Reformationsfest (04. November 2012)
Prälat i.R. Paul Dieterich, Weilheim a.d. Teck [Paul.Dieterich-online.de]
Galater 5, 1-6
Liebe Gemeinde,
„O Freiheit! Silberton dem Ohre!
Licht dem Verstand, und hohes Glück zu denken!
Dem Herzen groß Gefühl…“
Der beseelte Dichter mit dem unpassenden Namen Klopstock hat schon im 18. Jahrhundert die Sehnsucht nach Freiheit pathetisch beschworen. Wie viele Menschen von den Schwaben Schubart und Schiller bis zu Sophie und Hans Scholl und den Bürgerrechtlern von Leipzig und Dresden vor 25 Jahren haben in Befreiungsbewegungen die Fahne der Freiheit hoch gehalten. Wie viele haben ihr Leben für sie eingesetzt bis hin in die jüngste Gegenwart. Wer kennt diese Sehnsucht nicht? Sie gehört wohl zum Kostbarsten in uns.
Aber was meinen wir, wenn wir sagen, wir wollten frei sein? Ich will selbst entscheiden, wie ich lebe! Ja! Aber bin ich dann auch einer, mit dem man in Gemeinschaft leben kann? In der Ehe? Als Vater? Als Kollege im Geschäft?
Ich will frei meine Kräfte entfalten im offenen Wettbewerb mit anderen. Ja, aber wie schnell wird aus dieser Freiheit die Freiheit, dem anderen die Ellbogen in die Rippen zu stoßen. Oder die Freiheit, den Schwächeren seelenruhig vor die Hunde gehen zu lassen?
Frei wollen wir sein im Denken und Reden. Wir stehen ein für die Freiheit der Kunst. Was aber, wenn einer bewusst Öl ins Feuer der Konflikte gießt und jede Verantwortung ablehnt für das, was an Gewaltausbrüchen daraus wird? Was kümmern mich Fanatiker? Und was Tote, die bei ihren Exzessen auf der Strecke bleiben?
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit. So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen“, schreibt Paulus. Und wir spüren in diesen Worten den Herzton des Übersetzers, Martin Luther. Die Reformation war eine der wirksamsten Befreiungsbewegungen der Geschichte. Nicht umsonst verstand der Mönch Martin seinen Namen „Luther“ als die deutsche Fassung des Wortes „eleutherius“, der Befreite.
Aber was sagt schon das Allerweltswort „Freiheit“? Es ist wie eine abgegriffene Münze, deren Prägung verwaschen und vieldeutig ist.
Wider die Zwanghaftigkeit
Die Christen in Galatien hatten vor kurzem noch für die verschiedensten Götter gekultet. Sie hatten zwanghaft gehofft, durch ihr Kulten vor den Altären ihrer Götter sich deren Kräfte im Leben zunutze zu machen.
Nun waren sie christusgläubig geworden. Sie hatten diese Hinwendung zu Jesus Christus als enorme Befreiung erlebt. Als Heimkehr zu dem Gott, der seine Kinder bedingungslos liebt, der ihnen ihre Unzulänglichkeiten, auch ihre bösen Fehlleistungen vergibt. Der in Jesus Christus sein eigenes Leben hingibt, damit es in ihnen leben, ihrem bedrohten und allzu dürftigen Leben aufhelfen kann. Und das über die Todesgrenze hinaus zum ewigen Leben. Was für eine Befreiung!
Aber sollten wir dann nicht auch Juden werden, uns beschneiden lassen, das Gesetz der Juden halten? So haben sie sich gefragt. Schließlich hat doch Gott selbst dem Abraham die Beschneidung als sein Bundeszeichen geboten. Und die 620 Ge- und Verbote eines gesetzestreuen jüdischen Lebens, die Speisegebote, Reinheitsgesetze, Sabbatbestimmungen haben sie sich nicht heraus entwickelt aus der Weisung, die Gott dem Mose gegeben hat? Der Gott der Väter ist doch der Vater Jesu Christi. Sollten wir uns nicht unter „das gesegnete Joch“ dieser Gesetze begeben, um ihm gerecht zu werden?
Keinesfalls! sagt Paulus. Ihr würdet die Freiheit verlieren, zu der euch Christus befreit hat! Ja, ihr würdet ihn selbst verlieren!
Warum? Nicht weil Paulus die Lebensweise gesetzestreuer Juden missachten würde. Aber weil er spürt: Wenn diese neubekehrten Christen die gesetzliche Lebensweise der Juden annehmen, dann landen sie ganz schnell in jener zwanghaften Haltung, in der einer Gottes Liebe mit seinem Gehorsam gegen diese Gesetze „verdienen“ will. Heraus kommt ein Sklavengehorsam aus Furcht vor Strafe und Hoffnung auf Lohn. Sie landen auf der Schaukel, die zwischen Angst und Depression einerseits und Hochmut und Verachtung der „Sünder“ andererseits auf- und niedergeht. Wer sich Gottes Gnade durch „gute Werke“ verdienen will, der ist in allem, was er anstellt, für den Rest seines Lebens damit beschäftigt, sich Existenzberechtigungsnachweise zu verdienen. Und wenn er armen Leuten etwas Gutes tut, werden diese bald spüren, dass er an ihnen nur Punkte sammelt. Diese Art „Nächstenliebe“ ist karitativ bemäntelter Egoismus eines Menschen, der sich selbst als selbstlos profiliert. Was für ein Krampf, wenn ein Mensch sich in diese Haltung verstrickt. Und was für ein Jammer, wenn er dieses Gefängnis auch noch mit dem Namen Jesu tüncht.
Nein! „Zur Freiheit hat euch Christus befreit. So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das knechtende Joch der Knechtschaft auflegen!“
Vielleicht sagen Sie nun: Das sind die Probleme der religiösen Leute, die es vor allem dieser höheren Macht, die sie Gott nennen, recht machen wollen. Ich bin „religiös unmusikalisch“. Wie gut, dass ich von diesen Krämpfen frei bin.
Wirklich? Schiller sagt: „Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten.“ Erlauben Sie, dass ich drei Variationen einer ganz unreligiösen Lebenshaltung aufzeige. Prüfen Sie selbst, ob Sie sich darin wiederfinden.
Drei Lebenshaltungen
Die erste: Fast alle von uns sind von früher Jugend an bestimmt von der Haltung: Ich bin so viel wert, wie ich leiste. Unsere Eltern haben uns das vermittelt, oft ohne große Worte. Das überträgt sich. In der Schule gab es gute Noten für gute Leistungen. Im Geschäft macht der Karriere, der am meisten bringt. Wie sollte es auch anders gehen. Im Sport sowieso. Olympische Spiele sind Weltfestivals der Leistungsmentalität. Wehe der Schwimmerin, der es zur Medaille nicht reicht. Das Innenministerium gerät in die Krise, wenn unsere Sportler nur halb so viele Medaillen geholt haben als erwartet. Und bei der Bundesliga: Jedes Kind weiß, was der neue Bayern-Stürmer gekostet hat. Schande über ihn, wenn er das Tor nicht trifft. Er ist so viel wert, wie er auf dem Spielfeld bringt.
Bis in die Familie hinein recht diese Mentalität: Der Schulabbrecher-Sohn ist ein Tagenichts. Ehepartner sagen von einander: „Er bringt‘s nicht. Sie bringt‘s nicht. Wir haben uns getäuscht. Wir müssen auseinander.“ Unreligiöse Leistungsreligion, die uns am Wickel hat. „Es ist in allen.“ Schon in der Vorschule. Und noch im Altenheim quälen Leute sich selbst und untereinander damit. Wer sich in diesem Schema bewährt, ist anerkannt. Wer versagt, hat Glück, wenn er noch ein wenig bemitleidet wird.
Aussteigen aus diesem verrückten System? Paulus und Luther sagen: Ja! Steig aus! Jesus Christus hat dich aus dieser Tretmühle längst herausgenommen. Was für ein Jammer, wenn du dorthin zurücktaumelst! Als hättest du das nötig! Du musst dir deine Existenzberechtigung nicht mehr verdienen. Mit nichts! Du lebst von der grundlosen Liebe Gottes. Die gilt. Und sie ist dadurch besiegelt, dass Gott sich selbst in Jesus Christus für dich total einsetzt. Lebe aus dieser Liebe. Dann wird dein Leben kreativ durch diese Liebe. Und du wirst aufrecht geradeaus gehen, du verlierst den schiefen Blick, der um Anerkennung bettelt. Dann wirst du auch die Kräfte, die Gottes Liebe in dir weckt, mit Vergnügen dafür einsetzen, dass andere Menschen, Schwächere, sich an ihrem Leben freuen können. In der Familie, in der Freundschaft, in der Schule, im Geschäft, im Verein. Und, wer weiß, in dieser oder jener Aktion, die über unsere engen Grenzen weit hinausgeht. Die Liebeskreativität Gottes befreit dich zum Leben.
Eine zweite Variation. Mancher sagt: „Ich will meinem Leben doch einen Sinn geben, indem ich mich selbst verwirkliche.“ Dich selbst verwirklichen? Kannst du das? Musst du das? Bist du nicht wirklich? Hat Gott dich unwirklich geschaffen, so dass du nachbessern, wenigstens teilweise dich neu erschaffen musst? Was für ein Krampf, sagt Luther. Du bist wirklich. Lebe unter dieser Voraussetzung. Dann wirst du leben. Solange du dich selbst erschaffen, dich selbst verwirklichen willst, kommst du nie auf einen grünen Zweig.
Und können wir unserem Leben einen Sinn geben? Müssen, sollen wir das? Wenn wir es versuchen, wann kommt der Augenblick, in dem wir feststellen können: „Ja, jetzt habe ich’s erreicht.“ Nein! Lass dein Herumbasteln am Sinn deines Lebens. Gott kann uns brauchen, wie wir sind. Mit all unseren Macken und Schwachstellen. Er weiß, wozu er unser Leben gut sein lässt. Es landet nicht auf der Müllhalde der Geschichte. Es wird fruchtbar, weil er es brauchen kann. Sogar noch unsere Irrwege werden durch ihn fruchtbar werden. Wie frei werden wir, wenn wir das wahr sein lassen.
Eine dritte, reichlich abstruse Variation des Leistungskultes, die aber umso verbreiteter ist: Sehr viele von uns rechtfertigen ihre Existenz mit dem, was sie erwerben. Besonders in der Zeit vor Weihnachten. Wenn der große Kaufrausch über uns kommt und die Fernsehsprecher die gute Nachricht verkünden, dass die Kassen weihnachtlich klingeln. Nichts gegen Konsum. Aber was von dem, das wir im Konsumzwang kaufen, brauchen wir zum Leben? Was ist purer Prestigekonsum? Dass wir uns mit Dingen umgeben, die wir nur deswegen anschaffen, weil wir meinen, einer wie ich muss das schon haben, der Nachbar hat‘s ja auch. Sollten wir heute einmal in einer stillen Stunde durchrechnen, was von dem, was wir kaufen wollten oder gekauft haben, wir zum Leben wirklich brauchen und was wir doch bei Licht besehen gar nicht brauchen können? Christus befreit uns vom Prestigekonsum. Er befreit uns zum einfachen Leben. Miteinander, füreinander, so dass wir vielen zum Leben helfen!
„O Freiheit! Silberton dem Ohre!
Licht dem Verstand, und hohes Glück zu denken!
Dem Herzen groß Gefühl…“
Amen.
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