Palmarum / Palmsonntag (13. April 2025)

Autorin / Autor:
Dekanin Dr. Juliane Baur, Schorndorf [juliane.baur@elkw.de ]

Jesaja 50,4-9

IntentionDie Intention der Predigt ist es, sich über die Kenntnisnahme verschiedener Deutungsvarianten des Gottesknechts anzunähern an eine persönliche Identifikation. Die Kraft der Würde, die aus der Verbindung mit Gott kommt und dazu stärkt, gemeinsam mit anderen auf dem Weg der Nachfolge Christi zu sein, soll deutlich werden.

Liebe Gemeinde,
egal zu welcher Tageszeit man in der S-Bahn sitzt, die Ohren der meisten anderen Fahrgäste sind verschlossen. Die Leute haben Stöpsel im Ohr – also Kopfhörer – hören Musik, chatten oder arbeiten. Der Dschungel der Eindrücke, mit denen wir ständig umgeben sind, ist riesig. Kein Wunder, dass viele das Bedürfnis haben, sich auf irgendetwas konzentrieren zu können. Ob sie dabei auch bei sich selbst sind oder bei anderen, das kann ich nicht beurteilen. Ich wünsche es jedem.
Mit dem eben gesungenen Lied (EG 91, eines der Wochenlieder) wurden wir mit einem ganz anderen Ansatz konfrontiert – mit dem Gedanken, dass die direkte Auseinandersetzung mit Christi Schmerz und Leiden Stärkung auch für das eigene Leben bedeutet. Hinzusehen und hinzuhören statt sich abzulenken, stärkt. Dann wird durch den Schmerz hindurch ein getrostes Leben gelernt.

Der heutige Predigttext hilft dabei, diesen Gedanken zu verstehen. Ich lese Jesaja 50,4-9:

„Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum habe ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.“

DeutungsvariantenDie Verse bilden eines der sogenannten Gottesknechtslieder, die wir im zweiten Teil des Jesajabuches finden. Der Gedanke liegt nahe, in diesem leidenden Knecht, der keiner Demütigung ausweicht, eine Vorwegnahme der Leiden Christi zu sehen. Das ist durchaus möglich. Und es ist gut, wenn es dabei hilft, nicht wegzuhören.
Allerdings sind die Verse viel früher, längst vor Jesu Geburt entstanden. Sie entstanden während der Zeit, die das Volk Israel im babylonischen Exil verbrachte und in der sich die führenden Köpfe der Exilierten daran machten, die eigene Identität neu zu fassen und zu beschreiben. Sie wollten sich einerseits ihrer Verbindung zu Gott vergewissern, andererseits aber auch Worte finden für die eigenen schmerzhaften Erfahrungen. Dabei entstanden auch dieser und andere Texte über einen Gottesknecht, der sich in seinem Leid der Verbindung zu Gott gewiss ist. In dem exemplarischen Gottesknecht sahen die Menschen keine einzelne Person, sondern das Volk als Ganzes.
Ich finde diese Deutungsmöglichkeit sehr nachvollziehbar, und angesichts der neu erstarkten Judenfeindschaft in unserer Gesellschaft wissen wir, dass sie alles andere als überholt ist.
Aber es gibt noch eine weitere Möglichkeit, sich diesen Worten anzunähern: Man kann sich selbst, die eigene Zeit, die eigenen Erfahrungen hineindenken in diesen leidenden Knecht und damit einen Weg finden, mit diesen Erfahrungen umzugehen.
Ein eindrückliches Beispiel dafür ist das Morgenlied von Jochen Klepper: Er weckt mich alle Morgen (EG 452).
Könnte uns dieses Lied vielleicht helfen in unserer eigenen Auseinandersetzung mit allem, was beschwert? Nicht weil wir alle gefoltert oder geschmäht würden, nicht weil wir in einer Diktatur zu leben haben, aber um uns dem zu stellen, was nicht gut ist und was nicht sein sollte, was wir aber nicht gut verändern können. Und in der Hoffnung und Annahme, dass wir in unserer Müdigkeit ein Vorbild vor Augen gestellt bekommen und ein gutes Wort hören, das erfrischt und herausholt, auch aus Vereinsamung.

Hören wie ein Jünger„Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr. Gott hält sich nicht verborgen, führt mir den Tag empor, dass ich mit seinem Worte begrüß das neue Licht. Schon an der Dämmrung Pforte ist er mir nah und spricht.“ (EG 452,1)
„Er spricht wie an dem Tage, da er die Welt erschuf. Da schweigen Angst und Klage; nichts gilt mehr als sein Ruf. Das Wort der ewgen Treue, die Gott uns Menschen schwört, erfahre ich aufs Neue, so wie ein Jünger hört.“ (EG 452, 2)

Gott weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. – Und wie hören Jünger? Jünger sind Menschen, die ihrem Meister folgen, weil sie spüren, dass sie von ihm lernen können. Jünger sind Menschen, die bereit sind zu lernen und die deshalb offen sind, wirklich zu hören. So, dass ihnen das, was sie hören, zu Herzen gehen kann, sie mitfühlend werden und bereit, für etwas und füreinander Verantwortung zu übernehmen.
In einem Interview mit Giovanni Di Lorenzo, dem Chefredakteur der ZEIT, habe ich gelesen, was ein gutes Gespräch ist: Es ist eines, in dem es gelingt, dass ein Mensch sich öffnet – so, dass er etwas von sich zeigt, so, dass Beziehung entsteht. – Wenn Gott das Ohr weckt und öffnet, dann öffnet sich ein Mensch und wird zum Jünger. Er muss dann nicht mehr wissen als vorher, er muss nicht mehr können, aber es entsteht eine besondere Bindung, jeden Tag neu. – Der Neurobiologe Gerald Hüther würde vielleicht sagen: Ein Jünger ist sich seiner eigenen Würde bewusst.
Und dann? Dann prallt all das Böse, das erlebt werden kann und teilweise erlitten werden muss, an mir ab. Wer sich seiner Würde bewusst ist, hat eine Art inneren Kompass, und selbst wenn andere ihm würdelos begegnen, stellt das die eigene Würde, die eigene Identität, nicht in Frage. Mit den Worten des Predigttextes: „Gott, der HERR, hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden.“

Kraft der Würde aus der Verbindung mit GottWas soll nun aber die Konsequenz meines Hörens sein? Schläge zu ertragen, ohne sich zu wehren? Sich beleidigen lassen? So klingt es vielleicht zunächst, einfach weil im Text nicht verschwiegen, sondern direkt ausgesprochen wird, dass es Gewalt gibt und Schmerz und Diskriminierung und Beleidigung und Hass und Missgunst. Und oft genug haben wir selbst etwas davon zu erleiden oder bekommen mit, wie es anderen geht.
Aber ich meine, es geht hier nicht einfach um Duldung und passives Hinnehmen. Ausgedrückt ist vielmehr ein innerer Widerstand, eine ganz eigene innere Souveränität – übrigens ganz ähnlich wie in der Bergpredigt Jesu im Matthäusevangelium, wenn es um das Hinhalten der anderen Backe geht.
Ein Gesicht, das hart ist wie ein Kieselstein, lässt die Beleidigungen, denen es ausgesetzt ist, nicht durch die Haut hindurchdringen ins Innere. Das Innere bleibt geschützt. Natürlich ist der Mensch den Schlägen ausgesetzt und der Demütigung, aber die Schläge treffen nicht den Kern der Person.
Der Jünger, der Mensch in hörender Verbindung zu Gott, weiß sich geliebt und weiß, dass ihm oder ihr dies nicht genommen werden kann.
In dieser Gewissheit kann ich empathisch sein mit anderen, mich einsetzen, für das Recht streiten und auch Ungerechtigkeit erdulden, mich verletzen lassen oder sogar auch einmal mit der eigenen Kraft am Ende sein. All das trifft mich nie selbst in meinem Innern. Dazu kommt, dass wir wissen, dass nichts, was belastet, ewig ist. Es vergeht vielmehr, wie Kleider zerfallen, die von Motten zerfressen werden.

Kraft im Miteinander und in der Nachfolge Christi„Er will mich früh umhüllen mit seinem Wort und Licht, verheißen und erfüllen, damit mir nichts gebricht; will vollen Lohn mir zahlen, fragt nicht, ob ich versag. Sein Wort will helle strahlen, wie dunkel auch der Tag.“ (EG 452, 5)
Dunkle Tage gibt es viele, jeder Einzelne von uns kennt seine dunklen Tage und ebenso die Ungerechtigkeiten und Missstände der Welt, von denen man sich am liebsten nur ablenken möchte.
Doch: Lasst uns zusammen vortreten. Wer will unser Recht anfechten? Siehe, Gott der HERR hilft. Wir sind gemeinsam unterwegs. Ich kann mich verbinden mit anderen. Nichts trennt uns von der Liebe Gottes. Bleibende Würde ist uns geschenkt.
Und das dürfen wir immer wieder neu hören. Hoffentlich zur rechten Zeit und gegen unsere Müdigkeit und vielleicht auch gegen unsere Bequemlichkeit. Auf dem Weg in die Karwoche bis zum Karfreitag und darüber hinaus. Denn am Kreuz hat Christus dem Tod seine Macht genommen und schenkt uns Leben in Fülle. Amen.

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