Lätare / 4. Sonntag der Passionszeit (10. März 2024)
Lukas 22,54-62
IntentionDass Petrus, der Felsenmann der Kirche, Erschütterungen und Scheitern erlebt, macht deutlich: Christus baut seine Kirche mit Menschen, die nicht frei sind von Versagen und Fehlverhalten. Dass Jesus sich zu Petrus umwendet und ihn im Scheitern gnädig ansieht, ermöglicht ihm Reue und Umkehr und eröffnet ihm Vergebung und Neuanfang. So wird er für Christinnen und Christen, ja für die Kirche überhaupt, zu einer rechtfertigungstheologischen Identifikationsfigur.
Erschütterungen in Gesellschaft und Kirche„Erschütterungen“, so titelt der frühere Bundespräsident und vormalige Rostocker Pfarrer Joachim Gauck sein neuestes Buch. Unsere liberale Demokratie, so Gauck, erlebt gegenwärtig nachhaltige Erschütterungen. Denn von außen wird sie durch die russische Aggression bedroht und von innen durch Demokratie-Verächter. Es reicht nicht, darauf allein mit Angst oder Ignoranz zu reagieren. Mit Blick auf die Erschütterungen von außen heißt das: Wir müssen uns auf die veränderte weltpolitische Lage einstellen. Um unseren Rohstoff- und Energiebedarf zu decken, müssen wir künftig intensiv mit zahlreichen Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika zusammenarbeiten. Dabei sollte eine wertegeleitete Außenpolitik im Kontakt mit nicht demokratischen Staaten Menschenwürde und Menschenrechte im Auge beachten. Sie soll am Bekenntnis zu den eigenen Grundsätzen festhalten. Sie soll das Bekenntnis zu den europäischen Werten hochhalten und die eigene Haltung nicht verleugnen. Und kann doch um der eigenen Interessen willen nicht auf realpolitische Kompromisse verzichten. Eine schwierige Gratwanderung.(1)
„Ich bin sehr, sehr erschüttert“, sagte Bischöfin Kirsten Fehrs vor wenigen Wochen, als die evangelische Missbrauchsstudie öffentlich vorgestellt wurde. Die evangelische Kirche hat sich an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht. Denn in Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen wurde weggesehen und geleugnet: „Bei uns passiert so etwas nicht. Wir sind doch die Guten.“ Leugnung der dunklen Seiten von Kirche; kein klares Bekenntnis zum Leid der betroffenen Personen, stattdessen vielfach Schutz der Täter. Eine nachhaltige Erschütterung für die Kirche, für all diejenigen auch, die sich seit Jahren mit großem Engagement und viel Herzblut für ihre Kirche und für anvertraute Menschen einsetzen.
Ein erschütterter „Felsenmann“Ein zutiefst erschütterter Petrus begegnet uns im Predigttext für den Sonntag Lätare. In der Nacht wurde Jesus am Ölberg verhaftet. Dann heißt es im Lukas-Evangelium im 22. Kapitel:
„Sie ergriffen Jesus und führten ihn ab und brachten ihn in das Haus des Hohenpriesters. Petrus aber folgte von ferne. Da zündeten sie ein Feuer an mitten im Hof und setzten sich zusammen; und Petrus setzte sich mitten unter sie. Da sah ihn eine Magd im Licht sitzen und sah ihn genau an und sprach: Dieser war auch mit ihm. Er aber leugnete und sprach: Frau, ich kenne ihn nicht. Und nach einer kleinen Weile sah ihn ein anderer und sprach: Du bist auch einer von denen. Petrus aber sprach: Mensch, ich bin’s nicht.
Und nach einer Weile, etwa nach einer Stunde, bekräftigte es ein anderer und sprach: Wahrhaftig, dieser war auch mit ihm; denn er ist auch ein Galiläer. Petrus aber sprach: Mensch, ich weiß nicht, was du sagst. Und alsbald, während er noch redete, krähte der Hahn. Und der Herr wandte sich und sah Petrus an. Und Petrus gedachte an des Herrn Wort, wie er zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.“
Sehr, sehr erschüttert waren die Jünger über Jesu nächtliche Verhaftung am Ölberg. Einzig Petrus folgt Jesus jetzt noch nach, wenn auch von ferne – aus Angst, aus Vorsicht. Im Haus des Hohepriesters angekommen, entzünden die Leute des Hohepriesters in der kalten Nacht ein wärmendes Feuer mitten im Hof. Auffallend, dass Petrus sich nicht länger im Hintergrund und in sicherem Abstand hält, sondern sich mitten unter sie setzt. Seine Erschütterung ist offenbar abgeklungen. Dafür kann jetzt sein Treueversprechen wenige Stunden zuvor wieder aufklingen: „Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen.“
Die dunkelste Stunde im Leben des PetrusDas Feuer knistert. Da wird Petrus jäh aus seinen Gedanken gerissen. Eine Magd hat ihn im Feuerschein genau angesehen. Beiläufig stellt sie fest: „Dieser war auch mit ihm.“ Man ahnt den Gefühlsorkan in Petrus: Ist diese Magd mit einer einfachen Bestätigung ihrer Feststellung zufrieden und geht dann achselzuckend wieder ihrem Geschäft nach? Oder will sie auch ihn ans Messer liefern? Hatte ihre Feststellung einen hämischen Unterton, oder eher einen mitleidig-erstaunten? Täte es ihr gut zu merken, einer aus dem Freundeskreis des Verhafteten bleibt ihm treu und steht zu ihm? Selbstverständlich will Petrus sich zu 150 Prozent für seinen Herrn und Meister einsetzen. Aber wegen dieser Magd jetzt das Leben riskieren? Nein, das will er sich lieber für den ganz großen Auftritt aufsparen – und hört sich, wie neben sich stehend, sagen: „Frau, ich kenne ihn nicht!“
Jetzt ist zum ersten Mal eingetreten, was Jesus vorausgesagt hatte: Petrus leugnet, dass er Jesus kennt. Zwei weitere Male wiederholt Petrus sein Leugnen. Er distanziert sich damit maximal von Jesus, dem er uneingeschränkte Treue bis in den Tod versprochen hatte. Mit seiner Leugnung, dass er Jesus kenne, bricht Petrus sein Treueversprechen, ja zerbricht er die Beziehung zwischen sich und Jesus. Beziehungs-Bruch, Beziehungs-Zerstörung, das ist es, was die Bibel „Sünde“ nennt.
Im Scheitern gnädig angesehenWährend Petrus noch redet, kräht der Hahn. Aber nun – und davon erzählt einzig der Evangelist Lukas – wendet der Herr sich um und sieht Petrus an. Indem Jesus Petrus ansieht, wird dieser an das letzte Zwiegespräch mit seinem Herrn im Abendmahlssaal erinnert: „Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, dass du mich kennst.“ Das Umwenden Jesu, sein richtender und zugleich aufrichtender und darin barmherziger Blick bringt Petrus zur jähen Selbsterkenntnis. Er merkt, was geschehen ist. Er ist zutiefst erschüttert über sich selbst und sein Scheitern. Seine Erschütterung ist so gewaltig, dass er hinausgeht und bitterlich weint. Dass Jesus ihn in seinem Scheitern gnädig anblickt, das ermöglicht Petrus tiefe Reue. Er geht hinaus und weint bittere Tränen der Reue. Diese Reue wird zum Wendepunkt, zum Beginn seiner Umkehr, die Jesus ebenfalls angekündigt hatte. (2) Das Umwenden Jesu zu Petrus ermöglicht diesem sein Umkehren.
Wie der krähende Hahn Petrus sein Scheitern bewusst macht, so zeigt die Missbrauchsstudie Versäumnisse und Schuld in Kirche und Diakonie auf. Und sie ist eine theologische Anfrage an die Evangelische Kirche. Dass sie nicht zu schnell um Entschuldigung und Vergebung bittet. Denn sonst muss sie sich zu Recht die Anfrage gefallen lassen: Was ist das für eine Gemeinschaft, in der Versöhnung vor der Gerechtigkeit kommt, wo es Vergebung ohne Reue gibt, und wo die Täter mehr zählen als die Opfer? (3)
Zurück zu Petrus. Er geht hinaus und bereut. Er wird erst am Ostermorgen wieder auftauchen, um zum Grab Jesu zu laufen. Und dann wird ihm eine Vision des Auferstandenen widerfahren. In dieser Vision erfährt er Vergebung, neue Annahme und Indienstnahme. Jesu barmherziger Blick auf das Scheitern des Petrus eröffnet diesem eine neue Lebensperspektive. Denn wider Erwarten wird der Treuebruch nicht zum Schlusspunkt, sondern zum Anfangspunkt eines sich vertiefenden und reifenden Glaubens.
Petrus – ein gerechtfertigter SünderPetrus wird zu einer Schlüsselfigur für die entstehende Kirche. Bei Führungspersonen in Politik und Gesellschaft wird gerne nachgeforscht, ob früheres Versagen oder Fehlverhalten aufgespürt werden kann. Medial geschickt inszeniert, kann das den Wahlerfolg kosten. Petrus hingegen verschweigt sein Scheitern nicht und versteht sich als „gerechtfertigten Sünder“. Die Evangelien berichten in aller Offenheit vom Versagen und Scheitern des Petrus, weil sie darum wissen: Christus ist auch für die Sünden des Petrus gestorben. Aber gerade ihm, dem gerechtfertigten Sünder, eröffnet sich das Kapitel des Glaubens und der Mission. (4) In seiner Apostelgeschichte berichtet Lukas davon, wie Petrus mehrfach ein klares Bekenntnis zu Jesus Christus, dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn, ablegt: „Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben!“ (5)
Mitten unter den Leuten ums Feuer…Petrus setzt sich mitten unter die Leute, die sich ums Feuer eingefunden haben. Sie sitzen dort gleichgültig, hämisch, sensationslüstern, vielleicht auch sehnsuchtsvoll, einen Nachfolger Jesu zu erleben, der authentisch ist und sich zu seinem Glauben bekennt. Mitten unter den Leuten, im Feuerschein der Gegenwart, ist der Platz der Christen und Christinnen, der Kirche – nicht im Rückzug aus der Gesellschaft. Sie werden ihr Bekenntnis zu Christus nicht wie eine Monstranz vor sich hertragen. Sie werden nicht auf alle hämischen und spöttischen Kommentare antworten. Sie bemühen sich, aus den vielerlei Stimmen ums Feuer der Gegenwart herum diejenigen herauszuhören, auf die sie Resonanz geben und mit einem persönlichen Bekenntnis antworten: „Ja, ich gehöre zur evangelischen Kirche – trotz all dem, was in ihr geschehen ist. Ja, ich stehe ein für die Würde jedes Menschen und sage nein zu Rassismus und Antisemitismus. Ja, ich bekenne mich zu Jesus Christus, dem Auferstandenen.“ Immer wieder gelingt es. Manchmal aber auch nicht. Spürt man uns als Kirche gegenwärtig nur Mutlosigkeit ab, oder ist da glaubwürdiges Bekennen jener lebendigen Hoffnung, die uns erfüllt? Wird deutlich, dass den vernehmbaren Worten der Erschütterung über die Missbrauchsstudie in der Kirche nun auch Taten folgen? Müssen wir als Kirche unserer Zeit nicht selbstkritisch gestehen: „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt und nicht fröhlicher geglaubt haben?“(6)
Wendung zum Guten ist möglichIn der Niederlage hat Petrus die schmerzliche Erfahrung gemacht, dass sein hehres Selbstbild nachhaltig erschüttert wurde. Seinen Treueschwur: „Herr, ich bin bereit, mit dir zu gehen…“ hatte er selbst entwertet mit der Leugnung: „Ich kenne ihn nicht!“ In seiner Niederlage hat Petrus aber zugleich die tröstliche Erfahrung gemacht, dass Jesus sich zu ihm umgewandt und ihn im Scheitern angesehen hat. Jesus seinerseits hat seine Beziehung zu Petrus durchgehalten. Jesus hat der Reue des Petrus Vergebung folgen lassen. So kann Petrus aus seiner Niederlage Stärke gewinnen, mit der er seine Schwestern und Brüder stärken kann. Denn Petrus wird zum Vorbild für einen Glauben, der mit sich selbst und anderen barmherziger wird, weil er seine eigenen Grenzen akzeptiert und Brüche nicht tabuisiert.(7) Dann aber fixieren wir uns nicht auf Erschütterungen und Scheitern. Vielmehr halten wir ihnen die Lebenserfahrung von Joachim Gauck entgegen: „Ich weiß, wie viel Kraft dem Menschen innewohnt, wie viel er zu gestalten und wie er tatsächlich Dinge zum Guten zu wenden vermag.“ (8) Amen.
Anmerkungen
1 Joachim Gauck, Helga Hirsch, Erschütterungen. Was unsere Demokratie von außen und von innen bedroht, München 2023, S. 9.218f.
2 Lukas 22,31-34.
3 Tilmann Kleinjung, Kommentar in den Tagesthemen 25.01.2024, abrufbar unter: Missbrauch in der Evangelischen Kirche: Jetzt müssen Taten folgen | tagesschau.de (abgerufen am 27.01.2024).
4 Vgl. dazu Martin Hengel, Der unterschätzte Petrus, Tübingen 2007, S. 21.54f.71.
5 Apostelgeschichte 4,20.
6 EG 837.
7 Wolfgang Huber, Predigtmeditation zu Lukas 22,32, in: GPM 59/1, S. 68-74, dort S. 73.
8 Joachim Gauck, a.a.O., S. 9.
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