Invocavit / 1. Sonntag der Passionszeit (05. März 2017)

Autorin / Autor:
Dekan Michael Werner, Ludwigsburg [Dekanatamt.Ludwigsburg@elkw.de]

1. Mose 3, 1-24

Liebe Gemeinde,

Urgeschichte nennen wir die Geschichten ganz am Anfang unserer Bibel. Die Geschichte von Schöpfung und Fall, Adam und Eva, Kain und Abel, von der großen Flut und dem zweiten Anfang, den Gott mit Noah und seiner Schöpfung macht. Und schließlich: Die Geschichte vom großen Turm, mit dem die Menschheit sich in Babel einen Namen machen will. Sie kennen das Ende: Vielfalt, gottgewollte Vielfalt an Sprachen und Völkern ist das Ergebnis.

Urgeschichten, jedenfalls die biblischen Urgeschichten, sind Geschichten vom Anfang. Nicht so, dass dieser Anfang in eine weit zurückliegende Vergangenheit weist. Urgeschichten sind Geschichten über uns. Sie gehen sozusagen auf der Rückseite unserer eigenen Geschichten mit. Sie sagen etwas darüber, wer wir sind. – Und sie sagen, wer wir von Anfang an waren. Beides gehört zusammen. Wer wissen will, wer wir sind, der muss auch unsere Herkunft kennen. Beides steckt in diesen Geschichten vom Anfang.

Wer wir warenWer waren wir? Die biblische Urgeschichte sagt es mit starken Bildern: Wir sind Teil der von Gott geschaffenen Welt. Aus Erde und Staub gemacht, sterblich wie alles, was lebt. Von Gott angehauchte, lebendige Wesen, die selbst einatmen und ausatmen. Das tun wir bis heute. Wer atmet, lebt.

Wer waren wir? Wir waren Menschen an einem wunderbaren Ort, den es nicht mehr gibt und der doch „jedem in die Kindheit scheint und wo noch keiner war“ (E. Bloch): ein großer, fruchtbarer Garten in Eden, voller Bäume. Die Früchte waren gut zu essen. Unsere Aufgabe war, den Garten zu bebauen und zu bewahren. Arbeit gehört von Anfang an dazu. Dass unsere Arbeit Mühe macht, dass es schwierig sein kann, von seiner Hände Arbeit zu leben, dass Menschen ohne Arbeit bleiben und andere unter der Last ihrer Aufgaben zusammenbrechen, davon ist an unserem Anfang noch nicht die Rede.

Wer waren wir? Wir waren nackt, und das störte uns nicht. Wir waren in vieler Hinsicht jenseits von Gut und Böse. Aber wir waren nicht einsam. Gemeinschaft war von Anfang an Teil unseres geschöpflichen Daseins. Wir haben den Tieren ihre Namen gegeben. Und schließlich haben wir uns selbst entdeckt. „Diese nun endlich!“ – „Dieser nun endlich!“ Was für ein Anfang! Keiner soll alleine bleiben. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ ist sozusagen unser Gründungssatz. Wir sind Adam, der Mensch, und Eva, die „Mutter alles Lebenden“. Der Mensch, den Gott zu seinem Bild geschaffen hat.

Und noch etwas gehört zu unserem Anfang: Eine Grenze, mitten im Garten. Dazu ein einziges Gebot. Ein Baum, der uns entzogen war und dessen Früchte wir nicht essen sollten. Das Wissen um Gut und Böse war nicht für uns gedacht. Oder doch? „An dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben.“ Der Baum in der Mitte ist keine beliebige Grenze. Keine Mauer, um andere draußen zu halten. Es geht an unserem Anfang um die Grenze zwischen dem, was wir sind und was wir nicht sein sollen. Es geht um das menschliche Maß in allem, was wir sind und tun. „Wir sollen Menschen sein, nicht Gott. Das ist die Summa“ (Martin Luther). Das ist gemeint in dieser Geschichte vom Anfang. Unser Leben hat Grenzen. Es gelingt, wo wir sie im Blick behalten. Grenzenlos leben kann keiner.

Wer waren wir? Menschen, die noch nicht jenseits von Eden, dafür aber jenseits von gut und böse lebten: Geht dass überhaupt? Ein Leben ohne Verantwortung? Gibt es ein menschliches Dasein ohne die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu entscheiden und danach zu handeln? Das ist die Stelle, an der die Frage, wer wir waren, nicht zu trennen ist von der Frage, wer wir sind.

Wer wir sindWer sind wir? Wir sind Menschen, die es wissen wollen. Immer schon. Von Anfang an. Damit beginnt der Abschnitt, den wir gehört haben. „Sündenfall“ ist er in unserer Bibel überschrieben. Dabei wird die Frage, woher die Sünde und das Böse in unsere Welt kommen, nicht beantwortet. Die Schlange ist zwar „klüger als alle Tiere des Feldes“. Eine dunkle Macht ist sie nicht. Sie ist selbst eines der Tiere, die Gott geschaffen hat. Ein Geschöpf. Aber ihre Art, zu fragen und die scheinbar gültigen Dinge in Frage zu stellen, ist uns vertraut: „Hat Gott wirklich gesagt, dass ihr von allen Bäumen im Garten nichts essen dürft?“ Nein, das hat er natürlich nicht. Nur einen Baum hat er ausgenommen. Aber kaum haben wir das gesagt, steht auf einmal dieser eine Baum im Mittelpunkt. Nicht das Erlaubte, allein das Verbotene scheint uns verlockend und interessant. Eine „Lust für die Augen“, weil er klug macht und weil uns seine Früchte ganz nah an den heranbringen, von dem wir herkommen. Sein wie Gott, liebe Gemeinde, ist keine abstrakte Definition von Sünde. Es ist die äußerste Möglichkeit, unser Leben zu steigern: Grenzenlos frei, grenzenlos glücklich, grenzenlos wissend und klug, grenzenlos was auch immer – bis wir dort stehen, wo wir nicht stehen können.

Wer sind wir? Jedenfalls sind wir nach dem Essen nicht mehr dieselben wie vorher. Wir sehen plötzlich unsere Blöße. Nackt waren Adam und Eva bereits vorher. Aber der Zustand, in dem ich das im wörtlichen wie im übertragenen Sinn sein kann, indem ich mich dem andern gegenüber öffnen und mich so zeigen kann, wie ich bin, ohne Angst, ohne das ungute Gefühl: Was weiß der Andere dann über mich? Was denkt er über mich? Wird er es ausnützen, was ich ihm anvertraut habe? Dieser Zustand liegt längst hinter uns. Wo wir ihn dennoch erfahren in der Liebe und im gegenseitigen Vertrauen, gewinnen wir ein Stück von dem verlorenen Garten zurück. Ein Stück. Denn ganz frei von der Sorge um uns selbst und unsere Wahrnehmung durch andere, wird keiner von uns sein. Das ist der Preis der verbotenen Frucht und unseres Aufbruchs in die Freiheit.

Manche sehen darin einen notwendigen Schritt. Den Ausgang aus einer ersten nicht selbst verschuldeten Unmündigkeit. Das mag sein. Solange wir danach fragen, wer wir sind, werden wir es uns kaum anders vorstellen können als so, dass wir das, was wir tun, selbst verantworten und die Frage nach Gut und Böse selbst stellen und entscheiden. Wer die Geschichte von Adam und seiner Frau im Garten allerdings aufmerksam liest, der stellt fest: Ja, wir sind in der Lage, Gut und Böse zu erkennen und danach zu handeln. Aber auch: Nein, wir sind nicht von Anfang an fähig, für das, was wir tun, gerade zu stehen und Verantwortung zu übernehmen. Wir üben noch. Und wir haben, wie alle Übenden, die Neigung, andere für unsere Lage verantwortlich zu machen. So tun es jedenfalls die beiden Menschen im Garten: Die Frau ist schuld, die du mir zur Seite gestellt hast. Die Schlange war es, dein Geschöpf, das du geschaffen hast. Und in allem der kaum versteckte Vorwurf: Im Grund bist du, Gott, selbst an allem schuld. Trägt nicht der Schöpfer Verantwortung für sein Geschöpf? Wir sind bis heute gut darin, Schuld und Verantwortung auf andere abzuwälzen.

Dabei geht es in dieser Geschichte auch um die Einsicht, dass ich selbst immer wieder gefragt bin: „Adam, wo bist du?“ Sie dürfen an dieser Stelle bei passender Gelegenheit übrigens ruhig Ihren eigenen Namen einsetzen. Ja, wir sind gefragt. Ich bin gefragt, wo es um mein Handeln, mein Tun und Lassen, meine Entscheidungen und deren Folgen geht. Ich und kein anderer. Wenn nicht bereits vorher, dann wird die Geschichte genau an dieser Stelle zum Sündenfall: nämlich da, wo wir uns weigern, Verantwortung zu übernehmen.

Das Leben geht weiterWer sind wir? Das Leben geht am Ende weiter. Auch nach dem Fall. Außerhalb des Gartens. Jenseits von Eden. Dort leben wir. Bis heute. Das ist unser Ort. Unser Leben jenseits von Eden ist nicht ohne Verheißung. Wir haben Kinder. Sie werden geboren und kommen zur Welt. Aber es geschieht unter Schmerzen. Eltern wissen, nicht nur bei der Geburt: Unser Leben ist verletzlich und gefährdet. Oft genug gefährden wir uns selbst.

Es bleibt die Gemeinschaft. Auch außerhalb des Gartens. Es gibt immer noch gelingende Beziehungen und Partnerschaft. Und doch geht ein Riss durch unsere Welt. „Knacks“ hat ihn der verstorbene Roger Willemsen einmal genannt. Das Schöne ist nicht nur schön. Beziehungen scheitern. Wir werden einander nicht immer gerecht. „Manchen bin ich einiges, einigen bin ich vieles schuldig geblieben. / Und die Zeit läuft davon. / Wessen Liebe kann das noch gutmachen? / Die meine nicht. / Nein, die meine nicht.“ So dichtet Kurt Marti.

Unsere Arbeit bleibt. Zum Glück. Die meisten von uns bebauen und bewahren zwar nur kleinere Gärten. Aber es ist schön, etwas tun zu können. Arbeit, sinnhafte und erfüllende Arbeit ist wichtig. Sie ist mit Anstrengung verbunden. Und sie ist höchst ungleich verteilt. Damit müssen wir zurechtkommen. Es gibt nicht nur den Erfolg, nicht nur das Ernten, wo wir säen. Es gibt auch das Scheitern, die Erfahrung des Vergeblichen. Es gibt die vielfachen Gefährdungen unseres Lebens und unserer Welt, im Großen wie im Kleinen. Wir entkommen uns nicht. Und trotzdem: Das Leben geht weiter. Wir sind uns nicht selbst überlassen. Auch davon erzählen die Urgeschichten am Anfang der Bibel.

Sie sind dazu da, uns die Augen zu öffnen. Über uns selbst. Aber auch darüber, wer wir in Gottes Augen sind. Ebenbild Gottes, Gottes Bild nennt uns die Bibel ganz am Anfang und macht damit deutlich, dass man uns immer schon in einer letzten und besonderen Beziehung sehen muss, wenn man uns ganz sehen will. In dieser Beziehung liegt auch das begründet, was wir unsere Würde, Menschenwürde, nennen.

Die Geschichte vom Garten in Eden erzählt auf ihre Art davon, was es mit diesem Ebenbild im Allgemeinen und mit unserer Würde im Besonderen auf sich hat. Wer mit dieser Geschichte umgeht, bekommt eine Ahnung davon, wie gefährdet unsere Würde ist und wie sehr wir es selbst sind, die diese Würde immer wieder gefährden. Was bei Adam und Eva beginnt, setzt sich bei Kain und Abel fort und geht dann weiter. Das Bild Gottes, das wir sind, sieht man uns jedenfalls nicht an der Nasenspitze, auch nicht an der Haarfarbe oder an den Augen an. Oft kann man auch auf den zweiten und dritten Blick herzlich wenig davon erkennen. Und doch nimmt die Bibel nichts davon zurück. Im Gegenteil: Um unsere Würde zu wahren, macht Gott am Ende der Geschichte Adam und seiner Frau Röcke aus Fellen für das Leben draußen. Das heißt: Man kann leben jenseits von Eden. Wir sind nicht ohne Begleitung. Für unsere Würde wird gesorgt. Unsere Welt ist keine Welt ohne Gott. Das ist gut zu wissen. Amen.

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