Jahreslosung (01. Januar 2022)
Bischof Professor Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh, Karlsruhe [Jochen.Cornelius-Bundschuh@ekiba.de]
Johannes 6,37
Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.
Johannes 6,37
DazugehörenSie war anders. Sie stand immer am Rand. Sie sprach kaum. Einige machten sich im Netz lustig über sie. Irgendwann war sie nicht mehr auf der Schule. „Hätten wir etwas anders machen können? Sie hätte uns ja auch mal ansprechen können?“
Was hätte es gebraucht, damit diese junge Frau sich getraut hätte, auf die anderen zuzugehen? Vielleicht jemand, der zu ihr gesagt hätte: „Du kannst jederzeit kommen! Wir können gerne reden oder auch nur zusammen dasitzen. Musik hören, etwas trinken. Und: Ich rede nicht mit den anderen darüber. Darauf kannst du dich verlassen!“
Die Tür ist offen!Jesus öffnet mit der Jahreslosung eine Tür: „Wer zu mir kommt, wird nicht abgewiesen. Wer zu mir kommt, muss sich keine Sorgen machen, was ich mit dem mache, was er oder sie mir anvertraut. Wer zu mir kommt, kann sich auf mich verlassen.“ Jesus drängt sich nicht auf, aber er sieht die Angst und die Einsamkeit. Er signalisiert: „Du kannst gerne kommen.“ Jesus gehört nicht zu denjenigen, die den Kreis schließen, so dass die eine außen vor bleibt. Er lacht nicht mit den anderen über den
Außenseiter, nur weil er auch zur Mehrheit gehören will. Jesus respektiert meine Freiheit, draußen zu bleiben, aber er hält die Tür offen: „Wenn du willst, können wir reden.“
Hinter der Tür ist eine andere Welt: Eine Welt, in der alle Geschlechter und Altersgruppen, Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen, verschiedenen körperlichen, seelischen und geistigen Fähigkeiten und Belastungen, unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergründen an einen Tisch geladen sind. Sie teilen, was sie haben, unter dem Segen Gottes – und alle werden satt. Sie reden und lachen, sie streiten und versöhnen sich. Sie nehmen einander in den Arm (es gab ja noch keinen Corona-Virus). Sie haben ein besonderes Auge auf die, die traurig sind und die es schwer haben mit sich und anderen.
An diesem Tisch möchte ich auch sitzen. Die Tür ist schon offen, aber noch stehe ich hier. Durch die Tür fällt Licht in unsere Welt, in der wir Angst haben: allein zu sein, nicht anerkannt und gebraucht zu werden. In dieser Welt frage ich mich: Was wird mir zugetraut? Sind es meine Leistungen im Beruf, die mich ausmachen? Ist es meine Beliebtheit im Kollegium oder im Freundeskreis? Mein Erfolg?
Die Tür ist offen. Ein neues Licht fällt in unsere Welt. Ein Glanz, der unsere Lasten leichter macht und uns erquickt. „Was können wir tun, um zu Gott zu gehören?“ (6, 28), haben sie Jesus an der Tür gefragt. „Nichts, das ist Gottes Werk!“, hat er geantwortet und sie eingeladen: „Kommt, denn es ist alles bereit!“
Ich bin gefragtJesus ist im Johannesevangelium immer im Gespräch: mit seinen Freundinnen und Freunden; mit den Menschen, die erleben wollen, wie er Wunder tut, und ihn am liebsten auf dieser Seite der Tür zum König machen würden; auch mit denen, die gegen ihn sind. Er führt sie alle an die offene Tür und lädt sie ein, mit ihm hindurch zu gehen.
Es ist eine Einladung in die Freiheit und das Glück der neuen Welt. Eine Einladung, die uns die Freiheit lässt, ja zu sagen oder nein. Jesus baut keinen Druck auf nach dem Motto: „Nur wenn du das machst, dich so anziehst, diese Musik gut findest, so betest und singst, dich so engagierst, gehörst du zu mir!“ Ohne Zwang, ohne Hintergedanken, ohne zu rechnen, was für ihn dabei herausspringt, ringt Jesus um meine freie Zustimmung.
Ich bin gefragt! Weil ich so wie ich bin, zu Jesus Christus gehöre. Diese Bindung, diese Liebe ist entscheidend; alle anderen sozialen, religiösen und kulturellen Unterschiede treten in den Hintergrund: „aus Gott“ und „in Christus“, so stehe ich als Glaubender in der Welt.
Gott vertraut uns mit unseren Stärken und unseren Macken Jesus Christus an und, nachdem was das Johannesevangelium erzählt, mutet ihm uns auch zu. Immer wieder muss Jesus mit seinen Freundinnen und Freunden darum ringen, dass die Tür offen bleibt, weit offen: Sie wollen alles richtig machen und merken nicht, wie sie auf diese Weise gegen die Tür drücken, so dass sie sich für viele zu schließen droht. Sie sortieren: Wer gehört dazu, und wer nicht. Wir erleben die Schwäche des starken Petrus: Er verleugnet Jesus; andere Freunde fliehen. Und dennoch bleibt die Tür offen für Petrus.
Jesus weist sie nicht ab, stößt sie nicht hinaus, wie Luther übersetzt. Vielmehr stellt er sie ins Licht, das durch die Tür aus Gottes neuer Welt in unsere Welt fällt. Er erinnert uns daran, dass wir aus der Liebe leben, die uns geschenkt wird, nicht aus dem, was wir leisten. An entscheidenden Stationen des Lebens erfahren wir das: als Babys durch die Liebe von Eltern und Geschwistern; im Alter, wenn wir das Glück haben, dass unsere Würde in Liebe bewahrt wird; als Verliebte, die füreinander da sind, ohne zu rechnen, was sie davon haben. In diesen Szenen erleben wir den Glanz des erfüllten, geliebten Lebens schon heute, der durch die Tür in unser Leben fällt, die Jesus aufgestoßen hat.
Im Licht aus Gottes Zukunft lebenJesus hält uns die Tür offen. In dem Licht, das hereinfällt, spüren wir: Wir sind mehr als das, was andere oder auch wir selbst in uns sehen oder von uns erwarten. Wir gehören zu Christus mit dem, was wir können, aber auch mit unserer Verletzlichkeit und unseren Grenzen. Alles, was wir sind, können wir bei ihm sein; er weist uns nicht ab. Wir können mit unserer Kraft, Freude und Ausstrahlung kommen, aber auch mit dem, was wir einander und Gott schuldig geblieben sind. Vielen Menschen ist in den Corona-Jahren 2020 und 2021 nicht nur unsere Vergänglichkeit neu deutlich geworden, sondern auch das Scheitern an den eigenen Ansprüchen, das Schuldigwerden. Ich denke oft an die Frau, die uns im Gottesdienst erzählte, dass sie es nicht verwinden kann, dass sie ihren Vater nicht im Sterben begleitet hat: „Für ihn, der immer für uns da war, konnten wir nicht da sein.“ Traumatisch sind diese Erfahrungen für viele Menschen. Ob das Licht, das durch die von Jesus geöffnete Tür in unsere Welt fällt, sie aufrichten und versöhnen kann? Ob die Hoffnung auf eine Zukunft in Gottes neuer Welt sie freier macht?
Wo wir gehen oder stehen, begleitet uns ein Strahl des Lichtes aus Gottes Welt, wie ein nachgeführtes Spotlight. Sein Glanz richtet uns auf und macht uns frei und mutig. „Hier stehe ich, von Gott geliebt, gestärkt, getrost und voller Lebensmut!“ Ich kann etwas tun; Christus traut mir etwas zu. Ich kann schon jetzt in dem Glanz leben, der Gottes neue Welt erfüllt. Und diesen Glanz weitergeben: an Menschen, wie die junge Frau, von der ich zu Beginn erzählt habe, die auf eine offene Tür hoffen.
Die Jahreslosung lädt dazu ein, 2022 zu einem Jahr der Inklusion zu machen, in dem wir gegen Ausschlüsse und Ausgrenzung kämpfen, indem wir die Gruppen in Blick nehmen, die in besonderer Weise um Inklusion kämpfen: Menschen, die bei uns aus politischen, sozialen und persönlichen Gründen Zuflucht suchen; Menschen, die mit ihren besonderen Fähigkeiten oder Belastungen, an Grenzen stoßen und rufen: „Macht die Türen auf! Schleift die Türschwelle, damit wir hineinkönnen!“
Ein gesegnetes Jahr 2022 im Glanz der neuen Welt Gottes!
Ihr Jochen Cornelius-Bundschuh
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