Osternacht (31. März 2018)
1. Thessalonicher 4, 13-14
„Die, die da schlafen“ – welche Gewissheiten haben wir?Liebe Schwestern und Brüder, das wäre gut: wenn wir „nicht im Ungewissen“ blieben. Denn welche Gewissheiten haben wir hier auf dem Friedhof, noch bei Dunkelheit, fröstelnd geduckt und mit bodenkalten Füßen? – Es gibt die Gewissheit im Ohr: Friedhofsruhe. Hier herrscht Schweigen. Mit dem Gezwitscher der Vögel dringt diese Gewissheit nur noch tiefer ins Ohr: Die, die einmal mit uns geredet haben, sind verstummt. Für immer. – Sie seien erlöst worden von dem Leiden. Das ist uns vielleicht auch noch im Ohr. Aber was ist das für eine Erlösung, die einem das Leben kostet? Und wüssten wir nicht gerne, wohin unsere Verstorbenen erlöst worden sind, und nicht nur wovon? – Schweigen. Friedhofsruhe. Es wäre gut, wenn wir nicht im Ungewissen blieben.
Denn welche Gewissheiten haben wir, auch drüben in der Kirche, dort die schweren Mauern um uns und unter uns die Gebeine des vormaligen Kirchhofs? Es gibt die Gewissheiten, die man vor Augen hat: Im Chorraum der Kirche stehen die Grabplatten der Fürsten, die Namen der Mächtigen sind abgewetzt zu blassen Schriftzeichen. Hier auf dem Friedhof wandert der Blick über die Grabsteine und schmiedeeisernen Kreuze, die Rasengräber und Urnenwände. Wir erfahren von Kindern, von Männern und Frauen, von Paaren und ganzen Generationen einer Familie jeweils den Tag der Geburt und den Tag des Sterbens. Das ist gar nicht so wenig.
Die Zahlen und Namen wecken Erinnerungen. Und das Auge entdeckt beim Gang über den Friedhof zudem die Zwiesprache der Zeichen. Gegen den stummen Stein auf dem Grab spricht das von Kinderhand bemalte Herz aus Keramik, der Engel aus Porzellan erhebt Einspruch gegen den brutalen Unfalltod, oder das goldgeränderte Dekor auf dem Marmor aus Carrara hält den Glanz über dem Erdloch aufrecht. Mal ist es Kostbarkeit, mal ist es Kitsch. Wichtig ist nur: Einer, der lebt, will dem, der da schweigt, etwas sagen; sucht Zwiesprache und zeigt, dass er liebt. Doch wohin das Auge auf dem Friedhof auch blickt: Sind das nicht alles liebste Berührungen aus schmerzlich großer Ferne? – Blickdicht legt sich das Dunkel des Todes auf die Entschlafenen. Es wäre gut, wenn wir nicht im Ungewissen blieben.
Gibt’s denn nur die traurigen Gewissheiten im Ohr und vor Augen? Manche Gewissheit ist mit Händen zu greifen. Die Hände fahren in die Erde, mit Hacke und Handschuh wird Platz geschaffen für Stiefmütterchen und fleißige Lieschen. Die Fingerspitzen drücken die Erde fest um die Pflanze, dass sie gut anwächst. Und man marschiert mit der Gießkanne noch einmal zum Brunnen und kehrt zum Gießen zurück. Auch an die Rasengräber und zu den Urnenwänden werden Gestecke und Schalen gestellt. Man möchte, man muss mit den Verstorbenen umgehen. Und die Gewissheit ist mit Händen zu greifen: Du fühlst nicht die Wärme des Menschen, sondern greifst nach Erde, Stein und Staub. – Grabeskälte. Es wäre gut, wenn wir nicht im Ungewissen blieben. Was wäre das für ein Mensch, der nicht fragt: Sehen wir uns wieder? Was wäre das für ein Mensch, der nicht auf dem Friedhof sich sehnt: Hörst du mich? Sag doch was! Was wäre das für ein Mensch, der nicht an den Gräbern schmerzlich empfindet, dass er invalid bleibt, dass er einen Teil von sich selbst unwiederbringlich verloren hat?
Und nicht nur das. Nicht nur Persönliches ist hier begraben. Fällt nicht das Sinnganze in ein offenes Grab? Denn was hat das Leben für einen Wert, wenn die wirklich einzige Gewissheit unseres Lebens, die wir mit Händen greifen, mit Augen sehen und mit den Ohren hören können – der Tod ist? Man kann darüber wirklich nur traurig werden.
Vielleicht hatten die Schwestern und Brüder in Thessalonike den Philosophen Epikur im Ohr und wir im Lebensgefühl: „Wenn wir sind, ist der Tod nicht. Und wenn der Tod ist, sind wir nicht.“ Aber was ist das für eine Gewissheit? Wenn sie denn stimmen würde, wäre sie eine vernichtende Wahrheit. Vernichtend für die Mutter, deren Sohn als Bundeswehrsoldat mit 29 Jahren bei dem Einsatz in Afghanistan ums Leben kam. Deprimierend für jene, die bis heute nicht wissen, wo der Bruder verscharrt wurde, der als 17-Jähriger noch anno ‘44 geholt und nach Russland geschickt wurde. Menschenverachtend für die Syrer, die ihre Kinder, Geschwister, Partner und Eltern in Aleppo und Ghouta verloren haben. Niederschmetternd für alle, die in ihren Erinnerungen an einen verstorbenen Angehörigen noch ringen und sich mit dem Gedanken quälen „hätte ich doch …!“. – Es wäre so gut, wenn wir nicht im Ungewissen blieben. Damit wir nicht traurig sind und damit wir nicht zynisch werden wie die, die keine Hoffnung haben.
Die, die da wachen – welche Hoffnung haben wir?Dann aber lasst uns, liebe Schwestern und Brüder, gerade jetzt nicht müde werden. Lasst uns weiter „wachen und beten“. Lasst uns weiter gegen die Nacht singen, weiter den Geist mit jenem Lied wecken, lasst uns das Leben wie Töne einer Melodie in der Schwebe halten, dass der Tod es nicht verschluckt. Lasst uns weiter „wachen und beten“, lasst uns mit jedem Gedanken anatmen gegen Finsternis und Zynismus, lasst uns tiefe seelische Atemzüge tun und die Worte in uns aufnehmen, die uns der erste Thessalonicherbrief übermittelt: „Denn wir glauben, dass Jesus gestorben ist und auferstanden.“
„Jesus ist gestorben und auferstanden“. Wenn ich das einatme, atme ich anschließend befreit aus. Wenn dieser Gedanke mich füllt wie ein tiefes Luftholen, folgt ein Ausatmen wie der Seufzer der Erleichterung. Nicht mehr Enge bedrückt Herz und Lunge, sondern ein großes Aufatmen kriegt Raum. Denn ins Ohr legt sich der Engel mir mit dem Wort: „Fürchte dich nicht!“ – Fürchtet euch nicht, ihr drei Frauen am Grab. Fürchte dich nicht, du Mutter am Grab deines Sohnes. Fürchte dich nicht, du Bruder auf der Reise durch Russland und bis heute in allem Suchen. Fürchte dich nicht, du Ehefrau auch noch Jahre nach dem Tod deines Mannes. Fürchte dich nicht. Atme ein „Jesus ist gestorben und auferstanden“ – und atme aus „So wird Gott auch ihn mit Jesus einherführen“ – ihn, den Ehemann, den Bruder, den Sohn. Höre die neue Gewissheit, die im Ohr zur Welt kommt! Hier ist nicht mehr Friedhofsruhe, hier ist die Stimme: „Fürchte dich nicht!“
„Jesus ist gestorben und auferstanden“. Der zweite seelische Atemzug, den ich mit diesen Worten verbinde, scheint mir ein Luftholen zu sein mit weit geöffneten Augen. Denn neben der Gewissheit im Ohr gibt es auch die neue Gewissheit, die vor Augen tritt. Gut möglich, dass sich dabei nicht nur die Augen weiten, sondern auch der Mund offensteht. Dann fliegt der Ruf durch die Luft, wie übers Wasser aus einem Fischerboot: „Es ist der Herr!“ Am Ufer steht der auferstandene Jesus, Petrus bekommt es von Johannes gesagt, jetzt erkennt auch Petrus ihn. Aber nicht er allein.
Kennen wir nicht seine Erfahrung? War es nicht so, dass auch wir schon gedacht haben: Es ist der Herr, das ist Gott? Am Ufer einer stürmischen Zeit hat er auf mich gewartet. Oder am Ende einer schweren Krankheit habe ich ihn erblickt. Oder am Schluss eines gewundenen Umwegs hat mir’s ein Freund, eine Freundin gesagt: „Es ist der Herr.“ Und mir sind die Augen übergegangen von dem wiederkehrenden Wort, von den wiederkehrenden Zeichen seiner Anwesenheit. Fast zu persönlich sind diese Zeichen, um davon zu reden. War’s ein gedeckter Tisch, war’s eine Karte mit Bild? War’s ein bestimmter Schriftzug oder der Schein einer Ikone oder die aufflammende Osterkerze? „Es ist der Herr.“ Diese neue Gewissheit tritt mir vor Augen.
Eine Gewissheit, die durchaus schon mit Händen zu greifen war. Thomas legte seine Hand in Jesu Seite und sprach: Mein Herr und mein Gott. Die beiden Emmaus-Jünger nahmen die Beine in die Hand und liefen nach Jerusalem zurück, mit der Gewissheit, dass der Herr bei ihnen geblieben war. Den anderen Jüngern erzählten sie, dass Jesus ihnen das Brot brach.
„Jesus ist gestorben und auferstanden.“ Das ist eben auch ein Atemzug: so tief, wie ein Schluck Wein im Rachen zu schmecken ist; so elementar, wie ein Stück Brot zu kauen ist. Bei jedem Bissen, bei jedem Schluck vertieft sich schmeckend und sehend die Gewissheit – jenes: „für dich“, für dich gegeben, für dich vergossen. Nicht Grabeskälte, sondern die wärmende Wirkung des Weinstocks fließt in uns, die Kraft aus dem Brot des Lebens stärkt uns.
Die, die da glauben – sie lebenWir glauben. Wir glauben, dass Jesus Christus gestorben und auferstanden ist. Wachend und betend nehmen wir es in uns auf. Es ist zuerst ein Erinnern. Mit der Erinnerung entsteht Ergriffenheit. Und mit dem Ergriffensein fällt der helle Schein in unsere Herzen. Es leuchtet uns ein: Jesus ist gestorben und auferstanden.
Wir glauben das. So einleuchtend ist das, dass über dem Schmerz auf dem Friedhof jetzt strahlend die Hoffnung aufgeht. Die, die entschlafen sind, sehen wir im Licht dieser Hoffnung. Wenn doch hier die Gewissheit des auferstandenen Herrn mit Händen zu greifen ist, mit Augen zu sehen und eigenen Ohren zu hören, stehen unsere Entschlafenen dann etwa nicht ganz bei ihm? Kommen sie uns etwa nicht entgegen, wie Jesus uns entgegenkommt? Ganz mit ihm, ganz bei ihm sehen wir sie.
Sicher, wie Maria im Garten ihren Jesus noch nicht berühren kann, können wir unsere Lieben nicht umarmen, die entschlafen sind. Aber er führt sie mit sich, sie kommen uns entgegen. Es ist nicht weit. Nie und nimmer gehen sie verloren. Nie und nimmer gehen auch wir verloren. Für die Toten und uns Lebende haben wir Hoffnung. – Wir fürchten uns nicht. Es ist der Herr. Für uns. – Atmen wir weiter, singen wir weiter: „Jesus lebt. Mit ihm auch ich.“ Amen.
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