Heiligabend/Christvesper (24. Dezember 2015)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Esther Kuhn-Luz, Rottweil [pfarramt-west@ev-kirche-rottweil.de]

Titus 2, 11-14

Liebe Gemeinde !
Wie kann man eigentlich in guter Weise Weihnachten feiern?
Wenn wir jetzt hier eine kleine Umfrage machen würden, kämen wohl sehr unterschiedliche Antworten zusammen. Für viele gehört das Feierliche dazu, diese vielen Symbole sind so wohltuend. Alle Jahre wieder…den Tannenbaum schmücken… Kerzen anzünden…das leckere Essen und die guten Gerüche …Lebkuchen, Rotkohl…für manche auch Ente oder Reh… Zeit zum Essen und Trinken und zum Reden. Lieder und Musik…
Bei den jährlichen Ritualen ist vieles dabei, das einem gut tut. Aber – kann man sich das noch leisten, fragen andere, dieses Wohlfühlfest? Angesichts der großen Probleme unserer Zeit – angesichts der vielen, die in diesen Tagen nicht in gemütlichen Wohnzimmern sitzen?
Gibt es so etwas wie eine Weihnachtskunst – Weihnachten so zu feiern, dass es nicht nur ein einmaliges schönes oder auch problematisches Fest ist – je nach Familienlage – jedes Jahr wieder neu, sondern dass es zu einem Fest wird, aus dem wir Kraft beziehen für unser Leben während des ganzen Jahres?

Weihnachten – ein Fest als Kraftquelle?Weihnachten – ein Fest als Kraftquelle? Auch als Orientierung für unseren Arbeits- und Lebensalltag? Wie kann das funktionieren?
Wir Menschen brauchen Nahrung, um leben zu können, auch Nahrung für unsere Seele, für unsere Hoffnung, für unseren Glauben. Dafür tut Weihnachten gut.

Wenn wir die Weihnachtsgeschichte hören, dann scheint das sehr weit weg zu sein von unserem Zeitalter. Aber – rückt diese Geschichte nicht unheimlich nah? Als wir dieses Jahr im Lukasevangelium gehört haben: „… es geschah zu der Zeit, als Quirinius Statthalter in Syrien war…“ – da haben wir doch vor unserem inneren Auge Bilder aus dem zerstörten Syrien gesehen – oder an die Menschen gedacht, die aus Syrien fliehen mussten.
Und dann diese Erzählung von einer jungen Frau, schwanger, zusammen mit ihrem Mann unterwegs – ohne geklärte Unterkunft, ohne geklärte Zukunftsaussichten, in die Mühlen der Politik geraten.
Diese Zukunftslosigkeit von Maria und Josef teilen heute viele Menschen auf der Welt – und auch bei uns in Europa und in Deutschland.
Aber wir hier sind nicht Flüchtlinge – manche sind allerdings sehr engagiert in der Unterstützung und Begleitung von Menschen, die fliehen mussten.
Wir hier heute dürfen uns freuen, dass wir eine Wohnung, ein Haus haben, dass wir nachher etwas essen können, trinken können – dass wir es uns gemütlich machen… und trotzdem feiern wir nicht nur ein gemütliches Familienfest, sondern Weihnachten. Die Menschenfreundlichkeit Gottes, die große Zuneigung Gottes zu uns, sein Wissen, dass wir Menschen durch ein Kind wieder lernen, Hoffnung zu schöpfen, Zukunft zu gestalten… Christ ist geboren… Gott selbst wird Mensch, ein Kind, damit wir uns anrühren lassen können…
Weil die Menschenfreundlichkeit Gottes uns Menschen freundlich machen kann, können Räume und Begegnungen entstehen, in denen Menschen Heilendes erfahren, (refugio), Heilsräume in einer kaputten Welt. Manchmal für einen Moment, manchmal für ein paar Wochen, manchmal in einer Begegnung, und manchmal für eine lange Zeit.
Lassen Sie uns ein wenig miteinander überlegen, wie das aussehen könnte, die
„Weihnachtskunst“ zu leben.
Wir hören dazu einige Verse aus einem Brief des Apostel Paulus, den er an seinen Mitarbeiter Titus geschrieben hat. Der war zu der Zeit auf Kreta und hat dort eine christliche Gemeinde aufgebaut – ca. 60 n. Chr. So lange treffen sich Christen und Christinnen, um miteinander auf Gottes Wort zu hören. Die Sprache des Apostel Paulus entspricht nicht unserer Alltagsprache im 21. Jahrhundert – aber das, was er sagt, ist hochaktuell. So lade ich Sie ein, beim Hören darauf zu achten, welche Worte Sie besonders anrühren.
Paulus schreibt:„ Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen und nimmt uns in Zucht/ will uns dazu erziehen, dass wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes Jesus Christus, der sich für uns selbst gegeben hat, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das eifrig wäre zu guten Werken.“

Heilsame Gnade tut gutAls ich diese zugegeben ziemlich sperrigen Verse für mich selbst gelesen habe, da sind mir einige Worte wichtig geworden – vielleicht sind sie Ihnen auch aufgefallen:
Zunächst die heilsame Gnade. Ich finde, das tut unendlich gut. Vieles in uns ist unheil, zerrissen, nagt an uns, macht uns unfrei und blockiert uns. Erfahrungen, die weh tun, nicht erwiderte Gefühle, keine Anerkennung, Sorgen um die Zukunft, einfach überlastet zu sein… Ja, da gibt es vieles in uns, das sich danach sehnt, dass mir jemand heilsam begegnet, das da in mir etwas heil werden kann…
Gnade – auch gerade kein Alltagswort, aber ein Sehnsuchtswort. Wir atmen auf, wenn jemand gnädig mit uns umgegangen ist. „Puh, der war aber freundlich, obwohl ich so viel Ärger gemacht habe!“ Wenn jemand viel freundlicher, verständnisvoller reagiert, als ich es erwarte, wenn mich jemand in meinen Bedürfnissen wahrnimmt, dann geschieht Gnade. Wenn Gnade vor Recht, vor Rechthabenwollen geschieht, dann ist das immer ein Moment, in dem wir uns als ganzer Mensch wahrgenommen fühlen – ein Moment, um aufatmen zu können.
Diese heilsame Gnade ist nun in Christus erschienen. Gottes wohlwollender Blick, der uns begleitet, der in uns immer das wahrnimmt, was in uns da ist an Menschenfreundlichkeit. Dieser unterstützende und stärkende Blick Gottes, der kann etwas in uns heil werden lassen, weil er stärker ist als unsere Anforderungen und Ansprüche an uns selbst.

Globale GnadeDiese heilsame Gnade ist nun allen Menschen erschienen. Eine globale Gnadenzusage. Ja, das können wir gut brauchen! Anstatt globaler Terror, globale Vernetzung der Ökonomie, globale Kommunikation, globale Erderwärmung.
Eine globale Gnadenzusage. An allen Orten dieser Welt, an den vielen dunklen Orten der Gewalt, der Zerstörung, der Einsamkeit, der Armut, an den vielen Orten, an denen es gnadenlos zu geht, an denen nicht die Menschlichkeit, die Menschenwürde, sondern nur der Nutzen, der Profit gesehen wird – gerade da soll es heißen: Allen Menschen ist die heilsame Gnade Gottes erschienen.
Das ist nun wirklich eine Weihnachtsbotschaft! Aber wie soll das geschehen? Sind das nicht nur warme Worte?
Ja, das meinte Paulus damals auch schon. Das kann leicht zu heißer Luft, zu folgenlosen Worten werden, wenn ihr nicht daraus, aus dieser heilsamen globalen Gnadenzusage einen bestimmten Lebensstil entwickelt.
Zum einen – so sagt er das in seiner Sprache – dem ungöttlichen Wesen absagen und den weltlichen Begierden. Da könnten wir jede Menge aufzählen, was das ungöttliche Wesen ausmacht: alles, was Gottes Schöpfung und menschliches Leben zerstört.
Und die weltlichen Begierden, die damit beschäftigt sind, immer mehr an sich zu reißen – ohne auf die Folgen zu achten, welche Ungerechtigkeiten entstehen. Hier bei uns und weltweit. Denn die Begierde, immer mehr zu bekommen, reißt riesige Löcher ins Lebensnetz von anderen.
Wie soll denn ein Leben aussehen, das aus dieser heilsamen Gnade Gottes lebt?

Besonnen, gerecht und fromm sollt ihr lebenBesonnenheit – ich glaube, das ist eine der wichtigsten Eigenschaften in unserer heutigen hochgeschwindigkeitsgeprägten Zeit.
Besonnenheit. Sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen; Zeit, zu überlegen, welche Folgen mein Handeln hat; Zeit, in mir nachzuspüren, was denn nun wirklich meine Aufgabe, meine Rolle ist; Zeit, um für mich klarer zu werden: Was sind meine Fähigkeiten, die Gott mir geschenkt hat? Wo sind meine Grenzen? Was kann und muss ich nicht tun und wo bin ich herausgefordert?
Gerecht sollen wir Christen sein, die aus Weihnachten, aus dieser heilsamen Gnade Gottes leben. Was ist mein Beitrag, um die Welt ein wenig gerechter zu machen? Wie lebe ich das in meiner Ehe, die Zeitgerechtigkeit…, in der Familie, mit meinen Arbeitskollegen und -kolleginnen, wie lebe ich das als Konsumentin – war das ein Thema bei meinen vielen Geschenken – gerechten Lohn zu zahlen… manchmal einen Blick darauf zu haben, woher die Produkte kommen und wie sie hergestellt sind?
Fromm sollen wir sein. Oje, mit der Frömmigkeit habe ich es nicht so, werden manche sagen.
Frommsein bedeutet, in Gott verwurzelt zu sein, in dieser unendlichen gnädigen Liebe Gottes, die mich stärkt und tröstet. Es ist wie ein Ruf: Ihr seid oft verwurzelt in überhöhten Ansprüchen, in alten festgefahrenen Erwartungen, in zu vielen Anforderungen – das macht unfrei. Überlegt euch, woraus ihr eure Lebenskraft beziehen wollt, was eure Wurzeln sein sollen. Seid fromm. Habt den Mut, verwurzelt im Glauben an Gott eure Freiheit zu leben.

Auf die Hoffnung wartenUnd wartet auf die selige Hoffnung.
Ja, die Hoffnung – das ist auch so ein wichtiger Begriff, der mir hängen geblieben ist.
„Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit versagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern.“
„An das Unerschienene leichter zu glauben als an das Sichtbare, dazu gehört geschulte Hoffnung, das Vertrauen auf den Tag mitten in der Nacht.“
So drückt es Ernst Bloch aus, der Philosoph, der sich mit allen Facetten der Hoffnung beschäftigt hat.(1) Ja, die Hoffnung muss immer wieder gelernt werden – und wir können uns den Luxus der Hoffnungslosigkeit nicht erlauben. Denn „ Frieden auf Erden“, wie ihn die Engel den Hirten damals und uns heute zusingen, braucht Menschen, die immer wieder bereit sind, aus dieser Hoffnungskraft zu leben. Selbst in Situationen, die Hoffnung zerstören wollen.
Die Nacht der Welt bleibt nicht dunkel, bleibt nicht voller Ängste. In diese Nacht ist Gottes Licht gekommen – Gottes Hoffnung.
Zart, klein – aber sehr lebendig. Und wir erleben in diesen Tagen, wie sich Menschen von dieser Hoffnungskraft anstecken lassen – und sich nicht einschüchtern lassen wollen.
Wie ein junger Mann, der bei den Attentaten in Paris seine junge Frau verloren hat und nun mit seinem elf Monate alten Jungen allein ist. „Meinen Hass bekommt ihr nicht!“ hat er in einem öffentlichen Brief an die Terroristen geschrieben. „Ihr werdet sehen, wie dieser kleine Junge voller Lebensfreude aufwachsen wird!“
Das ist das Wichtigste, das wir gegen die Angst und den Terror stellen können – sich die Hoffnung auf ein gelingendes Leben nicht wegnehmen zu lassen.
Vielleicht ist das die Weihnachtskunst – Weihnachten so zu feiern, dass es zu einem Fest wird, aus dem wir Kraft beziehen für unser Leben. Hoffnungskraft. Weil Gott es nicht aushält, uns nur untröstlich zu sehen.
„Der Lebensmut kommt nicht allein aus der begründeten Annahme des guten Ausgangs der Dinge. Die Hoffnung auf diesen Ausgang ist oft brüchig. Aber selbst, wenn wir innerweltlich keinerlei Lösung vermuten können, so müssen wir doch handeln, als sei das Leben möglich und als hätten wir Hoffnung. Hoffen heißt auch, sich gegen das resignierte Herz als Hoffende aufzuspielen. Es heißt also arbeiten, reden, sich engagieren, als könnte die Hoffnung gelingen. Es heißt aber auch Musik hören, gemeinsam das Essen genießen, Bücher lesen, Freundschaft und Familie genießen – und so tun, als hätte man alle Zeit der Welt.“ (2)
So kommt Gottes Menschenfreundlichkeit in unsere Welt.
Amen.

Anmerkungen: 1 z.B. Predigtmeditation im christlich jüdischen Kontext; 2 Fulbert Steffensky, Wo der Glaube wohnen kann, Radius-Verlag, Stuttgart, S. 45.

Predigt zum Herunterladen: Download starten (PDF-Format)