Judica / 5. Sonntag der Passionszeit (06. April 2025)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Dieter Koch, Künzell [koch.korb@web.de]

Johannes 18,28-19,5

IntentionWir treten ein in eine Schicksalsstunde der Menschheit. Jesus wird von Pilatus verhört, gefoltert und verspottet. Wir sehen die Stärke des Geistes der Macht der Gewalt ausgeliefert. Auf welcher Seite ist die Wahrheit? Welcher Wahrheit vertrauen wir uns an?

PredigttextDa führten sie Jesus von Kaiphas vor das Prätorium; es war aber früh am Morgen. Und sie gingen nicht hinein in das Prätorium, damit sie nicht unrein würden, sondern das Passamahl essen könnten. Da kam Pilatus zu ihnen heraus und sprach: Was für eine Klage bringt ihr vor gegen diesen Menschen? Sie antworteten und sprachen zu ihm: Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten dir ihn nicht überantwortet. Da sprach Pilatus zu ihnen: So nehmt ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz. Da sprachen die Juden zu ihm: Es ist uns nicht erlaubt, jemanden zu töten. So sollte das Wort Jesu erfüllt werden, das er gesagt hatte, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde.
Da ging Pilatus wieder hinein ins Prätorium und rief Jesus und sprach zu ihm: Bist du der Juden König? Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus, oder haben dir’s andere über mich gesagt? Pilatus antwortete: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan? Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; aber nun ist mein Reich nicht von hier. Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?
Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm. Ihr habt aber die Gewohnheit, dass ich euch einen zum Passafest losgebe; wollt ihr nun, dass ich euch den König der Juden losgebe? Da schrien sie wiederum: Nicht diesen, sondern Barabbas! Barabbas aber war ein Räuber.
Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpurgewand an und traten zu ihm und sprachen: Sei gegrüßt, König der Juden!, und schlugen ihm ins Gesicht.
Und Pilatus ging wieder hinaus und sprach zu ihnen: Seht, ich führe ihn heraus zu euch, damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde. Da kam Jesus heraus und trug die Dornenkrone und das Purpurgewand. Und Pilatus spricht zu ihnen: Sehet, welch ein Mensch!
Johannes 18,28-19,5

Eine Welt der Folter„O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt, zum Spott gebunden, mit einer Dornenkron“, so tritt der göttliche Gesandte Jesus in unsere Mitte. Wir sehen ihn geschändet, entehrt und gefoltert. Der König Israels, Gottes Lamm, wird von Pilatus, dem römischen Statthalter vorgeführt, von seiner Soldateska verspottet, der tobenden Menge zur Belustigung vorgeführt.
Die ganze furchtbare Welt der Folter tritt mit diesen Worten in unseren Blick. Ich denke an Ohad Ben Ami, Or Levy und Eli Scharabi. Sie wurden am 8. Februar von der Hamas, die sie als Geiseln hielt, Israel überstellt. Vor der Übergabe an das Internationale Rote Kreuz stellte man sie auf die Bühne. Vermummte Waffenträger waren an ihrer Seite, Hass- und Triumphgesänge prägten die Stunde. Doch die Vorfreude in Israel, sie endlich wiederzubekommen, schlug schnell in Entsetzen um. Zu geschwächt und offensichtlich gebrochen wurden sie präsentiert.
Meine Gedanken gehen auch zu Alexej Nawalny. Ein Jahr ist es nun her, dass er in einem russischen Straflager am Polarkreis verstarb. Er, die Gallionsfigur der russischen Opposition, wurde zu vergiften versucht, in der Charité zu Berlin gerettet, nach seiner Rückkehr nach Russland noch auf dem Flughafen verhaftet, einem Schauprozess überstellt und an den Orten seiner Haft über alle möglichen körperlichen Gräueltaten hinaus seelisch zu zermürben versucht. Nur dass in Alexej Nawalny eine geistige Stärke war, die bis in seine letzten Lebenstage von einer anderen lebenswerteren Welt sprach, einer humaneren Vision unseres Daseins auf Erden – ein Zeugnis der Wahrheit.

Die Wahrheit der Folter fordert die Wahrheit der Berührung herausEin Zeugnis welcher Wahrheit? Was überzeugt dich, was lässt dich auf die Knie fallen. Ist es die Macht der Folter, die Androhung von Gewalt oder sollte dich wie mich nicht mehr noch die überfließende Liebe, die Kraft der Dankbarkeit, der Vergebung, der heilenden Berührung überwältigen? Welcher Macht geben wir Raum in unserem Leben? Im Verhör Jesu durch Pilatus fordert die Wahrheit der Folter die Wahrheit der Berührung heraus.
Unvergesslich ist, einmal bewusst gehört, was da in einer Situation höchster geistiger Anspannung geschieht. Jesus antwortet auf Pilatus Rückfrage nach dem Grund seines Königtums mit den Worten: Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich von der Wahrheit Zeugnis gebe. Doch Pilatus kontert darauf so zynisch wie gelangweilt: Was ist (schon) Wahrheit?
Wenn überhaupt etwas für ihn zählt, dann zeigt er dies in seinem anschließenden Handeln. Er beginnt ein perfides Spiel mit der Menge. Er zeigt ihr und er zeigt Jesus, dass er die Macht hat, loszulassen oder in Haft zu nehmen, wann, wen und wie er will – natürlich alles unter Wahrung des Anscheins eines im Zweifel nachprüfbaren Verfahrens. Wie er dann die Geißel nimmt, gibt er nur zu eindeutig zu verstehen, dass er unter Wahrheit kaum mehr als die blanke Gewalt seiner Macht, der Macht überhaupt, versteht. Seine Leute setzen Jesus eine Krone, aus Dornen geflochten, auf und tun so, als würden sie ihm einen Purpurmantel umlegen. So verspotten sie ihn. So verhöhnen sie ihn. Alles geschieht aus Willkür. Alles dient seiner Entehrung. Pilatus, der Herrenmensch, zeigt, was er kann. Gedemütigt muss Jesus vor die Menge treten, die Karikatur eines Königs. Pilatus stellt ihn vor mit den Worten: Siehe, der Mensch – das ist der Mensch! Da seht die Jammergestalt. Golgatha wird ihn erwarten.

Doch Jesus bleibt sich treuDoch Jesus bleibt auch noch jetzt seiner selbst sicher. Er bleibt auch jetzt sich treu. Er zeigt sich als der wahre König, als Mensch höchster Würde. Sie gründet allein in seiner geistigen Freiheit, die ihn zum Hirten und Heiland seines Volkes macht. Er braucht keine Waffen, er ruht in der Liebe seines himmlischen Vaters. Er weiß sich treu seiner Sendung, sein Volk, ja darüber hinaus die Menschengemeinschaft zu heilen, sie wieder zu öffnen für echte Wahrheit, für die göttliches Leben schenkende Wirklichkeit. Sie erhellt, sie durchleuchtet unser Leben. War Jesus doch der, der den Seinen die Füße wusch zum Zeichen der Liebe, der Lazarus aus dem Grab holte zum Zeichen der Auferstehung, der den Blindgeborenen ins Sehen brachte, den Gelähmten aus seinen Fesseln löste, der samaritanischen Frau am Jakobsbrunnen die inneren Quellen öffnete – ein Heiler von Leib und Seele. So leuchtet noch aus dem geschändeten Jesus seine lichtvolle Kraft auf. Sie ruft nach einem Miteinander der Versöhnung und Hingabe. Sie verlangt auch, dass dort, wo Recht unabwendbar gesprochen werden muss, es immer im Dienst der Humanität bleibt. Dann erkennen wir wieder etwas von Jesu Herrlichkeit, voll Gnade und Wahrheit. Er will unser Leben weiten. Denn um es mit den Worten Khalil Gibrans zu sagen: „Jesus kam aus den Herzen der Menschen … Er nahm sich des Tempels der Seele an, die der Körper ist ... Er spürte die bösen Geister auf. Er heilte die Kranken… Er blickte auf Rom und auf uns, die wir Sklaven Roms sind… Er war größer als Staat und Volk… Er war ein Erwachen, er der freieste aller Menschen … Welcher andere Menschenrichter sprach Seine Richter frei? Hat die Liebe je den Hass mit einer größeren Selbstsicherheit herausgefordert?“( Kh.Gibran, Jesus Menschensohn, Olten 1988)
Jesus zeigt uns, was Menschsein heißt. In ihm erkennen wir uns wieder. Die Folter verstummt vor der Liebe, vor deiner Liebe, Jesus! Und wirst du auch geschändet, so leuchtet doch Gottes Licht in dir und erhellt unseren Weg. Oder willst du noch mit den Wölfen heulen, nur vornehm die Achsel zucken?

Seht den Menschen! Seht in ihm alle Menschen!Michelangelo Caravaggio (1571-1610) hat um das Jahr 1605 ein großartiges „Ecce homo - Seht den Menschen“ gemalt. Auf dem jüngst wiederentdeckten Bild, derzeit im Prado in Madrid ausgestellt, sehen wir Jesus. Pontius Pilatus und sein Folterknecht sind ihm auf den Leib gerückt, aber aus seinem Körper erstrahlt ein einzigartiges Leuchten. Es überstrahlt die Folterspuren. Seht den Menschen! In Jesus sehen wir alle Menschen. Wir sehen die Gedemütigten und Entrechteten, wir sehen die auf Heilung Wartenden und die Geheilten. Wir erkennen die Stärke des Geistes, die Kraft des Glaubens, das Leuchten der Wahrheit. Gemeinsam überwinden sie alle Gewalt. Du Jesus bleibst mein König, mein Bruder, mein Heiland!

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