Jubilate (07. Mai 2017)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Johannes Reinmüller, Ingelfingen [johannes.reinmueller@web.de]

Johannes 16, 16-23

Wann sind wir endlich da? – Eine Kinderfrage„Wann sind wir endlich da?!“
Es ist eine Frage, die Kinder stellen. Im Auto. Auf langen Urlaubsfahrten. Und manchmal schon nach einer Viertelstunde.
„Wann sind wir endlich da?!“
Diese Frage kennt man entweder von den eigenen Kindern oder von sich selbst, als man noch ein Kind war – eingepfercht auf der Rückbank des Autos zu einer Zeit, als Klimaanlagen in PKWs ein Fremdwort waren und der Stau auf dem Brenner oder vor dem Tauerntunnel einfach nicht enden wollte. „Wann sind wir endlich da?“ Gemeint mit „da“ war das langersehnte Ziel, die Nordsee, Kärnten oder auch Italien. Und dann, wenn man da war, konnte man endlich raus aus dem überhitzen Auto, raus aus dem Mief, die Kekskrümel, den Streit mit den Geschwistern, die bedrückende Enge und die lähmende Ungeduld hinter sich lassen und aufstehen, die Sonne, den Wind und die Weite des großen blauen Meers staunend genießen und sich freuen – denn man war endlich „da“.

Es heißt immer, auch das Leben sei eine Reise. Und wenn das Leben eine Reise sein soll, stellt sich die Frage, wann man endlich da ist, also sein Ziel erreicht hat. Der Materialist ist „da“, wenn sein Eigenheim abbezahlt oder sein Arbeitsvertrag unbefristet ist. Der Individualist ist am Ziel, wenn er seinen Lebenstraum verwirklicht hat und endlich „ganz bei sich selbst ist“. Ein Pessimist hat sein Ziel erreicht, wenn er 80 oder 90 Jahre lang ein Leben ohne nennenswerte Zwischenfälle führen konnte und dann sterben darf. Und wann hat ein Christ sein Ziel erreicht? Wann ist ein Christ endlich „da“? Eine Antwort darauf gibt Jesus im Johannesevangelium, in Kapitel 16, in den Versen 16, 20 bis 23:

„Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen.[…] Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden.
Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. Und auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. An dem Tag werdet ihr mich nichts fragen.“

Wir werden nicht erst da sein, sondern wir sind schon da!Wenn wir als Jesu Kinder fragen: „Wann sind wir endlich da?“, dann wendet sich uns Jesus als der auferstandene Herr zu und sagt: „Frag‘ nicht mehr! Sondern schau auf. Lass das, was dich bedrückt, woran du gelitten hast, hinter dir. Denn wir sind da!“
Wir blicken auf und erkennen, dass um uns herum alles anders ist und eine Freude kommt in uns auf, die uns keiner nehmen kann. Denn wir haben unser Ziel erreicht. Wir sind endlich da.
„Aber halt!“, denken sich viele. Wann wird das alles eintreten? Wann wird diese Zeit für uns kommen, in der wir die Frage „warum“ nicht mehr stellen brauchen, wenn wir am Leben und an seinen Ungerechtigkeiten nicht mehr verzweifeln und wir uns ungebrochen freuen können? Für Jesus ist klar: Diese Zeit wird nicht erst in der Zukunft kommen, sondern sie ist schon für uns da! Wer Ostern gefeiert hat, wer begriffen hat, dass Jesus starb und das Grab verlassen hat, für den gibt es keine Fragen, sondern nur noch ungebrochene Freude, für den ist das Ziel erreicht. Er ist schon „da“!

Wir sind zwar da – aber die alten Fragen bleibenHaben wir Christen seit Ostern keine Fragen mehr, keine Last und kein Leid, sondern nur noch ungebrochene Freude? Soll das alles schon hier und jetzt Wirklichkeit sein?
Die Wirklichkeit lehrt uns anderes: Wir Christen wissen zwar um die österliche Freude, darum, dass Jesus den Tod besiegt hat und wir an diesem Sieg Anteil haben. Und wir wissen, dass „weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes“. Aber trotz der Osterfreude bleiben die Fragen, das bohrende „Warum“. Auch nach Ostern fragen wir uns immer wieder, warum ausgerechnet bei einem unserer Freunde der Krebs gestreut hat und er zu früh sterben musste. Auch nach Ostern fragen wir uns immer wieder, warum ausgerechnet das Ehepaar in unserer Verwandtschaft sich nicht wieder versöhnen konnte und auseinanderging. Auch nach Ostern fragen wir uns immer wieder, warum ausgerechnet der Bekannte sich, seine Familie und seine Existenz „weggesoffen“ hat.

Auch nach Ostern, auch in der Osterfreude, stellen wir uns weiterhin die Warum-Frage. Und dann fühlen wir uns von Ostern, von dem großen Ziel, zurückgeworfen, zurück in den alten Mief, in die Enge, in den Streit, in die Ungeduld und wieder zurück zur Frage: „Wann sind wir denn endlich richtig da?“

Zwar noch eingeengt sein – aber schon da sein. Das ist unser jetziges DaseinIst Osterfreude nur eine reduzierte Freude? Eine Freude, die hier im Leben nur eingeschränkt gilt und erst nach unserem Leben in einem ganz neuen, einem ganz anderen Leben voll zur Entfaltung kommen wird?
Nein! Jesus weiß, wie sehr seine Kinder eingeengt und bedrängt sind. Er weiß um den Streit, um die Enge, den Spott und um die Ungeduld, die sie ertragen müssen. Er weiß, dass all dies im Leben seiner Kinder vorkommt. Und trotzdem sagt Jesus, dass die Osterfreude bereits hier und jetzt eine vollkommene, also eine nicht zu überbietende Freude ist.

Und warum? Weil wir jetzt schon da sind. Und weil damit der Streit, die Enge, der Spott und die Ungeduld, eben der ganze alte Mief, uns zwar weiterhin umgeben, uns aber die Freude am erreichten Ziel, eben am Jetzt-Dasein, nicht verderben können. Wir leben weiterhin im Mief, erleben weiterhin die Enge, stecken weiterhin im Streit – und sind dennoch da. Und damit bleibt unser Blick nicht im wortwörtlich „alt-hergebrachten“ Innenraum, an den Kekskrümeln und Verteilkämpfen haften, sondern blickt nach draußen. Er hat eine neue Perspektive: er richtet sich am neuen Dasein aus.
Das ist das Leben der Kinder Jesu. Im Alten sein und trotzdem schon da sein. Oder – um im Bild zu bleiben: noch im Auto auf der Rückbank sitzen, aber schon am Ziel sein.

Auferstehen und frei sein – das wird unser neues DaseinUnd irgendwann werden wir dann doch den alten Raum verlassen. Die Enge, den Streit und die Ungeduld hinter uns lassen und auferstehen. Das neue Land endlich betreten, das doch schon lange unser Dasein war. Wir werden auferstehen und alle Schmerzen werden von uns weichen.
Wir sind endlich da!
Amen.

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