Quasimodogeniti (24. April 2022)
Kolosser 2, 12–15
IntentionDie Mächte sind vom Thron gestoßen! Der Kolosserbrief zeigt Ostern als kosmisches Ereignis. Der Auferstandene befreit von Lebensängsten. Als Sieger über die Mächte und Gewalten wird er auch die Machthaber und Gewalttäter richten.
Es war einmalEs war einmal… So beginnen alle guten Märchen und auch dieses, das sie vielleicht schnell wiedererkennen. Das macht nichts, denn gute Märchen kann man auch mehrmals hören. Also:
Es war einmal in einem fernen Lande ein Kaiser, der hatte alles, was sich Menschen nur wünschen können. Einen Palast, Schätze aus Gold, Minister und Beamte und eine riesige Garderobe; denn der Kaiser liebte es, sich jeden Tag neu und prächtig einzukleiden.
Diese Vorliebe wussten zwei Betrüger auszunutzen: Sie gaben sich als Weber und Schneider aus und priesen dem König ihre Künste an. Sie versprachen ihm, die schönsten Kleider zu nähen, die zugleich eine magische Eigenschaft besitzen sollten. Sie wären nämlich unsichtbar für alle am Hofe, die zu ihrem Amte nicht taugten. Der Kaiser war begeistert über die Aussicht, unter seinen Beamten die dummen von den klugen unterscheiden zu können und befahl, die Kleider anzufertigen.
Die Betrüger setzten sich an zwei riesige Webstühle und begannen zu spinnen, aber ohne jeden Stoff. Sie verlangten Seide und Gold für ihre Arbeit, schafften aber alles für sich beiseite und arbeiteten mit nichts als Luft an ihren Webstühlen. Der Kaiser sandte zwischendurch seinen höchsten Minister zu den Betrügern. Doch als er in den Saal mit den Webstühlen kam, riss er die Augen auf und dachte bei sich: „Du gute Güte, ich sehe ja gar nichts! Heißt das, ich bin dumm und unnütz für mein Amt? Das darf niemand erfahren!“ Er ließ sich von den Betrügern weitschweifig den prächtigen Stoff beschreiben und richtete dem Kaiser aus, alles ginge zur vollen Zufriedenheit voran, und er könne sich auf seine neuen Kleider freuen.
Mit der Zeit ging es immer mehr Menschen am Hof ebenso. Sie konnten nichts von dem versprochenen Seidenstoff sehen und bekamen es deshalb mit der Angst zu tun. Aus Furcht um ihre Stellung am Hof schwärmten sie dem Kaiser von den großartigen Kleidern vor und ermunterten ihn, sie bei dem anstehenden Fest dem ganzen Volk vorzuführen.
Am Tag des Festes war es Zeit für die Anprobe. Der Kaiser selbst erschrak, als er merkte, dass er nichts von den Kleidern sah, die ihm alle Menschen an seinem Hof in den schillerndsten Farben geschildert hatten. Auch er fürchtete sich, als unfähig enttarnt zu werden und ließ sich deshalb mit nichts als Luft und schönen Worten der Betrüger einkleiden.
Beim Festumzug schritt der Kaiser würdig und von seinem Gefolge umgeben, aber nur in seiner Unterwäsche über die große Hauptstraße. Da zeigte plötzlich ein Kind aus der Menge auf den Kaiser und rief: „Der Kaiser ist ja nackt!“ Da war der Bann gebrochen und das ganze Volk lachte und hielt sich die Bäuche über den Kaiser und seine neuen Kleider.
Im Theater der MachtAm Ende der Geschichte ist das Kind der große Held, weil dieses Kind sich nicht täuschen lässt vom Theater der Macht, von den Verbeugungen und Demutsgesten der Erwachsenen. Das Kind sieht das Lächerliche an der Situation, und es tut das, was man eben tut, wenn man etwas Lächerliches sieht: Es lacht. Und innerlich lachen wir natürlich gerne mit, weil wir uns schlauer fühlen als der Kaiser und die Höflinge und die Minister. Aber vielleicht mischt sich in unser Lachen auch ein wenig Erleichterung – darüber, dass wir die Geschichte nur hören und nicht darin mitspielen müssen. Denn vielleicht sind wir uns nicht ganz so sicher, welche Rolle wir spielen würden; ob uns das nicht auch passieren würde, mitzumachen bei dieser lächerlichen Aufführung der Macht, in der vor allem mit der Angst gespielt wird: Angst davor, ausgeschlossen zu werden und nicht mehr dazuzugehören zum inneren Kreis; Angst davor, seine Position und sein Ansehen zu verlieren; Angst davor, entlarvt zu werden; Angst davor, dass die eigenen Selbstzweifel Wirklichkeit werden und alle sehen, dass ich nicht bin, wofür mich alle halten.
Wenn wir ehrlich sind: Wer hat nicht schon mitgespielt im Theater der Macht? Wer hat nicht schon den Mund gehalten, wenn der Chef eine Kollegin runtergemacht hat? Wer hat nicht schon darauf verzichtet, Schwache zu verteidigen, weil man lieber zu den Starken gehört? Wer hat nicht schon mitgelästert, weil es das eigene Selbstgefühl so ungemein hebt? Wer hat nicht schon klug geschmeichelt, nicht so sehr, weil es der Wahrheit entspricht, sondern weil ich mir davon etwas verspreche?
Dort wo Macht ins Spiel kommt, hat es die Wahrheit nicht immer leicht.
Von der Macht und der Wahrheit spricht auch unser Predigttext für diesen Sonntag, er steht in Kolosser 2, 12–15:
„Mit ihm seid ihr begraben worden in der Taufe; mit ihm seid ihr auch auferweckt durch den Glauben aus der Kraft Gottes, der ihn auferweckt hat von den Toten. Und Gott hat euch mit ihm lebendig gemacht, die ihr tot wart in den Sünden und in der Unbeschnittenheit eures Fleisches, und hat uns vergeben alle Sünden. Er hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn aufgehoben und an das Kreuz geheftet. Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und über sie triumphiert in Christus.“
Christus ist Sieger»Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und über sie triumphiert in Christus.“ Entkleidete Mächte – das klingt ein wenig nach dem nackten Kaiser im Märchen. Und tatsächlich, so weit sind diese beiden Texte gar nicht voneinander entfernt. In beiden geht es um Mächte und Gewalten.
Im Märchen ist die Macht der eitle Kaiser, um den herum der ganze Hof einen Eiertanz aufführt. Bei den Christen in Kolossä ging es um himmlische Mächte, um kosmische Kräfte, vor denen die Menschen sich fürchteten. Sie glaubten daran, dass man mit den Elementen Feuer-Erde-Wasser-Luft in Einklang leben müsste, sonst drohten Schicksalsschläge. Es klingt ein wenig abergläubisch, aber die Angst vor den Mächten des Kosmos ist für die Christen damals nicht weniger real als unsere Angst davor, krank zu werden, einen geliebten Menschen zu verlieren, beruflich zu scheitern oder einsam zu sein. Und weil die Christen sich vor den Mächten und Gewalten fürchten, versuchen sie, sie zu besänftigen. Dadurch, dass sie auf ihre Ernährung achten, dass sie Fleisch und unreine Pflanzen nicht essen, dass sie häufig fasten, dass sie sich am Lauf der Sterne und des Mondes ausrichten, dass sie neben Gott auch Engelwesen verehren. Aus Angst vor der Macht der himmlischen Kräfte werden die Christen unfrei, sie zwingen sich selbst einen Lebensstil auf, in dem sich alles um die Selbstdisziplin dreht, nach dem Motto: Wer sich selbst unter Kontrolle hat, muss die unkontrollierbaren Lebensmächte nicht fürchten – oder wenigstens nicht so sehr. Wer seine Ernährung, sein Zeitmanagement, sein Verhalten diszipliniert, der hat Chancen, den Unwägbarkeiten des Lebens zu entgehen.
Die Antwort des Kolosserbriefs ist eindeutig: Wer so lebt, der hat Ostern verpasst. Wer sich so einengen lässt und seine Freiheit der Furcht unterwirft vor dem, was kommen kann im Leben, der hat noch nicht wirklich verstanden, was die Auferstehung Jesu bedeutet. Denn die Auferstehung ist nicht irgendein erstaunliches Wunder, sie ist auch mehr als die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Die Auferstehung ist ein Machtbeweis: Gott hat die Macht auf Erden, niemand sonst, kein Kaiser und kein König. Gott hat die Macht, keine Engel und keine Elemente, keine Krankheit und keine Konstellation der Sterne, kein Schicksal und kein Chef.
„Jesus Christus ist Sieger!“ So hat es der Theologe Johann Christoph Blumhardt gesagt, und er hat damit gemeint: Was auch immer in dieser Welt groß und mächtig erscheint, Christus ist größer. Was auch immer uns zu überwältigen droht, Christus ist stärker.
Die Osterbotschaft und der KriegWenn wir in diesen Tagen in Richtung Ukraine blicken, stellt sich allerdings die Frage: Gilt Ostern auch dort? Was ist mit den entkleideten Mächten und Gewalten, wenn unschuldige Menschen getötet und Kinder vertrieben werden? Wo ist der Sieger Christus in Mariupol und Kiew?
Mit einem kindlichen Lachen über die entkleideten Mächte ist es da nicht getan.
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Da sind Mächte und Gewalten am Werk, die nicht nur Angst machen, sondern Zerstörung anrichten. Da sind Menschen an der Macht, die anderen ihren Willen aufzuzwingen versuchen mit Rücksichtslosigkeit und Gewalt. Was hilft da unsere christliche Osterbotschaft? Was hilft da das Wort vom Auferstandenen? Trotz Ostern gibt es Krieg. Trotz der Auferstehung leiden Menschen und sterben Menschen.
Doch wenn es wahr ist, was der Kolosserbrief sagt; wenn Gott wirklich die letzte Macht in seiner Hand hat und keiner sonst, dann müssen die Gewalttäter sich hüten, denn ihre Macht ist nur eine eingebildete Macht. Wenn Christus Sieger ist, dann werden alle Tyrannen fallen, früher oder später. Wir haben es in unserer eigenen Geschichte erlebt: Ein Tyrann, der von einem ewigen Reich deutscher Nation fantasiert hat – nach zwölf Jahren an der Macht lag er tot in einem Bunker inmitten einer verwüsteten Stadt. Größenwahn rächt sich, und die Ungerechtigkeit, die auf dem Weg geschieht, bleibt nicht ungestraft.
Der Christus, an den wir glauben, ist „am dritten Tage auferstanden von den Toten; aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten.“ Er wird richten als einer, der selbst als Opfer am Kreuz hing. Er wird Recht sprechen als einer, dem selbst Unrecht geschehen ist. Er wird die Machthaber zur Rechenschaft ziehen, die ihre Macht missbraucht haben.
»Der Kaiser ist nackt!« Es bleibt die Wahrheit, auch wenn die Welt noch unter den Machtphantasien leidet. Christus ist Sieger, und die Gewalten sind schon entthront! Wir brauchen nur Mut, es auszusprechen und daran festzuhalten: „Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und über sie triumphiert in Christus.“ Amen.
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