Invocavit / 1. Sonntag der Passionszeit (09. März 2025)
Hebräer 4, 14–16
IntentionDie Predigt möchte den Hörenden im Blick auf Führungsfiguren und Vorbildern Orientierung geben. In dieses Feld wird die Figur des Hohepriesters gestellt. Sie gewinnt im Verlauf der Predigt an Konturen, so dass die Hörenden nachvollziehen können, worin das Besondere dieser Figur besteht und welche Rolle sie für den christlichen Glauben spielt.
PredigttextWeil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum lasst uns freimütig hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden und so Hilfe erfahren zur rechten Zeit. (Hebräer 4, 14-16)
Eine bewundernswerte, starke Führungsfigur!Liebe Gemeinde, noch vor ein paar Jahren wären wir uns darin einig gewesen, dass die Zeit der großen Männer vorbei ist: Könige und Kaiser gehören einer vergangenen Epoche an, Demokratien begrenzen die Regierungsmacht und vergeben sie nur auf Zeit und nicht nur an Männer, weil auch hier zunehmend Gleichberechtigung gelebt wird.
Die Entwicklung der letzten Monate hat uns etwas anderes gelehrt: Die Zeit der großen Männer ist längst nicht vorbei; sie erlebt eine Renaissance. Einzelne Frauen tun es ihnen gleich und legen ein ähnliches Machtgebaren an den Tag.
Die Sehnsucht vieler Menschen nach starken Führungsfiguren ist offenbar groß.
Was steckt wohl dahinter? Dass dieser Starke mich Schwachen mitreißt und auch stärker macht? Dass der da vorne oder die da vorne es denen da oben endlich sagt, wie ich es schon lange zu sagen wünsche? Dass man sich im Schatten eines Starken bequem bergen kann?
Dass dieser große starke Mann da vorne sich endlich um mich kümmert – und nur um mich und nicht um diese anderen?
Diese anderen, die sind sowieso an allem schuld. Diese anderen wollen mir alles wegnehmen, die machen mich klein und wählen eine andere Partei. Ich bin das leid, und manchmal kommt sogar Hass in mir hoch.
Ich kann mich nicht um die anderen kümmern! Ich muss funktionieren: Bei meiner Arbeit muss ich Leistung zeigen, Stärke.
Ich darf nicht krank sein, und weil ich mich so zusammenreißen muss, sehe ich nicht ein, dass ich anderen etwas abgeben soll. Diese anderen! Weg mit ihnen, abgeschoben gehören sie!
Die da vorne spricht verständlich, und der da als neuer Präsident versteht mich. Er versteht mich Kleinen. Er hat dieselben Feinde wie ich und dieselben Freunde.
Sollte ich ihm einmal begegnen oder sollte mir gar einmal im Vorbeigehen die Hände schütteln, dann wäre dieser Tag gerettet; nein, diese Woche wäre etwas ganz Besonderes.
Und wie der dann auftritt und wie die ins Mikrophon schreit und die Massen jubeln und ihre Arme erheben! Das hat schon etwas Religiöses. Da zelebriert jemand eine Messe, eine Messe der Macht.
Ist das also der Hohepriester von damals, heute in säkularem Gewand?
Sind diese Starken, die sich heute viele so sehr wünschen und verehren, sind diese Starken die Hohepriester von damals?
Schließlich verstehen sie uns. Schließlich sind sie auch von anderen bedrängt worden, angefeindet, früher hätte man dazu gesagt: Sie sind versucht worden. Aber das alles hat ihnen nichts anhaben können – nicht die Pornodarstellerin, deren Absichten durchschaubar waren, nicht die Juristen in Rom, die dieser wunderbaren Führungsfigur ja doch bloß das Leben schwer machen wollen!
Zeitgenössische Hohepriester der Macht zelebrieren sie. Sie lassen die Kugeln des Attentäters an sich abprallen; wir verehren sie.
Kein Hohepriester der MachtWarum ist uns aber bei dieser Art von Verehrung, bei dieser Gleichsetzung, so unwohl, liebe Schwestern und Brüder? Was stimmt hier nicht und wo liegt hier etwas verquer?
Eben darin, dass Christus kein Hohepriester der Macht ist. Er wurde wohl zur Macht versucht: „All diese Reiche will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest!“
Aber er hat dieser Versuchung widerstanden. Man hat ihn eben nicht auf den Straßen, den Gassen und großen Plätzen schreien hören; ruhig und leise ist er geblieben. Und hat nicht eingestimmt in das Denunziantentum, hat nicht mit dem Finger auf andere gezeigt und sie als Abschaum beschimpft. Er hat nicht mitgemacht, als es darum ging, neue Opfer auszumachen und ihnen die Verantwortung für alles Elend und alle Ungerechtigkeit in die Schuhe zu schieben. Und weil er dieser Versuchung widerstanden hat, ist er selber zum Opfer geworden.
Er war ein Spielverderber. Er hat das Spiel gestört, das so aussieht, dass der Mächtige immer ablenkt von seinem eigenen Versagen und von seiner eigenen Schuld. Dieses grausame Spiel hat er nicht mitgespielt, hat die Welt nicht in winner und in looser aufgeteilt. Er hat das Spiel nicht mitgespielt, das mir einreden will: Du wirst es schaffen wie ich. Du wirst reich werden wie ich. Mit mir zusammen wirst du dich auf der Siegerstraße wiederfinden!
Der Gerechte ist ein Spielverderber. Gott sei Dank ist er das! Anders würde diese Welt ihren Maßstab verlieren. Anders könnte sie sich nur noch an Macht und Reichtum ausrichten.
Der Gerechte ist Christus. Er wendet sich von diesen Machtspielen und Machtintrigen ab. Er wendet sich anderen zu, den Opfern von Gewalt und von Ungerechtigkeit. Er bezeichnet sie nicht als looser; er erhebt sie vom Boden.
Welche Messe zelebriert dieser Hohepriester? Dieser Christus?
Eine Messe für die anderen, für die Armen, für die Opfer, für die, denen das Leben eine erdrückende Last ist.
Eine Messe für die Ohnmächtigen, die nicht wissen, wie ihnen geschieht, die als schutzlose Migranten aufgespürt werden und gejagt wie Schwerkriminelle, um von ihrer Familie fortgerissen und in ein Flugzeug gesteckt zu werden.
Eine Messe für unser schwaches, ängstliches Herz, für unser Herz, das sich danach sehnt, umarmt zu werden und zärtlich angeschaut zu werden von anderen.
Die Versuchungen des HohepriestersDieser Hohepriester hat die Himmel durchschritten. Er hat unsere Erfahrungen geteilt.
Er ist versucht worden wie wir. Versucht zur Macht. Weil er dieser Versuchung aber widerstanden hat, ist er ihr Opfer geworden, ein Opfer der Kriege. Dieser Hohepriester hat die Seiten gewechselt. Er hat seine Messe nicht im Kreml zelebriert, sondern wurde verwundet an der ukrainischen Front; wahrscheinlich wurde er zum Krüppel geschossen und liegt jetzt traumatisiert in der Klinik und wartet auf die Anpassung seiner Prothesen.
Dieser Hohepriester hat der Versuchung widerstanden. Zuerst wurde er elendiglich abgeschlachtet an jenem 7. Oktober in jenem Kibbuz und auf jenem Festival der Jugend, das als Gewaltorgie endete. In den Monaten danach hat er die Seiten gewechselt und wurde aus den Häusern gebombt im Gaza, hat dort eines seiner Kinder verloren, ist seither traumatisiert und irrt umher.
Das eine Mal sehen wir ihn als Hohenpriester, als den leidenden Christus. Dann wieder sehen wir die vielen Frauengestalten und ihr unsägliches Schicksal, und in ihnen nimmt dieser Hohepriester die Gestalt der Maria an, der leidenden Mutter des Herrn. Denn sie dürfen wir auf keinen Fall vergessen.
ScheinriesenVergessen dürfen wir dagegen die starken Machtbesessenen. Sie sind Scheinriesen wie der Riese Tur Tur in Michael Endes Roman.
Von weitem erscheinen sie riesig und angsteinflößend. Kommen wir ihnen näher, dann werden sie ganz klein und verlieren an Schrecken.
Schauen wir genau hin, so sehen wir bei ihrem Auftritt die Zeile eingeblendet: Auf Erden sind wir kurz grandios.
Sie bleiben Sterbliche, die sich anmaßen, unsterblich zu sein.
Wie sollten sie ein Vorbild für uns sein?
Wir wenden uns von ihnen ab und wenden uns hin zu Christus. Er tritt für uns ein: Als Hohepriester bringt er unser Verhältnis zu Gott wieder ins Lot.
Der Hohepriester ist der gute HirteWem ein Hohepriester unheimlich erscheint, der schaue genauer hin.
Und beim nächsten Blick werden wir erkennen, wer dieser wahre Hohepriester ist: Es ist Christus, der gute Hirte, der seine Schafe weidet, der die Barmherzigkeit hochhält in einer unbarmherzigen Welt. Er erhebt unser Herz. Er macht unsere Welt leichter. Begabt von seinem Geist sind wir nicht länger von Feinden umgeben, sondern von Freundinnen und Freunden. Amen.
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