Reformationsfest (31. Oktober 2015)
Pfarrerin Monika Renninger, Stuttgart [monika.renninger@hospitalhof.de]
Matthäus 5, 1-10
Liebe Gemeinde!
Woran kann man das Glück im Leben messen? Kann man das überhaupt? Manche würden sagen: Ja, schon. Daran zum Beispiel, ob ich ein gutes Auskommen habe und glückliche Beziehungen. Wenn ich sehe, dass ich beruflich erfolgreich bin und gesellschaftlich anerkannt. Wenn ich gesund bin und meine Lebensumstände stabil und sicher sind.
Was aber, wenn man sich damit schwer tut, beruflich befriedigend Fuß zu fassen? Oder wenn das mit dem guten Auskommen immer zu wenig ist, gemessen an dem, was andere sich leisten können oder vorzuweisen haben? Oder wenn Menschen die Erfahrung machen müssen, dass Beziehungen scheitern, dass eine bisher heile Welt zu Bruch geht? Oder wenn man am eigenen Leib erfährt, dass Gesundheit und Leistungskraft an Grenzen stoßen können? Was ist dann mit dem Glück im Leben?
Gesellschaftsforscher sagen, es gäbe in unserer Zeit so etwas wie die „Tyrannei des gelingenden Lebens“. Menschen seien heute dazu verurteilt, die Macher ihres Glücks zu sein, und wem das nicht gelingt, wer dabei versagt, spricht das Urteil über sich:
selbst schuld.
Wer im Beruf nicht weiterkommt: selbst schuld.
Wer nicht fit und gesund ist: selbst schuld.
Wer ständig scheitert in seinen Beziehungen: selbst schuld.
Wer mit Familie nicht zurechtkommt: selbst schuld.
Und so weiter.
Schließlich gibt es ja genug Möglichkeiten, für sein Glück zu sorgen: Coaching in der Karriereplanung; Fitnessstudios; Beratungsbücher und -vorträge; nichts in sich hineinfressen, was sich zur Krankheit verformen könnte; sich nicht zu viel aufladen, damit der Rücken nicht so viele psychisch bedingten Schmerzsignale aussendet. Heutzutage kann man doch wirklich auf so etwas achten, das muss doch nicht mehr sein, dass das Glück schief geht. Selbst-Therapie, Selbst-Coaching, Selbst-Optimierung sind förderlich dafür, dass das Glück bei einem Platz nimmt, wenn es vorbei kommt.
In dieser „Tyrannei des gelingenden Lebens“ ist jede, jeder seines Glückes Schmied. Dieses Glück auf Erden wird in vielen Strophen besungen: Haus, Hof, Mann, Frau, Kind, Geld, Schönheit, Leistungskraft, Gewinn, Durchsetzungsvermögen, Wohlstand, Anerkennung.
Die Glück-SeligpreisungenEin ganz anderes Lied vom Glück hingegen singt der Psalm, den Jesus auf dem Berg in Galiläa anstimmt, seine Jüngerinnen und Jünger um sich, das Volk in Hörweite und großer Erwartung. „Glücklich sind …“ stimmt er in acht Strophen an. Luther wählt in seiner Übertragung des griechischen Wortes „makarios“ das Wort: Seligpreisungen. Selig oder glücklich: Beides gleich ersehnt und erhofft.
Wir könnten das Glück und die Seligkeit, auch wenn es noch altertümlicher klingt, einfach verdoppeln und sagen: Glückselig.
„Als Jesus das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:
Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich“ (Matthäus 5,1-10).
Jesus ist nicht der Erste, der so etwas sagtTräum weiter, Jesus. Die Auslegerinnen und Ausleger aller Jahrhunderte schütteln den Kopf und wundern sich über so viel Widersprüchlichkeit und Unmöglichkeit. Aber Jesus ist nicht der Erste, der so etwas sagt. Die Psalmbeter und die Propheten Israels vor ihm hatten dasselbe Gottvertrauen, das die Welt auf den Kopf stellt, und das aus denen, die sonst nicht gepriesen werden, Glückselige macht.
Makarios, glücklich, selig, aschrej: „Glücklich der Mensch, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen …“ (Psalm 1,1) – So beginnt das Gebetbuch der Bibel, der Psalter. Er beginnt mit einer Glück-Seligpreisung des Menschen, der sich an Gott hält. Einer Glück-Seligpreisung, der alles andere nachfolgt: Klage, Lob, Dank und Bitte.
Der Schriftsteller Arnold Stadler erläutert die Bedeutung dieses ersten Gebets-Atemzuges im Vorwort seiner Psalmenübertragung: „Das Wort „aschrej“ ist das erste Wort im Buch der Psalmen. Während fast alle anderen Psalmen eine Überschrift oder wenigstens einen Autorennamen vorausschicken, kommt das „aschrej“ daher, als ob es in einem Wort alles sagen wollte, als ob es selbst die Überschrift des ganzen Buches der Psalmen, ja der heiligen Schrift sei oder sein wolle. Es ist ein Wegweiser-Wort.“
Für die mit den Heiligen Schriften vertrauten Hörerinnen und Hörer Jesu werden in diesen Glück-Seligpreisungen auch Prophetenworte wie dieses anklingen: „Der Herr hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen …“ (Jesaja 61,1)
Für diejenigen, die später die Worte von der Glück-Seligkeit der Gotteskinder weitergeben, wird der Christus, der Sohn Gottes, als Verkörperung und Vorbild dieser Verheißung vor Augen sein: Jesus selbst, in seinem Mitleiden, seiner Barmherzigkeit und Sanftmut, seiner Proklamation der Gerechtigkeit Gottes, seinem Verfolgtwerden und Daran-nicht-Zerbrechen. Jesus in seinem Leiden und Sterben. Jesus in seiner Kraft der Auferstehung. Glück-Selig, wer sich mit Jesus preisen lässt für das, was sonst im Verborgenen bleibt.
Revolution, nicht MitleidOhne Mitleidston, vielmehr mit dem Gestus größter Selbstverständlichkeit und Souveränität werden sie für das gepriesen, was sie sind: Leidtragende, Sanftmütige, Barmherzige, Friedfertige, Nach-Gerechtigkeit-Hungernde.
Gottes Welt liegt ihnen zu Füßen, im Schoß, in den Händen: Das Reich Gottes strahlt auf in ihrem Tun und Sein, es kommt „nahe herbei“. In ihnen verkörpert sich das göttliche Da-Sein mitten unter den Menschen, auf Gottes Erde. Gott wird gegenwärtig, wo sie sind, wie sie sind, in dem, was sie tun.
Leben mit den Glück-SeligpreisungenDas ist eine revolutionäre Botschaft. Die glück-selig Gepriesenen verkörpern eine Umwertung des Geltenden. Über sie wird etwas gesagt, mit dem man nicht regieren kann, wie einst Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte.
Wenn man es aber doch könnte, wenigstens ein bisschen? So etwa:
Die geistlich Armen – von den materiell Armen ist an anderer Stelle die Rede, nicht hier – verlassen sich nicht darauf, dass sie sich und ihr Dasein, und was sie können und vermögen, aus sich selbst schaffen und darauf ihr Leben gründen. Sondern sie vertrauen den Grund und die Zukunft ihres Lebens ganz Gott an. Das könnte sich gesellschaftlich so auswirken: Menschen prägen unsere Gesellschaft, die ohne Angeberei zu ihrer Bedeutung und ohne Kraftmeierei im Blick auf ihr Können auskommen. Die um ihre Grenzen wissen und dennoch bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und zu handeln. Die über ihren Horizont hinaus schauen und zugleich sagen können, was sie prägt und was ihnen wichtig ist.
Die Leidtragenden, das wären diejenigen, die andere halten und auffangen können, wenn sie fallen, weil sie erleben, wie es ist, wenn man gehalten werden muss. Die nicht davonlaufen, wenn es schwierig wird. Die wissen, dass das Leben sich nicht nur in den Glücksmomenten erfüllt, sondern auch in den Zeiten, in denen man die Zerbrechlichkeit des Lebens spürt.
Die Sanftmütigen, wie dringend sie gebraucht werden! Mutig schaffen sie es, es anderen nicht mit gleichen Worten und gleicher Bosheit zurückzuzahlen. Sie halten die Spirale der wachsenden Eskalation von Unverständnis und Gewalt auf, indem sie sich in den Weg stellen und diese einfach unterbrechen. Wie viel Mut sie haben! Wie dringend wir sie brauchen.
Und was wären wir ohne diejenigen, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten? Wir würden aufgeben, satt und zufrieden mit dem, was wir erreicht haben. Wir würden träge werden und bequem. Wir würden uns nicht mehr beunruhigen lassen von dem, was noch nicht so ist, wie es nach Gottes Willen sein soll.
Wohl einer Gemeinschaft, einer Welt, in der es Menschen gibt, die Barmherzigkeit leben und lehren. Die wissen, dass man selbst so oft den Ansprüchen anderer nicht genügt, dass man Fehler macht und Sachen nur halbherzig, dass man etwas nicht zu Ende bringt und sich erschöpfen lässt von Widerständen. Barmherzig mit anderen kann nur sein, wer sich selbst als bedürftig nach Barmherzigkeit erkennt.
Die mit dem reinen Herzen, das sind nicht die fröhlichen Naiven, die nichts verstehen und sich auf nichts Kompliziertes einlassen. Sondern diejenigen, die anderen erst einmal Gutes zutrauen und nicht stets das Böse fürchten. Die mit ihrem Vertrauen vorauseilen und andere damit beschenken und vielleicht auch verändern. Denn wer einem mit offenem Gesicht und offenen Armen entgegenkommt, lässt einen anders weitergehen und weitersehen.
Wer wollte sagen, dass wir ohne die Friedfertigen sein können? Ohne die, die im richtigen Moment sagen: Nun lass mal gut sein, ist schon nicht so schlimm. Oder: Nun lass mal gut sein und lege deine Rüstung und deine Waffe nieder – Worte, Blicke, Gedanken, Fäuste. Oder: Nun lass mal gut sein, der Friede Gottes ist höher als deine Vernunft und dein Verstehen.
Und schließlich: Wer um der Gerechtigkeit willen angegriffen wird, soll wissen: Wir sind stolz auf ihn, auf sie. Weil er oder sie auf dem Schulhof oder in der U-Bahn oder im Büro nicht zurückweicht, wenn andere missachtet oder beschimpft werden. Weil er oder sie sich etwas zu sagen traut, wo wir lieber den Mund halten. Weil er oder sie keine Angst davor hat, ihr persönlicher Erfolg könnte daran Schaden nehmen.
Glück-selig sind … – Sind wir, wenn wir uns das zusprechen lassen. Sind wir, wenn wir uns wiederfinden können in den so Besungenen. Sind wir, wenn wir uns an das Jesus-Lied von der Glück-Seligkeit erinnern mitten in dem, was uns umtreibt, und vielleicht auch forttreibt von dem, was darin beschrieben ist.
Makarios. Glück-Selig. Aschrej. Und das alles geschenkt, aus lauter Güte und Gnade. Damit holt die Beterin, der Beter der Bibel Atem, und darauf antworten wir mit dem letzten Wort des Psalters: Halleluja. Lobet Gott!
Amen.
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