Ostersonntag (04. April 2021)
2. Mose 14,8–14.19–23.28–30a; 15,20–21
IntentionDie Predigt deutet die Ostergeschichte auf dem Hintergrund des Jubiläums „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ und der ökumenischen Aktion „#beziehungsweise jüdisch und christlich“ als Befreiungsgeschichte. Auferstehung ist Befreiung. Dadurch wird die Osterbotschaft im Diesseits verortet, als Auferstehung ins Leben.
Hinweis zum PredigenEindrücklicher wird die Predigt, wenn die biblische Exodusgeschichte von einer anderen Person als dem Prediger/der Predigerin gelesen wird, weil der Text abschnittsweise zu Wort kommt und dann der Wechsel von biblischem Wort und Osterdeutung sinnfälliger wird.
Eine jüdische OstergeschichteDie Ostergeschichte in diesem Jahr ist eine jüdische Geschichte. Ein glücklicher Zufall ist das. Denn wir feiern dieses Jahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. 1700 Jahre lang haben Jüdinnen und Juden unser Land mitgeprägt: unsere Wissenschaft, unsere Wirtschaft, unsere Kultur, unseren Glauben.
Die Ostergeschichte in diesem Jahr ist eine jüdische Geschichte. Die jüdische Geschichte schlechthin: die Geschichte vom Auszug der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten. Für das christliche Fest der Auferstehung eine jüdische Befreiungsgeschichte: Warum? Weil Auferstehung Befreiung ist. Und Befreiung Auferstehung. Befreiung ist Auferstehung mitten im Leben. Davon will ich heute erzählen.
Sklaverei als TodesherrschaftDie Israeliten waren Sklaven in Ägypten. Sklaverei, das heißt Tod. Sklaven gehören nicht sich selbst, sie gehören ihren Herren. Sklaven sind nicht frei, sie sind gefangen. Sklaven können sich nicht entfalten, können nicht leben, was in ihnen steckt; alles wird niedergedrückt und erstickt. Sklaven können nicht selbst bestimmen; sie werden gezwungen. Die Israeliten waren Sklaven in Ägypten. Sie waren mitten im Leben tot.
Aber etwas in ihnen lebte noch: die Sehnsucht. Ganz klein nur, kaum mehr als ein Funke, zart und verletzlich wie ein Vogel. Die Sehnsucht nach der Freiheit. Die Sehnsucht ließ sie träumen. Und klagen: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? – Gott hörte ihre Klagen. Er rief Mose: Führe mein Volk in die Freiheit! Es folgte ein langes Hin und Her. Doch dann war es soweit: Sie ergriffen die Flucht. Bei Nacht und Nebel verließen sie ihr Grab. Das Sklavenhaus. Die Kammer des Schreckens. Den Geruch von Schweiß und Blut. Sie traten ins Freie. Sie atmeten auf. Sie atmeten ein: frische, kühle Luft. Sie rannten los. Doch dann …
"14,8 Und der HERR verstockte das Herz des Pharao, des Königs von Ägypten, dass er den Israeliten nachjagte. Aber die Israeliten waren mit erhobener Hand ausgezogen. 9 Und die Ägypter jagten ihnen nach, alle Rosse und Wagen des Pharao und seine Reiter und das ganze Heer des Pharao, und holten sie ein, als sie am Meer bei Pi-Hahirot vor Baal-Zefon lagerten."
Der Tod lässt sie nicht los. Niemanden gibt er her. Der Tod ist es gewohnt, immer das letzte Wort zu haben. Er ist die Endstation. Danach geht es nicht mehr weiter. Wer seinen Krallen entwischt, wird gejagt, erbarmungslos gejagt. Bislang hat der Tod noch jeden gekriegt. Auch jetzt holt er auf …
Angst als Helferin des Todes"10 Und als der Pharao nahe herankam, hoben die Israeliten ihre Augen auf, und siehe, die Ägypter zogen hinter ihnen her. Und sie fürchteten sich sehr und schrien zu dem HERRN 11 und sprachen zu Mose: Waren nicht Gräber in Ägypten, dass du uns wegführen musstest, damit wir in der Wüste sterben? Warum hast du uns das angetan, dass du uns aus Ägypten geführt hast? 12 Haben wir's dir nicht schon in Ägypten gesagt: Lass uns in Ruhe, wir wollen den Ägyptern dienen? Es wäre besser für uns, den Ägyptern zu dienen, als in der Wüste zu sterben."
Die Angst ist die rechte Hand des Todes. Mit ihrer Hilfe holt sich der Tod seine Beute zurück. Denn die Angst lähmt. Auch die Israeliten. Sie hören die Pferde und Wagen. Sie hören die Rufe der Verfolger. Sie sehen den Staub in der Ferne aufwirbeln. Und sie bekommen Angst, Todesangst. Sie kommen nicht weiter. Der Antrieb schwindet, die Ideen gehen aus, die Beine werden schwer. Sie schauen nicht mehr nach vorn in die Freiheit, sie starren zurück in den Rachen des Todes. Sie schreien. Sie verzweifeln. Von Sehnsucht keine Spur mehr. Sie sehnen sich zurück. Die Angst verklärt die Vergangenheit: Warum nur sind wir geflohen? War es denn wirklich so schlimm im Grab? Schmeckte der Tod nicht auch süß? Waren wir da nicht geborgen? Ging es uns nicht eigentlich ganz gut? – Wo die Angst lähmt, wo die Angst die Sehnsucht nach der Freiheit erstickt und das Sklavendasein verklärt, da hat der Tod leichtes Spiel. Der Vorsprung schmilzt. Gleich haben die Verfolger das Volk am Meer eingeholt. Und dann gibt es keinen Ausweg mehr …
Befreiung aus der Todesmacht als Geschenk"13 Da sprach Mose zum Volk: Fürchtet euch nicht, steht fest und seht zu, was für ein Heil der HERR heute an euch tun wird. Denn wie ihr die Ägypter heute seht, werdet ihr sie niemals wiedersehen. 14 Der HERR wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein. 21 Da reckte Mose seine Hand über das Meer, und der HERR ließ es zurückweichen durch einen starken Ostwind die ganze Nacht und machte das Meer trocken, und die Wasser teilten sich. 22 Und die Israeliten gingen hinein mitten ins Meer auf dem Trockenen, und das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zur Linken."
Da! Ein Weg. Wo vorhin noch wild die Wellen schlugen, bahnt sich jetzt ein Weg. Ein Weg einfach aus dem Nichts. Vorhin war er noch nicht da. Gott hat ihn gemacht. Dass sich in der Sackgasse ein Weg auftut, das kann nicht ich machen, das kann nur Gott. Dass die Sackgasse entgegen allem Augenschein nicht das Ende ist, dass aus der Sackgasse ein Weg herausführt – und zwar nicht ein Weg zurück, sondern nach vorn! –, das kann nur ein Gott machen, der stärker ist als der Tod. Der Gott Israels ist ein Gott, der stärker ist als der Tod. „Fürchtet euch nicht! Haltet still, Gott kämpft für euch.“ – Die Klagen verstummen. Das Volk fasst Vertrauen. Vertrauen gegen die Angst. Sie starren nicht länger zurück. Sie schauen wieder nach vorn. Und gehen los.
"23 Und die Ägypter folgten und zogen hinein ihnen nach, alle Rosse des Pharao, seine Wagen und Reiter, mitten ins Meer. 28 Und das Wasser kam wieder und bedeckte Wagen und Reiter, das ganze Heer des Pharao, das ihnen nachgefolgt war ins Meer, sodass nicht einer von ihnen übrig blieb. 29 Aber die Israeliten gingen trocken mitten durchs Meer, und das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zur Linken. 30 So errettete der HERR an jenem Tage Israel aus der Ägypter Hand."
Die Israeliten ziehen durch die Fluten in die Freiheit. Über den Verfolgern aber schlagen die Wellen zusammen. Der Tod ertrinkt. Der Tod wird in den Sieg verschlungen. Nie wieder wird er nach ihnen ausgreifen. Nie wieder wird er über sie herrschen. Nie wieder wird er sie demütigen, erniedrigen, versklaven. Er ist ein für alle Mal besiegt. Sie erreichen das andere Ufer. Vergnügt, erlöst, befreit. Das lässt sie singen. Sie singen, spielen und tanzen. Sie stimmen das allererste Osterlied an.
"15,20 Da nahm Mirjam, die Prophetin, Aarons Schwester, eine Pauke in ihre Hand, und alle Frauen folgten ihr nach mit Pauken im Reigen. 21 Und Mirjam sang ihnen vor: Lasst uns dem HERRN singen, denn er ist hoch erhaben; Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt."
Vom Wert der Freiheit in unfreien ZeitenAuferstehung ist Befreiung. Befreiung mitten im Leben. Nicht erst am jüngsten Tag, nein, schon jetzt. Auferstehung geschieht überall da, wo der Stein weggerollt wird, wo wir allem entkommen, was uns klein und würdelos macht. Auferstehung geschieht überall da, wo die Angst verstummt, weil Gott uns einen Weg weist. Auferstehung geschieht überall da, wo das, was uns kaputt macht, selbst kaputt geht. Auferstehung geschieht überall da, wo sich unser Mund öffnet und wir anfangen zu singen: „Lasst uns dem HERRN singen, denn er ist hoch erhaben; Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt.“ Auferstehung ist Befreiung. Dass ich das weiß, das verdanke ich meinen jüdischen Geschwistern, die ihre Freiheitsgeschichte mit mir teilen und sie mir zur Ostergeschichte werden lassen.
Freiheit ist gerade wieder in aller Munde. In der Pandemie fehlt sie uns. Ich hoffe zumindest, dass sie uns fehlt. Dass wir uns zuhause nicht zu sehr einrichten. Es ist gemütlich in den eigenen vier Wänden, ohne viele Kontakte, ohne Begegnungen – aber es ist auch ein Gefängnis, ein Sklavenhaus, dem das echte Leben fehlt. Und die Lebensfreude auch. Ich nehme viel Freudlosigkeit wahr. Wie Mehltau legt sie sich auf die Gemüter. Die Menschen sehen gedrückt und müde aus. Das bereitet mir Sorgen. Haben Sie zumindest noch einen Funken Sehnsucht in sich? Mancher Zeitgenosse sehnt sich nach einer starken Hand und schielt neidisch nach China. Es ist die Angst, die uns nach dem starken Führer rufen lässt. Gewiss, Freiheit ist riskant. Im Grab ist es heimeliger als in der Wüste. Aber wollen wir das wirklich? Ich nicht. Ich will lieber in der Wüste singen, tanzen und spielen als im Sklavenhaus trübe mein Dasein fristen. Gott spricht uns zu: „Fürchtet euch nicht! Fasst Vertrauen. Geht los. Das Land ist hell und weit.“
Amen.
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