Kantate (15. Mai 2022)
Pfarrerin Nicole Weber, Tuttlingen [Nicole.Weber@elkw.de]
Kolosser 3,12–17
IntentionDer Sonntag Kantate stellt das Gotteslob in den Mittelpunkt. Kantate! Singt! Im Predigttext findet das Thema des Sonntags Entsprechung: „mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen“. Beeindruckend sind die Bilder, die der Text zeichnet: Bilder vom Anziehen, einander Ertragen, untereinander Vergeben, vom Regieren des Friedens, vom Lehren und Ermahnen, vom Singen und Danken. Wie leben wir unser Christsein? Darum geht es in Kolosser 3. Die gelebte Gottesbeziehung und das Zusammenleben der Menschen untereinander sind dabei im Blick.
Liebe Gemeinde!
Kleider machen Leute – so heißt eine bekannte Novelle des Schweizer Schriftstellers Gottfried Keller, und so sagt es auch der Volksmund.
Und in der Tat sagt die Kleidung, die jemand trägt, viel darüber aus, wie er von anderen gesehen werden möchte. Schon Kinder mögen es, sich zu verkleiden. Sie probieren aus, wie es ist, jemand anderes zu sein. Sie schlüpfen in Rollen. Dabei verändern sie nicht nur ihr Äußeres, sondern auch sich selbst: Mädchen werden zur Prinzessin, indem sie Mutters Schuhe, ein schönes Kleid und Haarschmuck tragen, Jungen brauchen nur ein Schwert aus Holz und einen Umhang aus Stoff – schon sind sie ein Ritter.
Auch wir Erwachsene wechseln unsere Kleider in unterschiedlichen Lebenssituationen.
Was ziehe ich an: zur Konfirmation, zum Bewerbungsgespräch, zur Hochzeit? Was trägt man am ersten Tag eines neuen Lebensabschnitts?
Diese Fragen stellen sich immer wieder, besonders an den Übergängen von Lebensphasen. Denn oft beginnen neue Lebensabschnitte mit dem Anziehen neuer Kleider.
Auch der heutige Predigttext spricht von der Bedeutung einer neuen Kleidung. Hören wir aus dem Brief des Apostels Paulus an die Kolosser, Kapitel 3, die Verse 12 bis 17:
„So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.
Und der Friede Christi, zu dem ihr berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar. Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.“
Paulus legt uns eine Garderobe ans Herz. Mit neuen Gewändern sollen wir uns einkleiden. Für den Apostel geht es jedoch nicht um einen vorübergehenden Kleiderwechsel oder um ein Gewand, welches unser Lebensgefühl für eine gewisse Zeit positiv verändern kann, sondern er lädt uns ein, Kleidungsstücke anzuziehen, die von Dauer sind. „Herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut und Geduld“: Diese Kleidungsstücke sollen uns zur zweiten Haut werden. Es sind Tugenden für das Leben von Menschen unter Menschen. Tugenden, die eine Lebenshaltung sichtbar werden lassen, einem neuen Gewand vergleichbar.
Gottes Blick verändert unsÜberrascht mögen wir sein von der Anrede, die Paulus wählt: „Auserwählte Gottes, Heilige, Geliebte“: Das sind wir. Gott sieht uns als etwas Besonderes an. So wie Eltern ihre Kinder mit liebevollen Augen ansehen. Und dieser Blick verändert. Denn es macht einen Unterschied, ob ein Kind mit dem liebevollen Blick seiner Eltern angesehen wird oder mit einem Blick, der darauf lauert, dass das Kind etwas falsch macht. Wenn ein Kind spürt, dass man ihm etwas zutraut und dies auch zeigen kann, dann stärkt das sein Selbstvertrauen. Der erhobene Zeigefinger hingegen schadet mehr als er nützt.
Der Blick, mit dem wir angesehen werden, verändert auch uns. Gottes Blick verändert uns. Und so werden wir das, was wir in Gottes Augen schon sind: Geliebte Kinder, Auserwählte Gottes, Heilige.
Doch als solche, die schon von Gott geliebt und angenommen sind, sollen wir auch leben. Paulus beschreibt ganz konkret wie das neue Leben aussieht. „Zieht an herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander … und seid dankbar.“ Viele Empfehlungen reihen sich hier aneinander, und vielleicht haben wir auch Mühe mit dem erzieherischen Unterton dieser Worte.
Liebe als erstes Wort, dann folgen die KleidungsstückeBerührend und überwältigend ist jedoch: Die Liebe ist das erste Wort. Nicht die Aufforderung zum Kleiderwechsel, sondern der Zuspruch: Ihr seid erwählt. Ihr seid geliebt. Ihr seid heilig. Unabhängig davon, ob wir den paulinischen Tugenden entsprechend leben können: Gottes Liebe bleibt. Sie ist das Fundament, auf dem wir gehen und stehen.
Für mich ist diese Botschaft das Herzstück des heutigen Predigttextes. Denn ich weiß, dass ich an der Fülle der Ermahnungen des Kolosserbriefs nur scheitern kann. Ich weiß, dass ich es immer wieder neu üben muss und doch nicht immer schaffe: den mürrischen Nachbarn freundlich zu grüßen; mich nicht zu ärgern über den Mann, der mir die Vorfahrt nimmt; jedem gegenüber geduldig und gelassen zu sein, auch wenn die Hektik des Alltags mich überrollt.
Die Tugenden, die Paulus benennt, stellen mich jedoch in ein Aufgabenfeld, in dem ich mich jeden Tag neu bewegen darf. Im Bild des Kleiderwechselns kann das so aussehen: Die neuen Kleider liegen schon in meinem Schrank – bereit zur Anprobe. Es sind meine Kleider. Sie gehören zu mir und stehen mir wunderbar. Ich entscheide jeden Tag neu, ob ich sie trage. Vielleicht ist das eine oder andere Kleidungsstück gefühlt noch etwas zu groß. Vielleicht muss ich innerlich erst noch hineinwachsen – mich an das neue Kleid gewöhnen. Aber ich will versuchen und ausprobieren, wie es sich anfühlt, es zu tragen: d.h. freundlich und geduldig zu sein; den Anderen sein zu lassen, ihn zu ertragen, ihn nicht verändern zu wollen; jedem, der mir begegnet, mit Liebe begegnen; nicht nachtragen, sondern vergeben, wo immer es mir möglich ist.
Ohne Liebe geht es nicht„Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit“, schreibt Paulus. Die Liebe ist nicht in die Aufzählung der Forderungen einzureihen, sondern eine Lebenshaltung. Aus ihr erwachsen und leben alle genannten Haltungen und Tugenden.
Paulus nennt die Liebe ein Band der Vollkommenheit. Sie ist wie ein Gürtel, der hilft, dass die Hose richtig sitzt. Ohne die Liebe im Herzen würden uns auch die neuen Kleider nicht richtig passen, sie würden verrutschen oder abfallen. Die Liebe ist das Band, das alles zusammenhält: Sie und mich, uns und die anderen, eine ganze Gemeinschaft. Wo Liebe regiert, wird das Leben menschenfreundlich und gnädig. Die Liebe gehört untrennbar zu den neuen Kleidern. Sie ist das Accessoire, das dem neuen Outfit ein markantes und persönliches Markenzeichen verleiht.
Wo findet es sich im alltäglichen Leben und wie wirkt es sich dort aus? Ich denke daran, wie schnell in den vergangenen Wochen Wohnungen eingerichtet worden sind, um geflüchteten Menschen aus der Ukraine ein Zuhause zu geben. Ich denke an die große Hilfs- und Spendenbereitschaft in unserer Stadt, aber auch an vielen anderen Orten.
Überall dort, wo Menschen zusammenstehen und füreinander Sorge tragen, wo Menschen all ihre Kraft und Findigkeit aufbringen, um einander zu helfen, strahlt das Band der Liebe Gottes in unserem Leben auf.
Gott spricht zu uns in der Sprache der Liebe und Barmherzigkeit: Ihr seid erwählt. Ihr seid geliebt. Das gibt uns Kraft, Halt und Orientierung auf unserem Lebensweg.
Gott loben – KantateDoch vielleicht erleben sie Gott ja auch noch ganz anders: Im Klang der Musik, im gemeinsamen Gesang, in der Nähe zu anderen.
„Mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen“, schreibt Paulus. Besonders der Sonntag Kantate lädt zum Gotteslob ein.
Singen tut der Seele gut – und wie sehr gerade auch unsere Gottesdienste von der Musik leben, hat uns die Pandemie gelehrt. Singen bringt uns in der Ganzheitlichkeit unserer Existenz zum Schwingen. „Wer singt, betet doppelt“, sagte einst der Kirchenvater Augustin. Denn Singen bringt uns in die Nähe Gottes.
Gemeinsame Lieder – geistliche Lob- und Dankgesänge – öffnen aber auch unseren Blick für uns selbst und für andere. Denn miteinander tauchen wir ein in Melodie und Wort, werden eins mit der Musik und spüren, wie sie in den tiefsten Schichten unserer Seele wirkt und uns verändert: z.B. fröhlich macht und getrost.
Was spricht Gott zu uns in Wort und Melodie? Ich sehe dich. Ich weiß, was dich beschäftigt. Ich helfe dir, den richtigen Weg zu finden. Was dich belastet, trage ich für dich. Mir kannst du vertrauen. Auch wenn die Glocken läuten zum Vaterunser, spricht Gott zu uns in Wort und Klang. – Diese Worte verbinden mit Jesus Christus Sie verbinden Sie und mich, die ganze Welt. Amen.
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