Pfingstmontag (05. Juni 2017)
Pfarrer i.R. Dr. Eberhard Grötzinger, Stuttgart-Weilimdorf [e.groetzinger@vodafone.de]
1. Mose 11, 1-9
Nehmen wir einmal an, es gäbe nur eine einzige Sprache auf der Welt. Die ganze Menschheit würde sich darauf verständigen, hinfort nur Englisch zu sprechen oder nur Russisch oder nur Chinesisch. Was denken Sie? Wäre das für uns ein Segen oder ein Fluch?
Vor- und Nachteile einer EinheitsspracheDie Vorteile einer solchen Regelung liegen auf der Hand. Sie werden schon heute im Flugverkehr genützt: Die Gefahr, dass sich durch eine falsche Übersetzung ein Fehler in die Kommunikation einschleicht, ist gebannt. Eine einheitliche Sprache und Begrifflichkeit kommt ohne Zweifel der Sicherheit in der Luftfahrt zu gute.
Auf der anderen Seite aber wiegen die Nachteile schwer. Denn die Vielfalt der Sprachen und Dialekte sind Ausdruck der Vielfalt der Kulturen dieser Erde. In der Sprache, in der wir aufwuchsen, sind wir zu Hause. Es ist zwar schön, sich in einer fremden Sprache verständigen zu können. Würden wir aber auf die eigene Sprache verzichten, würde uns ein Stück Heimat fehlen. Manche Sachverhalte und manche Gefühle können wir eben am besten in der eigenen Sprache ausdrücken. Auch manche witzigen Pointen wirken eben nur durch die besondere Färbung in der jeweiligen Muttersprache oder im jeweiligen Dialekt. Die Sketche von Karl Valentin muss man unbedingt im Münchner Bayrisch hören, sonst sind sie nur halb so witzig.
Auch kleine Sprachgebiete haben ihren kulturellen Eigenwert. Deshalb gibt es ja auch intensive Bemühungen, das Aussterben einzelner Sprachen, die nur noch von wenigen gesprochen werden, zu verhindern. In Deutschland ist dies zum Beispiel das Sorbische, oder im Norden sind es die verschiedenen Spielarten des Friesischen. In der Schweiz gibt es deshalb eigene rätoromanische Radiosendungen. Die Katalanen in Spanien sind stolz auf ihre eigene, vom kastilischen Spanisch unterschiedliche katalanische Sprache.
Die Vielfalt der Sprachen – eine Strafe Gottes?Nun wird in der Bibel erzählt, am Anfang der Menschheitsgeschichte hätte es eine einheitliche Sprache gegeben. Doch als die Menschen angefangen hätten, einen riesigen Turm zu bauen, der von der Erde bis zum Himmel reichen sollte, sei Gott herniedergefahren und habe die Sprachen so verwirrt, dass die einen die anderen nicht mehr hätten verstehen können. Meist sagt man: Dies war die Strafe Gottes für die Hybris der Menschen. Aber stimmt das? Versuchen wir doch einmal, die Intervention Gottes anders zu verstehen, nämlich im Sinne unserer Wertschätzung der Sprachenvielfalt. Dann wäre die damalige Einheitssprache womöglich ein Fluch gewesen, und die von Gott geschaffene Sprachenvielfalt könnte man als einen Segen betrachten? Gibt das Sinn?
Die Perspektive der MächtigenTatsächlich favorisieren nicht nur die Techniker und Ingenieure, sondern auch Staaten, in deren Gebiet mehrere Völker leben, eine bestimmte Einheitssprache als Amtssprache. Werden die unterworfenen Völker in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt, so wird ihnen oft auch die Verwendung der eigenen Sprache verwehrt. Ein Fremdenführer in der Türkei erzählte mir vor ein paar Jahren, er sei auf dem Istanbuler Flughafen von einem Polizisten zur Rede gestellt worden, weil er beim Telefonieren mit seiner Mutter kurdisch gesprochen habe. „Wie soll ich denn sonst mit meiner Mutter sprechen?“, verteidigte er sich, „Sie versteht doch nur kurdisch!“
Die Einheitssprache ist zwar nicht notwendig, aber doch sehr oft verbunden mit einer Intoleranz gegenüber den Sprachen von Minderheiten, weil die Herrschenden sie nicht verstehen und daher auch nicht kontrollieren können, ob sich mit den Wörtern und Sätzen der fremden Sprache Widerstand regt.
Mächtige Herrscher haben auch stets eine besondere Vorliebe für repräsentative Bauten. An ihnen wird für jedermann sichtbar, über welch ein Potential an Finanzen, an Arbeitskraft und an politischer Macht sie verfügen. Doch wir können uns heute kaum mehr vorstellen, wie viele Sklaven schuften mussten, um die Pyramiden von Gizeh in Ägypten oder die große Mauer in China zu bauen. Da galt der Einzelne nicht viel, jedenfalls wenn er ein einfacher Arbeiter war oder gar einem fremden Volk oder einer niederen Klasse angehörte. Als Touristen bewundern wir heute diese Bauwerke. Aber wir sollten nicht vergessen, unter welch harten Bedingungen sie errichtet wurden.
In der Bibel wird das Motiv der Erbauer der großen Hauptstadt mit dem riesigen Turm so angegeben: „Lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde“ (1.Mose 11,4). Das ist zweifellos aus der Perspektive der Mächtigen gesprochen.
Mächtige Herrscher müssen mit allen Mitteln versuchen, die Völker, die sie unterjocht haben, zusammenzuhalten. Dass Menschen aus einem Land, in dem sie unterdrückt werden, fliehen und sich in alle möglichen Länder zerstreuen, kann man ihnen nicht vorwerfen. Problematisch ist dies jedoch für die Herrscher, die sie unter ihrer Kontrolle haben wollen. Deshalb war es für den ägyptischen Pharao auch ein Problem, die Hebräer ziehen zu lassen, die als Sklaven in seinem Lande waren. Er wollte ungern auf ihre Fronarbeit verzichten.
Die Perspektive der UnterdrücktenSich seiner eigenen Sprache bedienen zu können, kann für unterdrückte Minderheiten eine Sache des Überlebens sein! Auf diese Weise können sie sich untereinander verständigen. Sie können ihren Kindern in ihrer Sprache die Geschichten des eigenen Volkes erzählen und können ihre religiösen Feste nach ihren eigenen Sitten und Gebräuchen feiern. Für die Arbeiter am Bau des Turms von Babel war das Eingreifen Gottes keine Strafe. Für sie war es ein Akt der Befreiung!
Man nimmt an, dass die Zeit im babylonischen Exil für das jüdische Volk bei aller Not, die ein Exil in jedem Fall bedeutet, tatsächlich eine besonders fruchtbare Zeit war. Man war in der Fremde gezwungen, die alten Geschichten in der eigenen Sprache aufzuschreiben und zu sammeln. So hat sich das jüdische Volk in der Fremde seines eigenen Glaubens vergewissert. Man weiß auch, dass es seit dem babylonischen Exil in alle Lande zerstreut wurde, und zwar ohne die eigene Sprache, die eigene Kultur und die eigene Religion aufzugeben. „Seit wann gibt es hier eine jüdische Gemeinde?“, fragte ich den Rabbiner in der Synagoge von Tiflis. „Vermutlich seit der Zeit des babylonischen Exils!“ war seine Antwort.
Sprachenvielfalt als Hindernis und als Chance im AlltagWir stellen heute in Deutschland fest, dass ein friedliches Zusammenleben von Menschen verschiedener Sprache und Herkunft ohne eine gemeinsame Sprache kaum möglich ist. Deshalb fordern wir zu Recht von allen Ausländern, dass sie, wenn sie auf Dauer hier leben wollen, Deutsch lernen müssen. Auf der anderen Seite wäre es unbillig zu verlangen, dass sie die Sprache ihres Herkunftslandes nicht mehr pflegen. Das Zusammenleben mit Menschen, die eine uns fremde Sprache sprechen, stellt auch uns vor die Aufgabe, dass wir uns um eine Verständigung bemühen. In der Bemühung um Verständigung liegt gerade eine Chance für das Gelingen des Kontaktes. Denn die Mühe ist ein Zeichen von Wertschätzung.
War nicht gerade dies das Wunder, das die Menge erlebte, die einst am Pfingsttag zu Jerusalem zusammengeströmt war? Sie verständigten sich nicht in einer gemeinsamen Einheitssprache. Aber jeder von ihnen hörte in seiner eigenen Sprache, wie hier von den großen Taten Gottes geredet wurde. So verschieden sie auf Grund ihrer Herkunft und ihrer kulturellen Prägung waren, das Reden von den großen Taten Gottes führte sie in einem Geist zusammen.
Ist die Verschiedenheit der Völker in ihrer jeweiligen Sprache, ihren Sitten und Gebräuchen nun ein Segen oder ein Fluch? Ich denke, wir sollten die Geschichte vom Turmbau zu Babel so verstehen, dass Gott uns mit der Vielfalt der Sprachen etwas Gutes tun wollte. Jedenfalls hat er uns damit die Aufgabe gestellt, dass wir uns bemühen sollen, den Anderen, der nicht so spricht und nicht so fühlt und denkt wie wir, in seiner Eigenart zu verstehen. Und das kann nie verkehrt sein. Amen.
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