Neujahrstag (01. Januar 2013)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Reiner Strunk, Denkendorf [Reiner.Strunk@gmx.de]

Hebräer 13, 14

Liebe Gemeinde,
dieses Wort aus dem Hebräerbrief besteht aus zwei Hälften. Die erste Hälfte formuliert eine Erfahrung, die zweite eine Hoffnung.

Die Erfahrung: keine bleibende Stadt!

Wir haben hier keine bleibende Stadt. – Das scheint klar und ohne weiteres verständlich zu sein. Aber ist es so klar?

Das Beispiel Jakob: auf der Flucht
Nehmen wir Jakob zum Beispiel. Den Jakob aus der Bibel. Es ging ihm nicht schlecht daheim und er scheint sich wohl gefühlt zu haben im Haus seines Vaters Isaak und seiner Mutter Rebekka. Und dann – plötzlich – kann er doch nicht bleiben. Er hat seinen Bruder Esau übers Ohr gehauen und seinen blinden Vater Isaak dazu, und nun gibt es da kein Bleiben mehr für ihn. Der Boden brennt ihm unter den Sohlen, und er muss weg, ab in die Ferne. Keine bleibende Stadt für Jakob im Hause des Vaters.
Und dann kommt er nach Bethel und hat diesen wunderbaren Traum von den Engeln, die auf einer himmelhohen Leiter zu ihm niedersteigen, und am andern Tag baut er einen Altar an der Stelle, ein Heiligtum für Gott, und kann doch nicht bleiben. Die Sorge, eingeholt zu werden vom grimmigen Bruder, treibt ihn weiter.
Und dann landet der Flüchtige fernab auf den Besitzungen Labans, des Onkels. Und der nimmt ihn freundlich auf und bietet ihm Arbeit. Jakob stellt sich geschickt an, denn geschickt war er nun mal in vielerlei Hinsicht, und er wird reich an Vieh und bekommt sogar Labans Tochter, die schöne Rahel, zur Frau. Anscheinend ein Ort zu bleiben, sich niederzulassen und auf Dauer einzurichten. Aber dann wird es ihm doch zu eng, unserem Jakob, zu eng in Labans Zäunen und zu eng im eigenen Herzen, weil da etwas zieht in seinem Herzen und das zieht ihn nach Hause. Heimweh nennen wir das. Also wieder keine bleibende Stadt für Jakob.
Er macht sich auf eines Tages mit all seinen Gütern, mit seiner Familie und seinem Gesinde, und tritt den Rückweg an, den Heimweg, den Weg dorthin, wo ihm endlich ein Bleiben vergönnt sein soll. Jetzt endlich – eine bleibende Stadt?
Jahre gehen hin, und eine gewaltige Dürre legt sich auf das Land. Die Felder sind kahl, die Tiere brüllen, im eigenen Topf ist auch nicht viel. Große Hungersnot. Hunger kann man aushalten eine Weile, aber nicht auf Dauer. Auf die Dauer geht man entweder zugrunde am Hunger oder man geht fort und sucht andere Gebiete, wo es zu essen gibt. Jakob schickt seine Söhne nach Ägypten hinunter, wo Joseph der Herr über gefüllte Kornspeicher ist. Und dann holen sie ihn nach, den alten Jakob. Der Alte soll dahin kommen, wo die Jungen sind. Auch so ein bekanntes Spiel des Lebens. Und Jakob muss wieder den Ort verlassen, der seine Heimat geworden war, und es war wieder keine bleibende Stadt für ihn. So kam er nach Ägypten in Josephs Nähe und lebte in Ägypten und starb auf fremder Erde. Nachher haben sie ihn feierlich zurückgebracht ins Land seiner Väter und im Familiengrab beigesetzt. Sollte das nun die endgültig bleibende Stadt sein nach einem unruhigen Leben?

Unterwegs sein
Was von Jakob erzählt wird in der Bibel, ist seine Geschichte, gewiss, aber sie enthält zugleich sehr ähnliche Geschichten von vielen, vielen Menschen aus aller Welt. Da sind die, die davon müssen, weil sie irgendetwas auf dem Kerbholz haben. Sie können nicht bleiben, weil sie Nachteile, vielleicht Strafen zu fürchten haben. Keine bleibende Stadt! – Und da sind die, die einmal weggezogen sind von daheim und sich eingerichtet haben in der Fremde, aber das Heimweh zieht in ihrer Seele, und sie machen sich wieder auf zu finden, was sie in der Fremde nicht gefunden haben. Keine bleibende Stadt! – Und dann sind da noch die, es waren immer viele im Lauf der Geschichte, aber heute werden es mehr und immer mehr: Millionen von Menschen, die Hunger leiden, weil ihr Land nicht hergibt, was zum Überleben nötig wäre. Sie kommen um oder sie wandern aus. Und wenn sie wegziehen aus ihrer Heimat und ankommen in fremden Ländern, sind sie nirgendwo gern gesehen, und es werden Gesetze gemacht, die es erlauben, sie schnell wieder fortzuschicken. Bloß – wo sollen sie hin? Sie haben nirgendwo eine bleibende Stadt.
Aber, liebe Gemeinde, sie wissen es wenigstens. Es gibt genug andere, die es nicht wissen. Die leben und ihr Leben einrichten, als hätten sie eine bleibende Stadt und müssten bloß Sorge um sie tragen und sie notfalls verteidigen. Dazu wurden früher Burgen gebaut und Festungen und massive Stadtmauern und was sonst. Ein Haufen von Maßnahmen, die imstande sein sollten, diesen Erfahrungssatz ins Unrecht zu setzen: „Wir haben hier keine bleibende Stadt?“ Von wegen! Wir haben eine, wir bauen uns eine, wir richten uns ein, dass uns nichts und niemand beikommen kann! – Und dann fahren die Späteren durchs Land und sehen überall die Burgruinen und die zerstörten Festungen und die verfallenen Mauern. Es gibt wirklich keine bleibende Stadt für uns.
Am nachdrücklichsten hat das Jesus deutlich gemacht in seinem Gleichnis vom reichen Kornbauer. Diesem Mann, der es geschafft zu haben glaubte mit der bleibenden Stadt. Die Scheunen voll und das Konto dick, da war das Bleiben doch wohl gesichert, für heute und morgen und weit hinaus. Und Gott redet zu ihm in der Nacht und sagt: Du Narr, in dieser Nacht noch fordert man das Leben von dir! – Ja, richtig: wir haben hier keine bleibende Stadt, und wohl dem, der diese Erfahrungseinsicht nicht wegschiebt, sondern beherzigt.
Das wäre nun der erste Teil der Jahreslosung, diese Erfahrung, die jeder machen kann, wenn er bloß will. Der zweite Teil betrifft eine Hoffnung: „sondern die zukünftige (Stadt) suchen wir.“

Die Hoffnung: … die zukünftige suchen wir

Auf dem Weg – nach Jerusalem
Wenn Sie einmal in Worms sind und nicht bloß den Dom besuchen, sondern auch den großen jüdischen Friedhof nicht weit davon; oder wenn Sie anderswo, beispielsweise in Buttenhausen auf der Alb, über den jüdischen Friedhof gehen, dann weht Sie gleich etwas an von der Wahrheit dieses Satzes: die zukünftige Stadt suchen wir. Da finden Sie diese Reihen von Grabsteinen mit ihren hebräischen Schriftzeichen und sie stehen grade und schief beieinander, nach vorn oder zur Seite geneigt vor lauter Alter und Hinfälligkeit, aber sie sind alle in derselben Weise ausgerichtet nach Osten, nach Jerusalem. Das wandernde Gottesvolk auf dem Weg nach Zion. Jetzt, an dieser Stelle sind es nur noch die Steine, die Grabsteine mit den jüdischen Namen, die Zeugen dieser großen, scheinbar unaufhaltsamen Bewegung sind. Aus allen erdenklichen Fremden der Welt bewegt sich der unsichtbare Zug des Gottesvolks in Richtung Jerusalem, der zukünftigen Stadt, wo für sie das Versprechen eines Bleibens eingelöst werden soll. Vertrieben und umhergestoßen in allen Weltgegenden lebt das Gottesvolk stellvertretend diese Wahrheit, dass es hier keine bleibende Stadt gibt. Aber sie leben – und dies ist das schier Unglaubliche: sie leben es nicht in Angst und Verzweiflung. Sie leben es vielmehr in der Hoffnung, dass da noch eine Heimat wartet auf sie, eine ewige Heimat, aus der man sie nicht mehr vertreiben und davonjagen kann: die Heimat bei Gott. – Im selben Hebräerbrief, aus dem die Jahreslosung genommen ist, heißt es an anderer Stelle: „Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes“ (4,9). Eine Ruhe, ja, und ein Bleiben. Die Ruhe hat mit dem Sabbat zu tun und der Sabbat mit der Ruhe Gottes selber. Wo Gottes Ruhe ist, da kann auch der Mensch – endlich – zur Ruhe kommen. Er kann ausruhen von seinen Wegen durch die Welt. Und kann bleiben!

Unterwegs – das Reich Gottes
Gehen wir noch einen Schritt weiter im Nachdenken über die Jahreslosung. Denken wir an Jesus. Diesen Jesus, der ja mitten hineingehört ins Gottesvolk, von dem die Rede war. Auch er hatte wahrhaftig keine bleibende Stadt auf der Erde. Schon bevor er auf die Welt kommt, müssen seine Eltern auf die Wander-schaft. Und kurz darauf, so erzählt Matthäus, müssen die Eltern mit dem Baby auf der Flucht vor Herodes hinunter nach Ägypten. Später, als erwachsener Mann, ist er ständig unterwegs, rastlos, wie getrieben. Eine bleibende Stadt? Die Füchse haben Gruben und die Vögel haben Nester, aber der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlegen kann, erfahren wir von ihm. Was für ein Vertreter des wandernden, nicht zur Ruhe kommenden Gottesvolks!
Und warum das alles? Gewiss, Jesus wollte den Menschen nahe kommen; den Versehrten, um zu heilen; den Traurigen, um zu trösten; den schuldig Gewordenen, um sie frei zu sprechen. Und bei und in alledem, um das Reich Gottes zu verkündigen. Das Reich Gottes – ein großes Wort. Auch ein schwieriges Wort.
Wir können etwas davon verstehen, wenn wir an die zukünftige Stadt denken, die der Hebräerbrief anspricht. Die künftige Stadt Gottes, in der es ein Bleiben geben wird. Das himmlische Jerusalem, wie es auch heißen kann in der Bibel. Leben bei Gott und mit Gott.

Unterwegs in der Hoffnung – befreit
In der Bergpredigt hat Jesus die Menschen angesprochen auf ihr Sorgen. Diese grundmenschliche und scheinbar unausrottbare Mentalität der Menschen, für ihr Leben unausgesetzt Sorge zu tragen. Deshalb müssen sie ständig Dinge besorgen, Besorgungen gegen den Hunger, gegen die Kälte, gegen Feinde, gegen die Langeweile. Aber was macht ihr da eigentlich? fragt Jesus. In was für eine Unruhe der Seelen und was für eine Hektik des Leibes treibt ihr euch da hinein Tag für Tag? Als Sklaven eures ständigen Besorgenmüssens? Und so vermeidet ihr es, unwissend, aber folgenschwer, dass schon etwas von der Ruhe Gottes hineinscheinen kann in euer unruhiges Leben. Ihr seid wie besessen davon, bei dem bleiben zu sollen, was ihr habt; was ihr einmal erworben, in Besitz genommen und festgehalten habt. Ihr wollt euer Bleiben besorgen. Euer Bleiben möglichst in allen Beziehungen des Lebens. Ihr überseht und vergesst aber, dass wir hier keine bleibende Stadt haben. Und dann sagt Jesus an der betreffenden Stelle diesen entscheidenden Satz: „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen“ (Mt 6,33). Zufallen, das heißt: geradezu in den Schoß fallen, ja! Die Besorger (und das sind wir ja alle!); die Besorger sind mehr oder weniger vollständig mit der Sicherung ihres Lebens beschäftigt. Sie rechnen gar nicht damit, dass ihnen etwas, und zwar etwas Entscheidendes, in den Schoß fallen könnte. Wie denn auch?! Keinem wird was geschenkt! Und wer nicht plötzlich mit leeren Händen dastehen und den Bach hinunter gehen will, der muss aufpassen und sich an-strengen! So heißt es. Und genau danach leben wir gewöhnlich und suchen ein Bleiben, das es so gar nicht gibt, und verheddern uns in Betriebsamkeit und stöhnen, dass wir keine Zeit haben und dass uns irgendwann der Infarkt erwischt. Und der eigene Kampf ums Bleiben wird zu einem Kampf, den wir immer bloß verlieren können. Immer bloß verlieren!
Nein, sagt Jesus, sorget nicht und erstickt nicht im Trubel eures Besorgens. Sucht zuerst, also in erster Linie das Reich Gottes, die Nähe und die Wahrheit Gottes, dann werdet ihr merken, wie das Besorgen unwichtiger und unwichtiger wird. Und es stellt sich etwas ein, das mit der Erfahrung von Ruhe zu tun hat. Die Ruhe eines ungestörten Bleibens. Sie kann nur von Gott hineingegossen werden in unser Herz. So hat es der große Kirchenvater Augustin erkannt und umschrieben in seinem Satz: „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“
Amen.

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