Ostermontag (05. April 2021)
Offenbarung 5, 6-14
IntentionIch möchte zeigen, welche Kraft in dem Glauben liegt: Jesus Christus lebt und wirkt hinter dem, wie die Weltgeschichte und meine persönliche Geschichte verläuft.
Ich seh etwas, was du nicht siehst„Wie lange dauert’s noch?“ Die Frage vom Autorücksitz nervt. Doch da ertönt’s vom Beifahrersitz: „Ich seh etwas, was du nicht siehst!“ Auf einmal wird es spannend, genau hinzuschauen auf alles, was im Auto oder durchs Fenster zu sehen ist. „Ich seh etwas, was du nicht siehst, und das ist lila…“ Ah, die Punkte, die aus der Sandale spickeln!
„Ich seh etwas, was du nicht siehst!“ – so behauptet zurzeit manche Verschwörungserzählung. „Ich sehe, was hinter diesem Trara um das Coronavirus steht“, behaupten sie. Und dann malen sie vor Augen, wie Bill Gates Politik und Medien steuert oder gar die Naiven auslöschen will. Dagegen müsse man zu Felde ziehen – auch mit Gewalt! 30–40% der Bevölkerung sind im Prinzip anfällig für solche Erzählungen, sagen die Untersuchungen. Das bedeutet ja: So viele Menschen halten es im Prinzip für möglich, dass böse Strippenzieher hinter Ungutem auf der Erde stehen.
„Ich seh etwas, was du nicht siehst!“ Ist es nicht überhaupt gefährlich, das zu sagen? Sollten wir es nicht ganz sein lassen, von Geschehnissen zu erzählen, die hinter dem Sichtbaren stehen? Und uns lieber an das halten, was wir sehen?
Das ist schwierig an Ostern. „Also, ich habe noch keinen wieder rumlaufen sehen!“ sagen manche. Wie kann man an die Auferstehung der Toten glauben! Was von Jesus zu Lebzeiten erzählt wird – damit lässt sich leichter etwas anfangen. Doch dass er nach drei Tagen wieder lebendig war und herumgelaufen ist – dass soll glauben, wer will. Ich halte mich an das, was ich sehe.
So dachten ja auch die, die mit Jesus befreundet waren. Und dann begegnete Jesus ihnen. Doch was war das für eine Gestalt? Maria dachte, es sei der Gärtner. Die zwei, die nach Emmaus wanderten, hielten den Mann für einen Fremden und erzählten ihm erstmal, was Sache ist. Erst als er sie anredete und das Essen ausgeteilt hat – da merkten sie: Das ist ja Jesus! Ihr inneres Auge erkannte ihn.
Blick in den HimmelIm „Buch der Offenbarung des Johannes“ ist am Ende der Bibel aufgeschrieben, was Johannes mit innerem Auge sah. Er erzählt es Menschen, die unter der aktuellen Regierungspolitik litten. „Wie lange müssen wir das noch aushalten?“, fragten sie.
Johannes nimmt sie mit an die offene Himmelstür: (Offenbarung 5, 6–14):
„Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Wesen und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande.
Und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß.
Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Wesen und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und ein jeder hatte eine Harfe und goldene Schalen von Räucherwerk, das sind die Gebete der Heiligen,
und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen
und hast sie unserm Gott zu einem Königreich und zu Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden.
Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron und um die Wesen und um die Ältesten her, und ihre Zahl war zehntausendmal zehntausend und vieltausendmal tausend;
die sprachen mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.
Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer, und alles, was darin ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit!
Und die vier Wesen sprachen: Amen! Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.“
Geheimnis um ein Buch und ein LammMitten im himmlischen Hofstaat sieht Johannes ein Lamm und ein siebenfach versiegeltes Buch.
Das „Buch mit sieben Siegeln“ ist sprichwörtlich geworden. Wir meinen damit: Ich versteh überhaupt nichts. Nicht wovon du sprichst, nicht, was das soll, und nicht, was danach kommt. Ich hab komplett die Orientierung verloren. Vielleicht erscheint uns der Sinn von dem, was wir zurzeit erleben, wie ein „Buch mit sieben Siegeln“.
Und dann ein Lamm im Thronsaal. Das Osterlamm aus Biskuit- oder Rührteig ziert dieser Tage manchen Frühstückstisch. „Dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit!“, singen die Gestalten um den Himmelsthron als Osterlied. Georg Friedrich Händel lässt sein Messias-Oratorium in diesen Osterjubel münden.
Der Chor bejubelt das Lamm. Es kann das siebenfach versiegelte Buch öffnen. Das konnte bisher noch niemand.
Das Lamm auf dem Ostertisch
Woher dieser Jubel?Johannes sieht ein Lamm mit tödlichen Wunden und mit sieben Hörnern und sieben Augen. Letztere sind Symbole für vollkommene Macht: Gegen diese Hörner kommt nichts und niemand an. Vor diesen Augen bleibt nichts verborgen – keine Tränen, kein Unrecht, keine Gewalt – auch wenn sie sich noch so sehr versteckt.
Die Chorsänger_innen freuen sich, dass die Macht bei dieser Lamm-Figur liegt. Ihre Augen sehen in ihm Jesus Christus. Der wurde tödlich verletzt – ist aber auferstanden und hält nun vom Himmel her die Fäden in der Hand.
Dieser Machthaber kennt das Leid, das Menschen zugefügt wird, aus eigener Erfahrung. Er weiß, was es bedeutet, verraten und verkauft zu werden und in die Hände brutaler Folterknechte zu fallen. Ihm kann keiner vormachen, es sei gar nicht so schlimm, wenn Menschen Menschen unterdrücken und das Leben nehmen. Das Wort „alternativlos“ kennt er nicht. Er ist die Alternative.
„Die Liebe ist stärker als der Tod!“ jubeln die Singenden. „Die Zukunft liegt bei Jesus Christus! Er steht Menschen zur Seite und hat das letzte Wort!“
Licht von innenErstaunlich, was passieren kann, wenn Menschen glauben, dass die Zukunft bei diesem „Lamm“ liegt und das Himmelslicht in ihnen strahlt.
Allan Boesak erzählt, was in Südafrika passiert ist im Kampf gegen Rassismus:
An einem Sonntagmorgen nehmen junge Christen dieses alte Lied aus Offenbarung 5 auf und machen daraus ein neues Lied. Sie tanzen um ein Polizeiauto, nachdem ein schwarzer Student verhaftet worden war: „Sie ist zerbrochen, die Macht des Satans ist zerbrochen! Wir haben den Satan enttäuscht, seine Macht ist gebrochen, Hallelujah!“ Während sie singen, wird das Lied von anderen aufgenommen. Die Polizei, verwirrt, verdutzt und auch etwas besorgt, lässt den Studenten wieder frei. Singend und tanzend kehren sie in die Kirche zurück. Dieses neue Lied ergreift und inspiriert Tausende und Abertausende in ganz Südafrika.
Geschehen hinter dem GeschehenJene jungen Leute in Südafrika tun so, als hätten auch sie direkt Einblick in den himmlischen Thronsaal.
Ihre Erzählung vom Geschehen hinter dem Geschehen unterscheidet sich klar von dem, was wir zurzeit in Verschwörungserzählungen hören: „Keine Gewalt!“ ist ihre Devise, denn Jesus hat seine Anhänger aufgerufen, nicht zum Schwert zu greifen. Jesus reagiert auf Gewalt mit Leiden und nicht auf Leiden mit Gewalt. Er erleidet Folter und Tod. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ betet er am Kreuz. An Ostern zeigt sich: Dieser Liebe konnte der Tod nichts anhaben.
In dieser Haltung widerstehen die von Jesus Inspirierten der Einteilung in gute und böse Menschen. Sie sehen, was die antreibt, die gegen sie vorgehen. Welche Ängste, welche Tragik. „Ich seh etwas, was du nicht siehst!“
Und sie sehen weiter, was viele noch nicht sehen: Unterschiedlichste Menschen können friedlich zusammenleben. Sie vertrauen darauf, dass Liebe Erstaunliches bewirkt. Gerade dort, wo einer verwundet und bedroht ist.
Hoffnung inmitten der VerwundetenImmer wieder entdecke ich diese Kraft auch in meiner Umgebung.
Ich staune über Emma mit ihrer Multiplen Sklerose. Gelähmt bis zum Hals ist sie inzwischen. Doch sie bekommt viel Besuch. „Die Emma sagt so gute Sachen“, sagen die Leute, wenn sie vom Besuch zurückkommen.
Ich erinnere mich an Bernhard. Bernhard führte eine Bücherstube. Er war querschnittsgelähmt. Ja, man konnte dort auch Bücher bestellen – aber eigentlich war’s vor allem ein Raum, wo man einfach da sein konnte. Bernhard saß auf seiner Bank und wollte wissen, wie’s gerade geht. Nur mühsam und sichtlich unter Schmerzen konnte er ein bisschen hin und herrutschen. Doch wer ein paar Minuten bei ihm am Tisch saß, ging gesegnet wieder hinaus.
Wer Emma besuchte oder wer bei Bernhard reinschaute, wusste: Die sehen etwas, was ich nicht sehe.
Vielleicht brauche ich mehr Begegnungen mit verwundeten Menschen, damit mir das Weltgeschehen weniger „Buch mit sieben Siegeln“ bleibt. Vielleicht seufze ich mit ihnen zusammen: „Wie lange sollen wir das noch aushalten!“ Mag sein, dass gerade dann ein Lichtstrahl vom Himmel fällt aus jener Welt, in der das Osterlamm regiert. Amen.
Wichtige Anregungen für diese Predigt sind entnommen aus:
Boesak, Allan, Schreibe dem Engel Südafrikas. Trost und Protest in der Apokalypse des Johannes, Stuttgart 1988; Sylvia Bukowski, Mitten im Alltag ein neues Lied. Predigtmediation zum Ostermontag, 5.4.2021. In: Göttinger Predigtmeditationen Jg 75/2 2021, 273-277 sowie aus Gesprächen mit Dr. Gerhard Schäberle-Koenigs.
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