Miserikordias Domini (05. Mai 2019)
Dekan Eberhard Feucht, Herrenberg [Dekanatamt.Herrenberg@elkw.de]
Johannes 10, 11-16
10,11 Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.
12 Der Mietling, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –,
13 denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe.
14 Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich,
15 wie mich mein Vater kennt; und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe.
16 Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.
IntentionDas vertraute Bild des guten Hirten, das Jesus wählt, soll in seiner theologischen und seelsorgerlichen Aussagekraft auch in einer sich rasant verändernden Gesellschaft erkannt werden. Dabei wird auf das klassische Bild des Schafes geblickt, das häufig abqualifiziert wird. Mit einem „neuen“ Blick kann die Aussagekraft des Hirtenwortes zu einem neuen Vertrauen im Leben und Sterben ermutigen.
Ein tröstendes BildSie musste sich erneut einer Operation unterziehen. Als ich in ihr Krankenzimmer trat, waren ihre Augen geschlossen. Ich setzte mich neben sie. Nannte meinen Namen. Ob sie mich wohl hören konnte? Ich blieb lange schweigend an ihrem Bett sitzen. Einfach wieder gehen – nein, das wollte ich nicht. Dann waren es die Worte, die in manchen Situationen schon zu Trostbrücken wurden: „Der Herr ist mein Hirte!“ fing ich an zu beten. Und ich endete mit den vertrauten Worten. „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“ Stille lag über der Kranken und eine tiefe Stille füllte den Raum. Werden wir uns wiedersehen? Leise verabschiedete ich mich.
Wir sahen uns wieder. Und beim Wiedersehen fragte ich sie, ob sie etwas von meinem Besuch mitbekommen habe. „Nein“ antwortete sie. Aber sie hätte das Bild eines Hirten vor kurzem in ihren Träumen gesehen, das sie so unendlich getröstet habe. Ob es das Hirten-Gebet meines Besuches war, das im Unterbewussten zu ihr sprach? Ich weiß es nicht. Was ich weiß, dass dieses Bild des Hirten etwas ungemein Tröstendes in sich birgt. Und das schon über viele Generationen hinweg Menschen getragen hat.
Jesus bezieht dieses Bild auf sichGenau dieses Bild wählt Jesus und weist auf sich hin. „Ich bin der gute Hirte.“ So offenbart er sich den Menschen, die ihn begleiten. Und ihnen wird es warm ums Herz, weil etwas von der faszinierenden Kraft auf sie übergeht. Wie es uns häufig auch ergeht, wenn wir das Gespann aus Mensch und Tier sehen, wie sie miteinander unterwegs sind – ohne Eile. Keiner lässt eine Schafherde achtlos vorbeiziehen. Sehnsüchtig nimmt vielmehr unser Auge dieses Bild der Geborgenheit, des Schutzes und der Wärme auf.
Unser inneres Auge sieht Menschen, die im eigenen Leben zum guten Hirten wurden. Es sind Menschen, die mich verstanden haben. Sie konnten sich in meine Lage versetzen. Verstanden meine Nöte. Von ihnen fühlte ich mich an die Hand genommen, weil sie mich auch durch finstere Täler begleiteten.
Das Hirtenbild begleitet Menschen durch die GeschichteJesus legt sich bildlich den Hirtenmantel um. Die Hörer erinnern sich: Abraham stand einer großen Herde vor. Mose war Hirte bei seinem Schwiegervater in Midian. Und David musste zuerst einmal von der Herde weggeholt werden, um dann später zum König gesalbt zu werden. Der Gott unserer Väter, so erinnern sich die Zuhörer, ist ein Gott, der mitgeht und mitzieht. Er hat die Geschichte unseres Volkes begleitet und uns in die Freiheit geführt. Und so erleben die Menschen jetzt auch seinen Sohn, wie er die Ausgegrenzten auf ihrem Weg begleitet und ihnen ihre Würde gibt. Wie er für die Schwachen und Zurückgebliebenen sorgt. Und längst zerschnittene Tischtücher wieder zusammennäht, damit Menschen eine Zukunft haben.
„Ich bin der gute Hirte.“ Jesus greift das Bild des Hirten auf. Ein Bild, das die ganze Verantwortung, die Fürsorge und den Lebenseinsatz des Hirten zeigt. Bis in die Finsternis der Nacht hinein, bis an die Grenze seiner Lebenskraft reicht seine Liebe. Und sie gilt jedem Einzelnen.
Bei diesem Bild geht es nicht um eine romantische Verklärung. Die älteste bildliche Darstellung Jesu findet sich an einer Wand in den römischen Katakomben. Jesus ist abgebildet als junger Hirte, der ein vermutlich verletztes Schaf auf seiner Schulter trägt. Ein Christ hat dieses Bild an die Wand gemalt, als er während der Zeit der Verfolgung flüchten musste. Sie sahen Christus als ihren guten Hirten, der sich vor die Herde stellte und sich selbst nicht davonstahl, als sein eigenes Leben bedroht war. War der Karfreitag etwas anderes als der Tag tiefster Solidarität mit den Leidenden? Auf diesen Hirten schauten sie, und im Blick auf ihn lebten sie inmitten einer bedrohlichen Welt.
Ein tragfähiges Bild für unsere TageSind das Bilder aus vergangenen Zeiten? Passen diese Bilder noch in eine Welt, die der Soziologe Andreas Reckwitz eine „Gesellschaft der Singularitäten“(1) nennt? In der nicht nur das Individuum, sondern auch die Orte und Ereignisse einzigartig und außergewöhnlich sein müssen? Das Besondere ist Trumpf. Das Einzigartige wird prämiert. Das Allgemeine und Standardisierte dagegen ist eher reizlos. Eine Herde geschweige denn ein Schaf scheinen nicht in das Bild zu passen.
Es ist sehr belastend, wenn man sich immer wieder selbst inszenieren muss. Es fordert sehr viel Kraft, sein Leben ständig als einzigartigen Event zu verstehen und darzustellen.
Wie entlastend ist es, einmal still zu werden. Genau hinzuhören, wer zu mir spricht. „Und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden“, sagt Jesus. Auf die Stimme ihres Hirten hören die Schafe, die Vierbeiner, die man über so lange Zeit hinweg für „dumm verkauft“ hat. Stimmt das? „Versuchen sie es ruhig“, sagt die Schäferin im Fernsehen zum Reporter. Aber obwohl er die richtigen Kommandos weiß und obwohl er versucht, ganz freundlich und ruhig zu reden, gehorchen weder Hund noch Schaf. Aber ein leises Wort der Schäferin, und schon setzen sich die Schafe in Bewegung. Schafe scheinen zu wissen, wer es gut mit ihnen meint. Und sie scheinen die Menschen auch zu erkennen. (2)
Eine Studie hat auf die erstaunlichen Gesichtserkennungsfähigkeiten von Schafen hingewiesen. Fotos von Barack Obama und dem eigenen Pfleger wurden den Schafen vorgelegt. Die Schafe erkennen Gesichter auf Fotos mit hoher Trefferquote wieder. Sogar, wenn die Bilder aus ungewohnten Blickwinkeln aufgenommen wurden, lagen die Schafe noch in zwei Dritteln der Fälle richtig. Das berichten Forscher.
Also so „dumm“ und erkenntnisarm sind die Schafe nicht. Manches Mal wünschte ich mir, dass die Zweibeiner die Stimmen der Populisten und Propagandaredner auch unterscheiden könnten und die falschen Führer als Verführer entlarven und ihnen nicht willenlos und blind folgen würden. Und ich wünschte mir, dass das, was als frisches Wasser verkauft wird, als Fata Morgana erkannt werden würde.
Ein Bild, in dem mein Leben geborgen istEs bleibt eine lebenslange Herausforderung, die Stimmen unterscheiden zu können. Vielleicht hilft wirklich nur der Blick auf den, der seinen Worten Taten folgen lässt, in dem er dem Einzelnen nachgeht. Der Hirte, so erzählt Jesus an anderer Stelle, lässt alles stehen und liegen, als er am Abend beim Nachzählen feststellt, dass von den hundert Schafen eines fehlt. Er fängt nicht lange an zu rechnen, ob es sich lohnt oder sich auszahlt, wenn er sich auf den Weg machen würde. Wegen einem Prozent Verlust die anderen 99 zu riskieren? Bei ihm gibt es keine Kosten-Nutzen-Rechnung. Er wägt auch nicht ab, welche Gefahren auf ihn warten könnten. Er bricht wild entschlossen zu der nächtlichen Suche auf. Immer wieder ruft er den Namen des Schafes in die Finsternis hinein. Lange vergeblich. Aber dann aus der Ferne hört er das ängstliche und sehnliche Rufen des verlorenen Vierbeiners. Das Schaf hat die Stimme seines Hirten gehört. Es gibt sich ihm gern zu erkennen, weil es weiß, dass er es rettet.
Die Schafe vertrauen der Stimme ihres Hirten, weil sie wissen, dass er ihnen nicht nur vorausgeht, sondern sie auch nicht im Stich lässt. Er stellt sich den Bedrohungen und schafft eine wolfsichere Umgebung. Er flieht nicht wie der Tagelöhner, wenn der Wolf kommt, um die Schafe zu reißen. Sondern er stellt sich vor sie mit seinem eigenen Leben: „Ich lasse mein Leben für die Schafe.“ Das war kein falsches Versprechen, sondern Golgatha steht als ein Zeichen dafür, dass auf diese Worte im Leben und Sterben Verlass ist.
Ich wünsche mir, dass die Patientin im Krankenhaus dies auch erfahren hat: Dass das Bild des guten Hirten, das im Traum vor ihr stand, sie auf ihrem letzten Weg begleitet hat. Mit Christus zu den grünen Weiden aufzubrechen und seiner Stimme zu vertrauen: „Gutes und Barmherzigkeit werden dir folgen dein Leben lang und du wirst bleiben im Hause des Herrn immerdar.“
Anmerkungen
1 Die Zeit, Nr. 41; 5. Okt. 2017.
2 Pastoralblätter April 2007, S. 248.
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