Palmarum / Palmsonntag (10. April 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrer Matthias Hennig, Weilheim/Teck [Matthias.Hennig@elkw.de ]

Johannes 17, 1-8

IntentionDie Predigt will Jesu Gebet den Hörerinnen und Hörern zuerst als Raum für deren eigenes Innehalten anbieten und dann zu einer Empfindsamkeit anleiten, die die Hingabe, mit der Jesus betet und handelt, als „beziehungsreiche Herrlichkeit“ erkennen lässt – im Unterschied zur exklusiven Herrlichkeit oder Selbstherrlichkeit. Mit dem zwischenmenschlichen Beispiel von der tröstlichen Anwesenheit eines Mittrauernden soll eine gewisse Vorstellung geweckt werden, wie die Hörerinnen und Hörer in Gottes Herrlichkeit einbezogen werden.

17, 1 Solches redete Jesus und hob seine Augen auf zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist gekommen: Verherrliche deinen Sohn, auf dass der Sohn dich verherrliche; 2 so wie du ihm Macht gegeben hast über alle Menschen, auf dass er ihnen alles gebe, was du ihm gegeben hast: das ewige Leben. 3 Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen. 4 Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue. 5 Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war. 6 Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt. 7 Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. 8 Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast.

Karwoche Innehalten und BetenLiebe Gemeinde, für den Moment steht alles still. Alle sind verstummt. Jerusalems Mauern haben die Hosiannarufe verschluckt. Windstöße haben die Palmzweige in die Ecken des Stadttors geblasen. Der Esel, mit dem Jesus am Mittag in die Stadt eingeritten ist, ist aus den Augen, aus dem Sinn. – Die Füße, die Jesus den Jüngern am Abend gewaschen hat, sind trocken. Niemand regt sich. Das Geschehen kommt zum Stehen. Jesus allein spricht. Vom Abschied; von der Angst in der Welt, die er überwunden hat; vom Tröster. Dann ist alles gesagt zu den Jüngern. – Die anderen Leute haben schon vorher genug gehört. Streitgespräche gab es, den Schlagabtausch mit Argumenten, Jesu Auftritt am Tempel. Vorbei, die Diskussionen mit den Gegnern. Vorbei, die Gespräche mit den Jüngerinnen und Jüngern. Vorbei, das Wandern in Galiläa und die Wunder. Vorbei, dass Wasser zu Wein wurde. Längst vorbei sind das Fest und die Hochzeit. Denn „die Stunde ist gekommen“. Der entscheidende Augenblick steht bevor. Jesus betet. Ein Gebet lang steht alles still.
Mit der heute beginnenden Karwoche verhält es sich ähnlich. In der Kirche wird es jetzt immer stiller. Der Krieg tobt auf der Welt, ja. Das Unrecht schreit zum Himmel, auch diese Woche. Der Lärm des Alltags lässt nicht nach in den nächsten Tagen. Doch hier in der Kirche führen die Passionsandachten nach innen. Wie das Decrescendo in der Musik hilft die kirchliche Karwoche, zu sich zu kommen und zu Gott. Der Hallelujaruf ist schon eine Weile verstummt. Das Ehr sei dem Vater wird ab heute nicht mehr gesungen. Das Fasten, gerade in dieser letzten Woche, erlaubt keine gewaltigen Leistungen. Schon gar nicht ist Hochzeit, die Karwoche heißt „geschlossene Zeit“ in der kirchlichen Ordnung zur Trauung. Geschlossene Zeit ist geschützte Zeit. Und der Gottesdienst unterbricht alles, was uns sonst beschäftigt und umtreibt. Auch jetzt. Für den Moment steht alles still.
Jesus betet: „Vater, die Stunde ist gekommen.“ Was hat es auf sich mit dieser Stunde? Die Jünger ahnen es. Die Leserinnen und Leser des Johannesevangeliums wissen es schon. Und wir sehen es hier: In fast jedem evangelischen Kirchenraum wird der Blick auf das Kreuz gelenkt, auf den Gekreuzigten. Das also bringt die alles entscheidende Stunde mit sich: Jesus wird gekreuzigt, mit Nägeln am Holz festgeschlagen, als ein Verbrecher zu Tode gebracht. Und dann zieht sich die Stunde der Hinrichtung so lange und grausam hin, bis der Sterbende unter Schmerzen und Durst verschmachtet.

Hochgenuss, Höchstleistung, Sieg: die Herrlichkeit der MenschenJesus betet: „Verherrliche deinen Sohn, auf dass der Sohn dich verherrliche.“ Wie, liebe Gemeinde, soll sich der Horror des Kreuzes zur Herrlichkeit fügen? Ich kann es nur so buchstabieren, wie ein ABC-Schütze die einzelnen Buchstaben in mehreren Anläufen zu Silben, zu Wörtern formt. Im ersten Anlauf reimt sich mir Herrlichkeit auf Höchstleistung und Hochgenuss. Herrlich, der Ausblick vom Gipfel, herrliche Bergwelt. Herrlich, das Spiel der Geigerin, herrliche Musik. Herrlich, das exquisite Menü, herrliche Kochkunst. Herrlich empfinde ich solche und ähnliche Gipfelerlebnisse. Von ihnen zehre ich. Einige Zeit.
Beim Buchstabieren fällt mir auf: Solche Herrlichkeit schließt viele aus. Sie gehört wenigen. Andere hält sie auf Abstand. Ganz zu schweigen vom selbstherrlichen Triumph. Römische, russische und deutsche Feldherren haben ihn inszeniert auf den Rücken der Besiegten. „Herrliche Zeiten“ hat der kriegführende deutsche Kaiser Wilhelm II einst den Krieg genannt. Dieser Triumph, der auf den Trümmern zerstörten Lebens steht, hat wankenden Boden unter sich. Dazu kann die menschliche Herrlichkeit trügerisch sein. „Hosianna“ riefen sie in Jerusalem Jesus zu. Waren es dieselben Menschen, die kurze Zeit später „Kreuzige ihn“ riefen?

Hingabe: die Herrlichkeit GottesEin zweiter Anlauf: Reimt sich die Herrlichkeit, von der Jesus spricht, auf seine Hingabe? Vermutlich ist das der Blick, den der Evangelist Johannes auf das Kreuz hat. In der Hingabe, mit der Jesus lebt und leidet und stirbt: darin liegt sein Gewicht, seine Bedeutung. In der finsteren Stunde des Hinrichtungshorrors strahlt die Hingabe Jesu als Lichtquelle auf. Eine Herrlichkeit ganz eigener Art tritt zutage. Sie macht das Leben aller Menschen hell, die sich die Hingabe gefallen lassen, mit der Jesus lebt und stirbt. Das ist herrlich nach den Begriffen des Johannesevangeliums.
Jetzt, wo alles stillsteht, kann man das vielleicht am ehesten begreifen. Jesus betet. Er betet für sich und dass der Vater ihn verherrliche. „Verherrliche den Sohn. Gib ihm Gewicht in dem Augenblick seiner Hingabe. Tritt selbst zutage, Vater, in der Stunde des Todes. Sei gerade am Kreuz: Gott.“
So bittet Jesus für sich. Dabei sind aber schon alle im Blick: die Jünger in der Erzählung, die späteren Leser der Erzählung, wir Hörerinnen und Hörer jetzt. Jesu Gebet geht in die Fürbitte über, wie das Wasser aus den oberen Schalen des Maulbronner Klosterbrunnens überfließt und sich in die untere Schale ergießt. Gott fließt über. Gott ist nicht nur „an sich“ herrlich. Er bleibt nicht für sich. Sondern seine Herrlichkeit, wie sie am Kreuz zutage tritt, fließt auf mich über.

Trost: Herrlichkeit an sich geschehen lassenDie herrliche Hingabe des Sohnes: wie können Sie und ich sie spüren? Ein dritter Versuch im Buchstabieren: Die Stunde ist gekommen. Der Abschied ist da. Kennen Sie das, wenn Sie einem Sarg folgen oder einer Urne? Wenn Sie an das offene Grab treten? Man schaut. Man hört. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube. Dann macht man einen Schritt auf das Grab zu, hält inne, denkt ein Danke, flüstert Adieu, geht zur Seite, ringt um Fassung. Und dann tritt ein Mittrauernder ans Grab. Einer, mit dem ich vielleicht nicht einmal gerechnet hatte. Einer, der offensichtlich nur einen einzigen Grund hat, hier zu sein: nämlich den, dass er mich für wert hält zu kommen. Kennen Sie das auch? Eine Freundin, ein Freund steht plötzlich da, steht bei mir, steht mir bei.
Diese Zuwendung des einen Menschen zum anderen Menschen tröstet. Es ist auf eine stille Weise herrlich, das zu erfahren. Die zwischenmenschliche Erfahrung vom Friedhof verschafft mir eine Ahnung, wie das mit der Verherrlichung gemeint sein könnte, um die Jesus bittet. Offensichtlich so, dass er mit ganzer Hingabe an meine Seite tritt, an Ihre Seite. Zu uns allen. Er engagiert sich aufs Äußerste für alle, die da sind. Er findet sich aus dem einzigen Grund ein, dass wir es ihm wert sind.
Ich vertraue darauf und ich bitte inständig darum, dass es immer wieder aufs Neue so geschieht. Bei uns, bei allen auf dieser Welt. Am allermeisten aber bei denen, über denen der Krieg tobt, die himmelschreiendes Unrecht erleiden und die fliehen müssen mit unsäglichem Leid im Gepäck.
Da steht für einen Moment alles still. Jesus aber betet. „Vater, die Stunde ist gekommen. Verherrliche deinen Sohn, auf dass der Sohn dich verherrliche; so wie du ihm Macht gegeben hast über alle Menschen, auf dass er ihnen alles gebe, was du ihm gegeben hast: das ewige Leben. Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.“ Amen.

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