das ewige Leben. Für Jesus war das klar, und für Luther war es auch klar.
Lange Zeit hat man dem Protestantismus seine Innerlichkeit vorgeworfen. Und es gab auch Zeiten, in denen sich die evangelische Theologie zu sehr auf das Seelenheil einzelner konzentriert hat und die Verantwortung für die Welt aus den Augen verlor. Es ist gut, dass wir in der evangelischen Kirche gelernt haben, das Leben zu lieben, Genüsse wert zu schätzen, die Sinnlichkeit zu loben, den Leib zu achten und materielle Nöte zu lindern, wo immer es geht. Aber vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, wieder mutig davon zu reden, was man nicht sehen und nicht kaufen kann: von der Seele, dem ewigen Leben und dem Himmel. Dafür braucht es die Kirchen, denn davon redet sonst niemand. Wenn eine Folge des Reformationsjubiläums wäre, dass wir durch die Beschäftigung mit der Theologie Martin Luthers die Kostbarkeit der Seele wieder neu wertschätzen und den inneren Menschen stärken, dann wäre das ein weiterer Gewinn des Jubiläumsjahres.
„Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen“Aber kommen wir noch einmal zurück auf die Unterscheidung zwischen der Furcht vor den Menschen und der Gottesfurcht. „Fürchtet nicht!“ sagt Jesus mit Blick auf die Menschen, aber im Hinblick auf Gott sagt er genauso eindringlich: „Fürchtet!“ Fürchtet den, der unbegrenzte Macht über euch hat, über Leib und Seele, über Leben und Tod. Beide Gefühle, beide Haltungen der Furcht werden mit demselben Wort bezeichnet, und sie sind doch so verschieden wie sie nur sein können. Die Furcht vor den Menschen ist eine Form der Angst, die Gottesfurcht eine Form der Liebe. Und beides ist so weit voneinander entfernt wie die Erde vom Himmel.
Es war Luthers Erfahrung, dass Angst zu Hass führt. Ja, Luther hasste den Gott, der mit seinen Geboten Unmögliches von ihm forderte und ihm mit Strafen drohte. Wer einen ängstigt, den kann man nicht lieben. Erst als die überwältigende Erfahrung der Liebe Gottes seine Angst dahinschmelzen ließ, konnte Luther wieder glauben und vertrauen, sich geborgen fühlen und selbst lieben. Aus der Erfahrung, geliebt zu werden, entsteht das, was in der Bibel Gottesfurcht heißt. Gottesfurcht bedeutet Dankbarkeit, Hochachtung, Respekt, Ehrfurcht, Achtsamkeit, Vertrauen – aber keinesfalls Angst. Luthers „reformatorische Wende“ lässt sich gerade als Abkehr von der Angst vor Gott hin zu rechter Gottesfurcht interpretieren. Für Luther gehören die Begriffe Gottesfurcht, Gottesliebe und Gottvertrauen untrennbar zusammen. Darum heißt es im Kleinen Katechismus in der Erklärung zum ersten Gebot: „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“
Auch im heutigen Predigttext verbindet Jesus die Aufforderung zur Gottesfurcht mit der Ermutigung zum Vertrauen auf Gott. Er sagt: Gott sorgt sich um seine Schöpfung, sogar um so unbedeutende Geschöpfe wie den Sperling. Und ihr Kinder Gottes seid doch kostbarer als viele Sperlinge. Euch kennt Gott so gut, dass er weiß, wie viel Haare auf eurem Kopf sind. „Darum fürchtet euch nicht!“
Gottesfurcht macht freiWo die Gottesfurcht stark ist, wird das Leben immer freier von Angst. Das ist das Faszinierende am Leben Martin Luthers. Wir haben wohl alle Bilder vor Augen, in denen Luther beim Reichstag in Worms vor dem Kaiser steht und sich weigert, seine Schriften zu widerrufen. Er hatte sicher Angst vor dem Kaiser, dem Bann, der Reichsacht, den Soldaten, dem drohenden Tod. Aber er ließ sich nicht von seiner Angst bestimmen, sondern von Gottes Wort. Diesem vertraute er so sehr, dass er seine Angst überwand, dass er frei wurde für das einzustehen, was er als Wahrheit erkannt hatte. Wenn eine Folge des Reformationsjubiläums wäre, dass wir durch die Beschäftigung mit der Bibel die befreiende Kraft wahrer Gottesfurcht erkennen und das Vertrauen in Gott täglich neu üben, dann wäre das der größte Gewinn des Jubiläumsjahres. Amen.
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