Judica / 5. Sonntag der Passionszeit (07. April 2019)

Autorin / Autor:
Pfarrerin i.R. Monika Schnaitmann, Tübingen [G.Schnaitmann@gmail.com ]

Johannes 18, 28-40; 19, 1-5

IntentionDie Passionsgeschichte erinnert an die Verantwortung der Menschen für ihr Tun. Und sie motiviert, für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit einzutreten wie Jesus. Das ist der Mensch! Die Kraft dazu kommt aus der Hoffnung, die mit Ostern anfängt.

Die Passionsgeschichte ist der wohl bewegendste Teil der Evangelien. Jesus, der Mann aus Nazareth, der das Nahen des Gottesreiches angekündigt hat, der Hoffnungen geweckt hat auf Freiheit und Gerechtigkeit, er geht den Weg in den Tod. Ein Drama spielt sich ab, in das niemand mehr eingreifen kann. Jesus begegnet auf seinem Weg nach Golgatha vielen Menschen. Sie alle stehen beispielhaft für Menschen überhaupt: die Ängstlichen und die Habgierigen, die Bekennenden und die Verräter, die Feigen und die Hilfsbereiten, die Würdelosen und die Würdigen – und jene, die sich gerne aus allem raushalten wie Pontius Pilatus. Ein weltbekannter Name! Er wird in die Geschichte eingehen. Ja, sein Name wird in der ganzen Welt gesprochen – im Glaubensbekenntnis.
In unserem Predigttext aus dem Johannesevangelium wird über Pontius Pilatus und Jesus berichtet:
"Da führten sie Jesus von Kaiphas vor das Prätorium; es war aber früh am Morgen. Und sie gingen nicht hinein in das Prätorium, damit sie nicht unrein würden, sondern das Passamahl essen könnten.
Da kam Pilatus zu ihnen heraus und sprach: Was für eine Klage bringt ihr vor gegen diesen Menschen?
Sie antworteten und sprachen zu ihm: Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten dir ihn nicht überantwortet.
Da sprach Pilatus zu ihnen: So nehmt ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz. Da sprachen die Juden zu ihm: Es ist uns nicht erlaubt, jemanden zu töten.
So sollte das Wort Jesu erfüllt werden, das er gesagt hatte, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde.
Da ging Pilatus wieder hinein ins Prätorium und rief Jesus und sprach zu ihm: Bist du der Juden König?
Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus, oder haben dir's andere über mich gesagt?
Pilatus antwortete: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan?
Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; aber nun ist mein Reich nicht von hier.
Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.
Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?
Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.
Ihr habt aber die Gewohnheit, dass ich euch einen zum Passafest losgebe; wollt ihr nun, dass ich euch den König der Juden losgebe?
Da schrien sie wiederum: Nicht diesen, sondern Barabbas! Barabbas aber war ein Räuber.
Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln.
Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpurgewand an
und traten zu ihm und sprachen: Sei gegrüßt, König der Juden!, und schlugen ihm ins Gesicht.
Und Pilatus ging wieder hinaus und sprach zu ihnen: Seht, ich führe ihn heraus zu euch, damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde.
Da kam Jesus heraus und trug die Dornenkrone und das Purpurgewand. Und Pilatus spricht zu ihnen: Sehet, welch ein Mensch!"
(Johannes 18,28-19,5)

Verantwortet, was ihr tut und sagtDiese Verse schildern den dramatischen Höhepunkt dieses Prozesses, die Entscheidung zwischen Tod oder Leben dieses Mannes – Jesus. In der Nacht das Verhör durch die Hohepriester. Und nun steht er zwischen zwei Gewalten. Da ist die lebensgefährliche Gewalt einer von ihren Führern in die Hitze äußerster Erregung gejagten Menschenmasse. Und dann ist da Pontius Pilatus in seiner Stärke und Schwäche zugleich. Er muss ja oder nein, Tod oder Leben sagen, und er fürchtet sich.
Jesus steht zwischen Menschen, die Angst haben. Die führenden Juden haben panisch Angst, hier könne einer ihre Ordnung durcheinanderbringen. Hier seien ihre Religion und ihre Macht gefährlich in Frage gestellt. Hier lästere einer ihren Gott und will sich an seine Stelle setzen. Und Pilatus hat Angst vor eben diesen aufgebrachten Priestern und dem von ihnen fanatisierten Volk. Er hat auch Angst vor seinem Kaiser, der fremden und fernen Macht in Rom. Der kann ihn ja jeden Tag abberufen.
Und es zeigt sich: Es verbinden sich Angst und Gewalt. Aber die Anführer der Juden und Pilatus haben doch auf merkwürdige Weise auch das Recht auf ihrer Seite.
Als Sohn Gottes verfällt Jesus dem Gesetz der Gotteslästerung. Als König der Juden gerät er mit der staatlichen Grundordnung in Konflikt. Jesus ist nach den Normen verfasster Religion und Staatlichkeit schuldig.
Pontius Pilatus hätte seine Verantwortung allzu gerne abgegeben. Aber er muss die Verantwortung tragen, dass ein Unschuldiger zum Tode verurteilt wird. Dabei hätte er doch die Macht, dies zu verhindern. Insofern ist Pontius Pilatus ein wichtiger Mahner für alle, die politische Macht haben: verantwortet, was ihr tut und sagt. Seht die Folgen an. Aber nach der Verurteilung Jesu wäscht er seine Hände in Unschuld, erzählt der Evangelist Matthäus. Diese Geste wird zu einem Symbol der Menschheitsgeschichte. Wie oft werden Menschen versuchen, unschuldig zu sein,. Sie behaupten, nichts damit tun zu haben. Sie versuchen, die Verantwortung abzuwälzen auf die Umstände, die Befehlslage, die Gegebenheiten. Und das alles, obwohl sie wissen, dass sie schuldig werden.

Sehet, welch ein MenschDer kaiserlich-römische Statthalter Pontius Pilatus hat vielleicht auf seine eigene Weise erkannt, um wen es sich bei diesem unbequemen Mann aus Nazareth handelt. „Ecce homo“ hat er gesagt, „Sehet, das ist der Mensch.“ Nämlich: mitten in Gewalt und Angst und Zwängen ist Jesus der einzige Mensch, so wie ihn Gott gemeint hat. Nicht die schreiende Menge, die eifernden Hohepriester, nicht die gefühllosen Soldaten, nicht der zögerliche Pontius Pilatus, sondern ER. Er ist der einzig Freie, der einzig Gewaltlose, der einzig Furchtlose in dieser Stunde. Das ist der Mensch, der in seiner Gewaltlosigkeit eine andere Gewalt ausübt als alle, die da schreien. Damit sollen Leser und Hörer angesprochen werden. Über das Leitwort „Mensch“ schließt sich der Rahmen, angefangen in Johannes 18,29: „Da kam Pilatus zu ihnen heraus und sprach: Was für eine Klage bringt ihr vor gegen diesen Menschen?“ – bis zu Johannes 19,5: „Sehet, welch ein Mensch!“ An keiner anderen Stelle stellt uns das Evangelium den Menschen Jesus so deutlich vor die Seele – da gibt es kein Ausweichen.

Gottes Liebe und BarmherzigkeitGott ist in Jesus Mensch geworden. Jesus hat Geschichten erzählt. Er hat geheilt und gesegnet. Er hat die Menschen ernst genommen und ihre Fragen beantwortet. So vermittelt Jesus etwas von der Liebe Gottes zu uns Menschen, von der Barmherzigkeit Gottes, vom Reich Gottes. Damit lädt Jesus bis heute Menschen ein, es ihm nachzutun, sich anstecken zu lassen von seiner Begeisterung für die Sache Gottes.
Aber er zeigt auch, wohin das führt: Jesus nahm die Folgen seines Tuns auf sich. Sein Tod ist nicht ohne sein Leben zu verstehen und vor allem nicht ohne den, mit dessen Vollmacht er auf Erden agierte, den er den Mensch nahebringen wollte – Gott. Als einer, der die Verlorenen suchte, die Rechtfertigung aus Gnade verkündete, sich mit Armen, Ausgestoßenen an einen Tisch setzte, wurde Jesus anstößig, brachte Unruhe in das wohlgeordnete Leben. Die Radikalität eines Jesus von Nazareth, die Radikalität Gottes, seine Gerechtigkeit, seine Parteilichkeit für die Armen, Kranken und seine Menschenliebe sind damals wie heute gefährdet.

Kreuzweg„O Haupt voll Blut und Wunden“ – dieses berühmte Passionslied formuliert die Anklage. Es schildert das zerschlagene Haupt des Jesus Christus. Doch dieses Lied beschreibt nicht nur das Leid, das sich in diesem Gesicht zeigt; das Lied stellt auch fassungslos die Frage, wer dieses Leid angerichtet hat – bis es dann in der 4. Strophe diese Frage beantwortet. Dieser Vers spricht nicht vom Volk, nicht von Pontius Pilatus, nicht von den Schriftgelehrten und Hohepriestern, nicht von den Henkersknechten. Er spricht nicht von der Vergangenheit vor 2000 Jahren, sondern von der Gegenwart, von uns selbst, die wir die Verurteilungsgeschichte, die Jesus ans Kreuz brachte, lesen, hören, singen und beten. Die Antwort lässt keine Ausreden zu, sondern nur das Bekenntnis: „Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat. Gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad.“
Man findet den Kreuzweg nicht nur in der Bibel. Es gibt den Kreuzweg überall im Alltag. Man findet seine Stationen in der allernächsten Umgebung: im Krankenhaus, im Pflegeheim, im Frauenhaus, in Entziehungsanstalten und Abschiebezentren. Es ist ein stilles, verborgenes Leid, das dort zu Hause ist, wenige nehmen es zur Kenntnis oft gar niemand. Oft sind Stationen eines Kreuzweges aber auch in allen Wohnzimmern präsent – in den Fernsehbildern über Naturkatastrophen, durch den von Menschen verursachten Klimawandel, von Kriegen, Verhungernden, Geflüchteten, Ertrinkenden, Gefolterten. Missbrauchten. Menschen auf ihrem Kreuzweg. Und Jesus leidet mit ihnen auch heute noch.

Der offene HimmelBei uns in der Kirche, in der Gemeinde, bei uns Christen und Christinnen ist fürwahr nicht der Himmel. Die Erde aber könnte, wenn es gut geht, ein Ort sein, an dem der Himmel offen gehalten wird. Eine leidensfreie Welt wird es nie geben. Aber gerade weil Jesus selbst diesen Weg ging, können wir uns an ihn wenden, wenn wir leiden, mutlos sind und verzagen. Die Menschen, denen er begegnete, ahnen noch nicht, wie es weitergehen wird: dass dieser Tod kein Endpunkt, sondern ein Doppelpunkt sein wird. „Gesät ist die Hoffnung“ so drückt das Margot Käßmann aus. Ohne Ostern würden wir von einem Mann am Kreuz sicher keine Kraft erhoffen, die uns in unserem Alltag trägt und tröstet und orientiert und leitet. Gott nimmt uns zwar an, wie wir sind, aber er lässt uns nicht so, wie wir sind. Zu der unantastbaren Menschenwürde, die von Gott gegeben ist, gehört das Recht, ein anderer zu werden.

Heinrich Böll hat einmal notiert: „Unsere Welt ist nicht christlich, solange die Angst nicht geringer wird, sondern wächst; die Angst vor dem Leben und den Menschen, vor den Mächten und Umständen, Angst vor dem Hunger und der Folter, Angst vor dem Krieg, Aber hin und wieder gibt es einen Christen, und wo er auftritt, gerät die Welt in Erstaunen, 800 Millionen Christen haben die Möglichkeit, die Welt in Erstaunen zu versetzen."
Versetzen wir doch jeden Tag die Welt in Erstaunen: so wie Pilatus gestaunt hat. Zeigen wir uns als Menschen. „Sehet, das ist der Mensch.“ Amen.

Anregungen für diese Predigt sind entnommen aus:
Gott dienen ist höchste Freiheit – ausgewählte Predigten zu den Sonntagen des Kirchenjahres März bis Juni, V. Jahrgang. Hrsg. Walter Schlenker. S. 17 ff: Predigt von Heinrich Albertz.
Margot Käßmann: Gesät ist die Hoffnung, Herder Verlag.
Margot Käßmann: Einfach Evangelisch: Drei Ausrufezeichen – das Glaubensbekenntnis
Heribert Prantl: Der Zorn Gottes – Denkanstöße zu den Feiertagen, Ullstein.



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