Miserikordias Domini (14. April 2024)

Autorin / Autor:
Landesfrauenpfarrerin Karin Pöhler, Stuttgart [Karin.Poehler@elk-wue.de]

1. Mose 16, 1-16

IntentionDie Geschichte von Hagar ist geprägt von Leid und Schmerz und ohne richtiges Happy End. Hagar erlebt strukturelle und persönliche Gewalt und findet sich in einer Situation der Ohnmacht und Hilflosigkeit wieder. Sie kennt nur noch einen Ausweg: Sie flieht in die Wüste und findet von dort wieder einen Weg zurück ins Leben. Am Ende ist nicht alles gut. Hagar wird weiterhin als Sklavin leben, doch sie findet ihre Würde wieder. In der Predigt möchte ich aufzeigen, welche Ressourcen Hagar helfen, in dieser schwierigen Lage ihren Weg zu gehen.
Vorsicht Trigger! Es ist damit zu rechnen, dass Menschen im Gottesdienst sitzen, die ähnliche Gewalt erfahren haben. Deshalb möchte ich die ausweglose Situation der Hagar möglichst wenig ausschmücken und eher vom Ende her im Rückblick betrachten.

Hätten Sie’s gewusst?Stellen Sie sich die Sendung „Wer wird Millionär?“ vor:
Die Kandidatin hat mit viel Wissen und der nötigen Ruhe, auch mit ein bisschen Glück, die Millionenfrage erreicht. Sie lautet:
Welche biblische Person gab als erste Gott einen „Namen“?
Hätten Sie’s gewusst?

Ich vermute, die Geschichte, in der uns von dieser Benennung Gottes berichtet wird, gehört zu den weniger bekannten Erzählungen der Bibel – auch wenn die Jahreslosung des vergangenen Jahres dieser Perikope entnommen ist. Seither ist zumindest der erste Name Gottes als ein „Gott, der mich sieht“ geläufig. Inzwischen wissen vermutlich viele, wer gemeint ist: Es ist Hagar, Sarais ägyptische Magd.
Ich finde das übrigens äußerst bemerkenswert: eine gedemütigte ägyptische Slavin ist nach der biblischen Überlieferung die erste Person, der Gott einen Namen gibt. Und diese Geschichte wird weitererzählt von Generation zu Generation bis heute.

Die Erzählung ist uns überliefert im 1. Buch Mose:
„Sarai, Abrams Frau, gebar ihm kein Kind. Sie hatte aber eine ägyptische Magd, die hieß Hagar. Und Sarai sprach zu Abram: Siehe, der HERR hat mich verschlossen, dass ich nicht gebären kann. Geh doch zu meiner Magd, ob ich vielleicht durch sie zu einem Sohn komme. Und Abram gehorchte der Stimme Sarais. Da nahm Sarai, Abrams Frau, ihre ägyptische Magd Hagar und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau, nachdem Abram zehn Jahre im Lande Kanaan gewohnt hatte.
Und er ging zu Hagar, die ward schwanger. Als sie nun sah, dass sie schwanger war, achtete sie ihre Herrin gering. Da sprach Sarai zu Abram: Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich! Ich habe meine Magd dir in die Arme gegeben; nun sie aber sieht, dass sie schwanger geworden ist, bin ich gering geachtet in ihren Augen. Der HERR sei Richter zwischen mir und dir. Abram aber sprach zu Sarai: Siehe, deine Magd ist unter deiner Gewalt; tu mit ihr, wie dir’s gefällt. Da demütigte Sarai sie, sodass sie vor ihr floh.
Aber der Engel des HERRN fand sie bei einer Wasserquelle in der Wüste, nämlich bei der Quelle am Wege nach Schur. Der sprach zu ihr: Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her und wo willst du hin? Sie sprach: Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen. Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand.
Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können. Weiter sprach der Engel des HERRN zu ihr: Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn der HERR hat dein Elend erhört. Er wird ein Mann wie ein Wildesel sein; seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn, und er wird sich all seinen Brüdern vor die Nase setzen.
Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht(1). Denn sie sprach: Gewiss hab ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat. Darum nannte man den Brunnen: Brunnen des Lebendigen, der mich sieht(2). Er liegt zwischen Kadesch und Bered.
Und Hagar gebar Abram einen Sohn, und Abram nannte den Sohn, den ihm Hagar gebar, Ismael. Und Abram war sechsundachtzig Jahre alt, als ihm Hagar den Ismael gebar.“

Hagar kennt nur noch einen Ausweg: FluchtViele von ihnen kennen vermutlich ähnlich unerträgliche Situationen im Leben: Wir stecken in einer komplett miesen Lage. Wir haben weder die Macht, die Bedingungen, unter denen wir leiden, zu ändern, noch die Kraft, die Situation zu ertragen. Wir fühlen uns ohnmächtig und hilflos. Da hilft dann offenbar nur noch eines: raus aus der Situation – selbst wenn es bedeutet, in die Wüste zu gehen. Und manchmal können wir nicht mal das.
Wir treffen nun Hagar auf ihrer Flucht. Es wird erzählt, dass sie auf dem Weg vom heutigen Hebron – wo sich Abram mit seiner Sippe niedergelassen hatte – nach Schur ist. Schur, das steht für Ägypten. Der Ort, an dem wir Hager treffen, wird nicht allzu weit hinter Beerscheba vermutet. Die Schwangere hat also schon über 50 km zurückgelegt. Hinter Beerscheba beginnt die Wüste. Lebensfeindlicher Raum. Hagar hat hier eine Wasserquelle gefunden. Erschöpft rastet sie dort. So findet sie der Engel des HERRN. Er spricht sie an. Mit Namen und „Stand“: „Hagar, Sarais Magd“. Und er stellt ihr zwei existentielle Fragen: „Wo kommst du her und wo willst du hin?“ Wo kommst du her? Was ist deine Geschichte? Was hat dich hierher in die Wüste geführt? Welche Erfahrung bringst du mit?
Und: Wo willst du hin? Wie soll es weitergehen?

Eine Wasserquelle in der WüsteDiese Begegnung mit dem Engel ist wie eine Wasserquelle in der Wüste, wie der Schatten eines Baumes in der Mittagshitze. Der Engel des HERRN spricht Hagar mit Namen an. Nicht wie Sarai und Abram, die sie nur „die Magd“ nennen. Schon dadurch beginnt sich ihre Würde in ihr wieder aufzurichten.
Der Engel des HERRN interessiert sich für sie. Nicht wie Sarai und Abram, die einfach über sie verfügten, sie zu einem namenlosen Objekt degradierten, als Mittel für ihre Zwecke.
Diese Ansprache ermöglicht es Hagar, über ihr Unglück zu sprechen: „Ich bin auf der Flucht vor meiner Herrin Sarai.“ Mehr sagt sie nicht. Mehr braucht es auch nicht.

Was für eine Zumutung!Der Engel des HERRN redet weiter. Dreimal setzt er an. Hagar sagt erstmal nichts.
Es ist auch eine ungeheuerliche Zumutung, die der Engel des HERRN ihr auferlegt:
„Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand.“
Das ist nicht nur für uns heute schwer erträglich. Es ist auch für die damalige Situation eine ungewöhnlich harte Reaktion. Im 5. Buch Mose heißt es, dass einer entflohenen Sklavin Zuflucht gewährt werden soll. Sie soll nicht zu ihrer Herrin zurückgebracht werden.

Was für VerheißungenUnd weil man das so nicht einfach stehen lassen kann, fährt der Engel des HERRN fort: „Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können.“ – Das kommt ihnen vermutlich bekannt vor. Im vorhergehenden Kapitel steht Abram unterm nächtlichen Sternenhimmel und bekommt eine ganz ähnlich lautende Verheißung zugesagt.
Der Engel verspricht Hagar also eine großartige Zukunft, vergleichbar mit derjenigen, die Abram versprochen wurde.
Doch auch das reicht noch nicht aus. Deshalb setzt der Engel des HERRN zum dritten Mal an: Er erinnert Hagar an ihre Schwangerschaft, an ihre Gabe, neues Leben hervorzubringen. Der Sohn, den sie schon sichtbar in ihrem Leib trägt, soll zu einem Zeichen werden. „Ismael“ soll sie ihn nennen, „Gott hat gehört“.
So wird sich Gott selbst später dem Mose vorstellen, der sein ganzes Volk aus der Sklaverei befreien soll. Bei der Begegnung am brennenden Dornbusch sagt Gott „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger habe ich gehört.“ Das ist ein immer wiederkehrendes Motiv der biblischen Geschichten: dass Gott hinsieht und hinhört, wo Menschen leiden. Es ist ihm nicht egal. Er stellt nicht die Musik lauter, wenn die Nachbarn mal wieder handgreiflich werden. Und er wechselt auch nicht die Straßenseite, um eine unangenehme Begegnung zu vermeiden. Im Gegenteil: Er hat sogar seinen himmlischen Thron verlassen, um mitzuleiden und den Menschen im Elend nah zu sein.

Gott sieht michJetzt reagiert Hagar auf die Ansprache des Engels: „Du bist ein Gott, der mich sieht. Gewiss habe ich hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat.“ Indem sie das für sich bekennt und Gott einen Namen gibt, wird sie vom namenlosen Objekt, das Gewalt und Missbrauch erleidet (wieder) zum aktiven Subjekt. Gott ist da und sieht sie an. So bekommt sie ihr Ansehen zurück. Sie wird sich ihrer selbst neu versichert. (2) Der Engel des HERRN spricht sie mit Namen an und bekräftigt so ihren Anspruch auf Leben, ihr Recht zu sein. Deshalb wird sie anders zurückkehren, als sie aus Hebron geflohen ist. Sie ist nicht mehr hilfloses und ohnmächtiges Objekt ihrer Herrin. Das gibt ihr Kraft, das schier Unaushaltbare zu ertragen.

Das kann ResilienzMir gefällt diese Geschichte, weil sie so realistisch ist. Hagar bleibt eine Sklavin. Erst ihr Sohn Ismael wird sein wie ein Wildesel. Er wird frei sein, unzähmbar, im Streit zwar mit seinen Brüdern, aber kein Sklave mehr, sondern frei.
Das ist kein Friede-Freude-Eierkuchen, kein Happy End, aber gerade dadurch entfaltet es seine stärkende Kraft. Das Leben ist kein Ponyhof und wird es nie sein. Damit müssen wir leben.
Es wäre naheliegend, auf diese Erkenntnis mit Resignation zu reagieren. Doch die Geschichte von Hagar ist keine Erzählung von Resignation. Es ist kein stilles Sich-in-ihr-Schicksal-Ergeben und das Leid einfach erdulden, zu dem der Engel Hagar auffordert. Es ist mehr ein Durchhalten, das gehalten ist in dem Wissen, dass Gott da ist und das von Hoffnung genährt wird, weil es um eine verheißungsvolle Zukunft weiß.
An Hagar können wir erkennen, wie eine lebensfeindliche Situation lebbar werden kann, ohne dass wir daran zerbrechen. Ich denke, das ist auch gemeint mit Resilienz (3) , von der heutzutage so viel geredet wird.

Zwei Elemente scheinen mir dabei wichtig:
Zum einen das Vertrauen in die Zusage Gottes „Ich bin da. Ich sehe und ich höre dich.“
Ich höre dein Schreien, deine Klage überhöre ich nicht. Ich höre und erhöre dich.
Ich bin ein Gott, der dich sieht. Ich scheue nicht davor zurück, in die menschlichen Abgründe zu blicken in den Schützengräben und Folterkellern. Ich sehe die versklavten Menschen auf den Baumwollfeldern und in den Goldminen. Auch das Leid der missbrauchten und ausgebeuteten Menschen ist mir nicht fremd. Und auch nicht das der Enttäuschten, Verlassenen oder Einsamen.
Und zum zweiten braucht es das Vertrauen auf eine Zukunft. Die Zuversicht, dass es nicht immer so bleiben muss.
Hagar hat beides in der Begegnung mit dem Engel Gottes in der Wüste erfahren.
Ich wünsche auch Ihnen die Begegnung mit einem solchen Engel, wann immer sie ihn brauchen. Amen.

Anmerkungen
1 Vgl. das Gedicht „Aufhebung“ von Erich Fried.
2 Vgl. das Gedicht von Hilde Domin: Es gibt Dich.
3 Der Begriff Resilienz kommt ursprünglich aus der Materialkunde. Er beschreibt Stoffe, die so elastisch sind, dass sie selbst bei einer extremen Verformung nicht zerbrechen, sondern sogar wieder in ihren Ursprungszustand zurückfinden. Resilienz im psychologischen Sinn ist die Fähigkeit, Krisen zu meistern und sich von Traumata nicht unterkriegen zu lassen.


Wertvolle Hinweise verdanke ich Barbara Schenck mit ihrem Beitrag zu Gen 16,1-16 am Sonntag Miserikordias Domini, in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext zur Perikopenreihe 6, hg. von Studium in Israel e.V., Berlin 2023 und der gemeinsamen Arbeit mit Christiane Wellhöner am Impuls für einen traumasensiblen Gottesdienst am 2. Sonntag nach Ostern (www.fachstelle-gottesdienst.de).



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