Miserikordias Domini (18. April 2021)
Dekanin Elisabeth Hege, Tübingen [Elisabeth.Hege@elkw.de]
Ezechiel 34,1–2(3–9)10–16.31
IntentionKritik an Verantwortungsträgern hat ihr Recht. Aber sie ist kein Selbstzweck.
Der Blick geht auf den, der uns in die Mit-Verantwortung nimmt und der selbst der gute Hirte ist.
Liebe Gemeinde!
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln...“ Die Psalmworte sind uns vertraut.
Sie lassen vor unseren Augen ein Bild des Vertrauens entstehen: Der Hirte, der seine Herde kennt, jedes seiner Tiere; der auf sie achthat und weiß, was sie brauchen.
Die Bibel erzählt oft Hirtengeschichten. Von Abraham. Von Mose. Und von David, dem Hirtenjungen, der später König wurde. Jüdische Schriftausleger haben sogar gesagt: Gott hat sie alle zuerst als Hirten geprüft, ehe er ihnen sein Volk anvertraute. Um Fürsorge und Verantwortung geht es da; und um Achtsamkeit im Umgang mit anderen.
Trotzdem: Schafhirten und Menschenhirten. Geht diese Gleichung für uns noch auf?
Wer will schon Schaf sein, brav hinterdreinlaufen, abhängig sein?
Da spüre ich Widerstand, auch bei mir: Der Mensch, das Schaf? – Nein, das geht gar nicht!
Der heutige Predigttext nimmt das vertraute Bild von Hirten und Herde auf. Doch er tut dies in ungewohnter, kritischer Weise. Hören wir aus dem Buch des Propheten Ezechiel, Kapitel 34, zunächst den Anfang, die Verse 1 bis 10:
„Und des HERRN Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR:
Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden.
Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut. Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut, und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder sie sucht.
Darum hört, ihr Hirten, des HERRN Wort! So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten, darum, ihr Hirten, hört des HERRN Wort! So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.“
Von den Aufgaben und vom Versagen der HirtenWehe, wenn Hirten so sind, liebe Gemeinde! Der Prophet hatte seine Zeit und sein Land, Jerusalem und Juda, vor Augen. Und die, die Verantwortung trugen. Trotz aller Warnungen wollten sie die politischen Fakten und Kräfteverhältnisse nicht sehen – und steuerten sehenden Auges in die Katastrophe, in den Krieg: Jerusalem wurde erobert und bis auf die Grundmauern zerstört. Das Heiligste, der Tempel wurde geplündert und niedergebrannt. Tausende Menschen haben ihr Leben verloren. Die Überlebenden haben namenloses Leid erlitten. Viele verloren ihre Freiheit, wurden deportiert, ins Exil nach Babylon verschleppt. Ezechiel war einer von ihnen.
Die Könige, die Machthaber als Hirten. Nicht nur der Prophet hat sie so gesehen. Könige wurden oft als Hirten dargestellt. Ezechiel hat das überkommene Bild kritisch abgeklopft. Er hat es aus dem zeremoniellen Rahmen genommen und neu angeschaut. Was wäre denn die Aufgabe von Hirten, hat er gefragt.
Und man versteht unmittelbar, was er meint: Gute Hirten sind nicht die Leithammel, nicht die Alpha-Tiere. Hirten gehen mit der Herde und hinter ihr her. Hirten sorgen für Nahrung, für gute Weide und frisches Wasser und halten alle zusammen, so verschieden sie sind. Sie stärken die Schwachen oder Verletzten und geben den Starken genügend Raum. Sie hüten, was ihnen anvertraut ist. Sie plündern die Herde nicht aus und setzen die Zukunft nicht aufs Spiel.
All das sind die Aufgaben eines jeden, der Verantwortung für andere trägt. Im Kleinen. Und auch für ein ganzes Land: Für Schutz und für Frieden zu sorgen, für Gesundheit und Wohlergehen und für ein gedeihliches Miteinander.
Eigentlich sollten die Herrscher in Jerusalem ihrem Volk so dienen. Stattdessen haben sie sich selbst bedient. Sie haben ihr Amt missbraucht und viele mit in den Strudel gerissen. Wehe solchen Hirten, klagt der Prophet. Hirten, die sich selbst weiden, die willkürlich herrschen und niedertreten, was sie schützen sollten.
Wenn Hirten so sträflich versagen, dann können sie nicht länger im Amt bleiben. Wenn Gott sein Volk zerstreut und verloren sieht wie Schafe ohne Hirten – dann wird er nicht einfach zusehen. Er wird seine Herde, sein Volk, seine Menschen von den Hirten zurückfordern.
Und er wird noch einmal neu beginnen.
Es kann Mut kosten und sogar gefährlich werden, sich so kritisch und offen zu äußern! Vielleicht war es auch für Ezechiel so. Es ist jedenfalls eine höchst politische Rede – und sie ist aktuell wie eh und je.
Denken Sie an einen Diktator wie Assad und an den Bürgerkrieg in Syrien: Das Land liegt in Trümmern. Und wie unendlich viel Leid hat er über die Menschen gebracht!
Oder denken wir an Korruption und schlechte Regierungsführung: In wie vielen Ländern leiden Menschen darunter. Die besonders Verletzlichen, Kinder und Jugendliche, Kranke und Hochbetagte, trifft es oft am ärgsten.
Können wir uns aber einfach hinstellen und sagen, wie es stattdessen geht, liebe Gemeinde? Missbrauchte Macht und missbrauchtes Vertrauen gehen uns in der Kirche leider genauso an. Auch das Bild von den geistlichen Hirten hat tiefe Risse bekommen. Auch wir spüren, dass Vertrauen verloren gegangen ist.
Für den Propheten geht es bei aller klaren Kritik noch um mehr. Er will nicht nur auf das Versagen der Hirten zeigen oder pauschal auf „die da oben“ schelten.
Solche Schelte erleben wir zurzeit ja auch, sogar mehr denn je: Angriffe auf gewählte Amtsträger, auf Parlamente oder auf „die Medien“.
Noch wichtiger ist für Ezechiel aber die Hoffnung: Gott selbst wird zum Hirten – zu dem guten Hirten, der da ist, wo Menschen verlassen, verirrt und verwundet sind.
Unsere Hirtenämter – und der gute HirteHören wir den zweiten Teil des Predigttextes (34, 11 - 16.31):
„Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. Ich will sie aus den Völkern herausführen und aus den Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und wo immer sie wohnen im Lande. Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da erden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist. Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.“
“Ihr sollt meine Herde sein ...“
Wie viele haben im Gebet zu Gott gerufen! Und er greift ein: Ich will meine Schafe selbst weiden, ich will mich um meine Menschen kümmern. Die Sorge um die Menschen wird Chefsache.
Gott tut alles, was ein guter Hirte tun muss: Er stärkt die Schwachen. Er verbindet die Verletzten.
Er nimmt sich der Menschen an, geht ihnen nach, jedem Einzelnen. Er wird auch sein verstreutes Volk wieder zurückbringen und wird ihnen Ruhe und Frieden geben. So kündigt Ezechiel es seinen geschundenen und traumatisierten Zeitgenossen an.
Das setzt Maßstäbe, was Menschen brauchen: Sorge brauchen sie. Fürsorge.
Und sie brauchen Anleitung und den Mut, selbst Verantwortung zu übernehmen, damit die Gemeinschaft nicht immer weiter auseinanderdriftet.
Es kommt dabei nicht nur auf die an, die große Macht haben. Sondern auf jeden und jede von uns.
Gott nimmt uns mit in die Verantwortung. Er traut sie uns zu! Im Hirtenkapitel bei Ezechiel wendet Gott sich auch ganz direkt an seine „Menschenherde“ und sagt: „Aber zu euch, meine Herde, spricht Gott der Herr: Siehe, ich will richten zwischen Schaf und Schaf …“.
Wo immer Menschen die Aufgabe haben, nach anderen zu sehen, wo immer wir Verantwortung für andere tragen – im Beruf oder in der Kirchengemeinde, als Eltern oder als Pflegende – da sind wir selbst Hirten. Und Gott ist es nicht gleichgültig, wie wir unser Hirtenamt wahrnehmen.
Es gibt zum Glück viele solche Hirtinnen und Hirten. Menschen, die das Sorgen und Helfen, das Pflegen und Heilen, zu ihrer Aufgabe gemacht haben. Solche Menschen schauen nicht nur nach sich selbst. Sie führen andere „zum frischen Wasser“. Sie leiten sie an. Sie trösten sie. Sie stehen ihnen bei.
Aber vielleicht haben wir Sorge, der Verantwortung nicht gerecht zu werden – so wie es vorhin angeklungen ist?
Für den Propheten liegt alle Hoffnung darauf, dass Gott selbst einen guten Hirten für sein Volk erwecken wird. „Knecht Davids“ nennt er ihn. Er wird sein Volk in Gottes Geist leiten.
Für unsere Ohren klingt da schon an, was Jesus später gerufen hat: „Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme und ich kenne sie und sie folgen mir“. Oder sein Heilandsruf: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“
Ja, wir glauben: Er ist der gute Hirte. Wir gehören zu ihm. Er stärkt die Schwachen. Er verbindet die Verletzten. Er bringt die Verirrten wieder zurück. Und er gibt auch den Starken Raum. Gerade, wo wir Verantwortung tragen, im Gelingen wie im Versagen, sind wir getragen von dem Einen, der unser guter Hirte ist, und von seiner Barmherzigkeit.
Denn er führt die Seinen auch durchs „finstere Tal“.
An Ostern hat Gott seinen geschundenen und gekreuzigten Sohn herausgeführt aus der Macht des Todes. Da hat auch die letzte Finsternis ihre Schrecken verloren. Gott hat seinen Widerspruch eingelegt. Gegen die schlechten Hirten. Gegen die Angst. Und zuletzt gegen den Tod.
Darauf vertraue ich, auch in schwieriger Zeit: “Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Amen.
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