Invocavit / 1. Sonntag der Passionszeit (21. Februar 2021)
Dekan Beatus Widmann, Balingen [Beatus.Widmann@elkw.de ]
Johannes 13, 21-30
IntentionZu Beginn der Passionszeit wird uns versprochen, in den Nacht-Erfahrungen unseres Lebens bewahrt zu bleiben.
13, 21 Jesus wurde erregt im Geist und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. 22 Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete. 23 Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb. 24 Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete. 25 Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist's? 26 Jesus antwortete: Der ist's, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. 27 Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn. Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust, das tue bald! 28 Niemand am Tisch aber wusste, wozu er ihm das sagte. 29 Denn einige meinten, weil Judas den Beutel hatte, spräche Jesus zu ihm: Kaufe, was wir zum Fest nötig haben!, oder dass er den Armen etwas geben sollte. 30 Als er nun den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht.
Liebe Gemeinde,
Abschiede haben es in sich. An der Haustür. Auf dem Bahnhof. Auf dem Flughafen. Harmlos sind sie nie. Oft fließen Tränen. Nicht selten lösen sie starke Gefühle aus. Jesu Abschied von seinen Jüngern beim letzten Mahl steckt voller dramatischer Spannung und voller starker emotionaler Bewegung. Wir erleben verdichtet in dieser Abschieds-Szene: Erregung, Bangigkeit, Liebe, Verrat, Fragen und Unwissen, intime Nähe, kalte Distanzierung, den wissenden Einen, die unwissenden und missverstehenden Anderen. Wir erleben das heilige Abschiedsmahl als Kennzeichnung und als Auslösung des unheiligen Verrats. Wir erleben wie bei der Feier der Gemeinschaft einer ausgeschlossen wird. Wie paradox ist das denn! Wie krass! Wie dramatisch! Und überhaupt: Was geht mich das an? Schauen wir uns dieses Abschieds-Drama und die daran Beteiligten genauer an.
JesusWenden wir uns zunächst Jesus zu. Haben Sie sich schon einmal gefragt: Wer ist Jesus für mich? Für mich ganz persönlich? Der Freund, der Bruder, der Lehrer, der Held, der Gott, der Unfassbare, der Erniedrigte, der Gekreuzigte, der Auferstandene, der Prophet, der Messias, der Geheimnisvolle, der Solidarische? Vielfältig wird uns Jesus gezeigt und vielfältig verstehen wir ihn, seine Person und seine Mission und seine Passion. Ganz in der Linie des Evangelisten Johannes und anders als vielleicht erwartet, wird uns Jesus hier nicht nur als ein passiv Erleidender geschildert. Es wird vielmehr erzählt, wie er den ermutigt, der ihn verraten wird. Er kündigt den bevorstehenden Verrat an ihm an. Wir befinden uns in der Nacht, da er verraten ward. Jesus kennzeichnet den Verräter. Ja, er löst das Geschehen aus und mahnt den Verräter sogar zur Eile. Freilich wird er noch nicht verstanden. Aber seine Verherrlichung ist jenseitig schon in Gang gesetzt. Mit den markanten Ich-bin-Worten hat er sich immer wieder vor der Welt und vor der Gemeinde offenbart: Das Brot des Lebens – bin ich. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. Das Licht der Welt – bin ich. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. Die Tür – bin ich; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden. Der gute Hirte – bin ich. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Die Auferstehung und das Leben – bin ich. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Der Evangelist Johannes zeigt uns den über die Erde schreitenden Gott, dessen letzte Worte am Kreuz sagen: Es ist vollbracht.
Die JüngerUnd genau der, der von sich sagt: „Ich bin“, der löst bei seinen Jüngern die bange Frage aus: „Wer ists?“ Bin ich
s? Die Jünger werden nicht nur in Frage gestellt, mehr noch, sie werden massiv unter Verdacht gestellt, unter Verrats-Verdacht und damit stark verunsichert: „Einer unter euch wird mich verraten.“ Dieser Satz Jesu stellt für mich den dramatischen Höhepunkt dieser Erzählung dar. Alle sind jetzt erschüttert. Sie sehen sich bange an. Der Vorwurf lastet schwer auf ihnen. Sie wollen Klarheit. Sie wollen die unerträgliche Spannung auflösen. Simon Petrus wendet sich an den Jünger mit der innigen und unmittelbaren Nähe zu Jesus, den Lieblingsjünger, der an seiner Brust lehnt. Der fragt Jesus: „Herr, wer ists?“ Wie gesagt: Größte Spannung liegt in der Luft. Und dann bezeichnet Jesus den Verräter mit einer Geste, die an unsere Abendmahlsfeiern erinnert: „Der ist
s, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot.“ Die Jünger jedoch verstehen das nicht und sie missverstehen nicht nur ein-, sondern zweimal. Sie begreifen erst später. Sie bleiben passive Zeugen dieses für sie zunächst unbegreiflichen Geschehens.
JudasUnd wie ist das mit Jesus und Judas? Was ist das für ein Verhältnis? Sie sind Schüler und Lehrer, Freunde. Leonardo Da Vinci in seinem Abendmahlsbild macht es uns zu einfach, wenn er Judas mit hinterlistigem Blick und Geldbeutel darstellt, damit wir ihn gleich erkennen. Für die Jünger am Tisch war der Verräter unsichtbar. Weil Jesus auch mit ihm sprach, mit ihm lachte, ihm die Füße wusch wie allen anderen. Er war ein Freund. Ist es das Wesen der Freundschaft und unserer Beziehungen, dass sie nie sicher sind: Vor dem Verrat, dem Verletzt-Werden, der tiefen Enttäuschung? Jesus wusste es. Er wurde verletzt, verraten, verleugnet. Aber eben auch: geliebt, begleitet, betrauert, vermisst und stürmisch begrüßt. Vielleicht gibt es das eine nicht ohne das andere. Beim Evangelisten Johannes wird Judas nicht nur der Verrat vorgeworfen. Er ist als Kassierer auch Dieb und bereichert sich angeblich. Ja, er scheint nicht Herr seiner selbst. „Der Teufel fuhr in ihn,“ heißt es.
In dieser Linie wurde später alle Sünde auf die Judas-Figur abgeladen, an der man kein gutes Haar ließ. Im frühen Christentum vor allem erscheint Judas als Inbegriff des Versagens, des Zweifelns und Verzweifelns. Dass wir auch heute mit Fingern auf einen anderen zeigen, wäre freilich allzu bequem.
IchUnd es wäre nicht wahrhaftig im Blick auf uns selbst. Denn nicht wenn wir Sündenböcke finden oder erfinden, finden wir Erlösung, sondern nur, wenn wir erkennen, dass auch wir – wie Judas und die Jünger – versuchbar und damit erlösungsbedürftig sind. Ich bin zu schwach und zu ohnmächtig, um der Macht des Bösen, den Versuchungen, den Nacht-Erfahrungen meines Lebens zu widerstehen. Genau wie Judas, in den der Teufel gefahren ist. Mit den Worten unseres Wochenliedes gesprochen: „Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren; es streit` für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren. Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott, das Feld muss er behalten“ (EG 362,2). Und auch der Wochenspruch zeigt uns die Richtung unserer Erlösung an: „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre“ (1. Johannes 3,8b). Und der Wochenpsalm legt uns das bittende Gebet ans Herz und verspricht: „Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören“ (Psalm 91,15). Und damit sind wir bei der sechsten und siebenten Vaterunser-Bitte angelangt: „Und führe uns nicht in Versuchung.“ „Sondern erlöse uns von dem Bösen.“ Nur einer – wirklich nur Einer – kann widerstehen und uns erlösen, wenn wir in die Nacht geraten sind. Nur einer kann uns zurückholen, wenn wir über unsere Kraft versucht worden sind und die Sphäre des Unheils über uns Macht gewinnen will oder schon gewonnen hat.
Wie gut, dass wir das Abendmahl nicht nur einmal feiern. Wie gut, dass wir das Abendmahl wiederholt feiern, als Sakrament der Wiederholung, als Sakrament unserer Wieder-Holung an den hellen Tisch des Herrn und in die erleuchtete Gemeinschaft seiner Jüngerinnen und Jünger. „Der Herr Jesus in der Nacht, da er verraten ward…nahm das Brot…nahm den Kelch…und sprach…für euch gegeben… für euch und für viele vergossen“. Ja, wir sind eingebunden in die Gemeinschaft des Gebets, eingeladen zum Fest des Glaubens und bewahrt auch in den Nächten unseres Lebens.
Amen.
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