Exaudi (08. Mai 2016)

Autorin / Autor:
Pfarrer Gerd Ziegler, Backnang [Altenheimseelsorge.Backnang-Staigacker@elkw.de]

Epheser 3, 14-21

Liebe Gemeinde!

Der Apostel betet. Im Kerker gefangen betet er zu Gott und betet ihn an. Zugleich bittet er für die Gemeinde, die ihm gedanklich vor Augen steht. Einen melodischen Klang entfaltet sein Gebet in den Ohren derer, die es in der griechischen Originalsprache vorgelesen bekommen. Den Gemeindegliedern in Ephesus teilt der Apostel per Brief mit, wie er betet und was er betet. Worum und warum er betet, wird in der Form seiner Zeilen deutlich: Sie sind selbst Gebet.

Wie und warum betet der Apostel? „Deshalb beuge ich meine Knie“, sagt er und richtet sich darin äußerlich und innerlich aus. „Vor dem Vater“ geschieht diese ungeteilte Orientierung. Dem Beter ist bewusst, von dessen Kraft beseelt zu sein. Als Vater ist Gott der Ursprung aller himmlischen und irdischen Wesen, als Vater ist er Schöpfer aller Kreaturen. „Vor dem Vater“ weiß sich der Beter ergriffen und betet darum so, wie er betet.

Nach ihrer Vorstellung von Gott gefragt, antwortet Julie Delpy, eine bekannte Schauspielerin und Regisseurin, sie fühle nie eine Nähe Gottes. „Bin ich in der Natur, sehe ich Natur. Ich hatte sehr religiöse Großmütter, aber meine Eltern waren Hippies, so bin ich aufgewachsen. Meine Vorstellung von Gott ist unabhängig von allen Religionen, sie ist vager als die Idee eines Mannes mit einem langen Bart. Wenn es einen Gott gibt, dann ist er überall und in allem, und er ist jenseits dessen, was wir verstehen könnten.“

Beten überwindet DistanzMit ihrer Auffassung ist die französische Filmemacherin nicht allein. Viele Zeitgenossen – gerade auch der jüngeren Generation – haben Schwierigkeiten, sich Gott vorzustellen. Nicht wenige sprechen das offen aus und halten sich in religiösen Angelegenheiten auf Distanz. Das Gegenteil von Distanz leuchtet in der Haltung des betenden Apostels auf. Indem er betet, entsteht Nähe. Was betet er? Worum bittet er?

Für die Gemeinde, für alle, die zu ihr gehören, bittet er um Kraft, die stark macht. Er bittet darum, dass Christus in ihren Herzen wohne und sie in der Liebe eingewurzelt seien. Schließlich bittet er um ihre Erfüllung mit der ganzen Fülle Gottes. Durch sein Beten entsteht Nähe zu all denen, die er anspricht und für die er bittet. Zugleich erfährt er darin die Kraft, die schon in uns wirkt, die Nähe Gottes. Wie beiläufig beschreibt der Apostel als Früchte seiner Bitten ein umfassendes Begreifen und ein vollkommenes Erkennen: „So könnt ihr mit allen Heiligen begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist, auch die Liebe Christi erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft.“

Die Realität sieht anders aus, wenden religiös Distanzierte ein – und nicht nur sie. Die Welt funktioniert nach den ihr eigenen Maßstäben und Gesetzen. Ihnen sind wir unterworfen und richten unser Handeln danach aus. Verhalten wir uns im täglichen Leben nicht häufig so, als gäbe es Gott gar nicht? Gleicht unser Tun und Lassen im Alltag nicht weitgehend einer gott-losen Praxis? Ich meine, solche Einwände sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Umso bedeutender scheint mir die Frage zu sein, woran wir uns orientieren.

Erkennen – eine zwiespältige FähigkeitDie Fähigkeit, etwas zu erkennen, zeichnet uns Menschen aus. Wir haben Maßstäbe, um Räume zu messen und Uhren, um Zeiten zu erfassen. Das Vermögen, logisch zu denken, lässt uns das Geschehen in der Welt beschreiben. Erkenntnis bildet die Grundlage, selbst etwas zu gestalten und zu tun oder zu lassen, was nötig ist. Doch bestimmt die Erkenntnis nicht, wovon wir im Inneren erfüllt sind und woran wir unser Herz hängen. Erkennen kann uns zu Gutem wie zu Bösem führen. Das menschliche Erkennen bleibt zwiespältig. Die Erzählung vom Paradies hat das vorwegnehmend ausgedrückt. Adam und Eva essen die Frucht des Baumes, von dem zu essen ihnen untersagt war. Es ist der Baum der Erkenntnis, der Erkenntnis von Gut und Böse. Verführerisch hatte die Schlange gelockt: „Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß, an dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott, und wissen was gut und böse ist.“

Mit Adam und Eva haben wir Menschen – homo sapiens – die Frucht vom Baum der Erkenntnis gegessen. Wir existieren in der Realität und erkennen den Bruch in unserem Leben. Aus dem Paradies vertrieben sehnen wir uns nach vollkommener Erkenntnis und erhoffen Wohlergehen und Heil-Sein. Dabei hasten wir unruhigen Herzens durch unser befristetes Dasein – wie auf rastloser Suche nach einem neuen Paradies in der Zukunft. Das Teuflische beim Versprechen der Schlange liegt in der halben Wahrheit, genauer in der Vermischung von Wahrheit und Lüge.

Wahr ist, dass Adam und Eva die Augen geöffnet werden. Menschen sind fähig zur Erkenntnis. Wir sind Augenwesen, bestätigt die Neurowissenschaft, Augenwesen, die durch mentale Leistung ermessen können, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe unseres Lebensraums ausmacht – und das bis in das weite All der Sterne hinein oder bis zu den winzigen Bausteinen der Atome hindurch. Die halbe Wahrheit der Schlange besteht darin, dass Adam und Eva nur in diesem einen Punkt Gott gleich geworden sind: in der Erkenntnis von Gut und Böse. Ihre glatte Lüge aber besteht in der Behauptung, die beiden müssten keineswegs des Todes sterben. Gleich ihnen werden wir sterben. Der Griff zu den Früchten des Lebensbaums, der neben dem Baum der Erkenntnis wuchs, ist uns verwehrt. Das alte Paradies ist verloren. Mit all unserer Fähigkeit zur Erkenntnis und unserem mentalen Leistungsvermögen bewerkstelligen wir kein neues Paradies auf Erden.

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Der Beter des 90. Psalms legt den Bruch in der Existenz offen: die Begrenzung unseres Lebens. Er weiß zudem um die Chance, die entsteht, wenn wir die Begrenztheit unseres Lebens sehen und annehmen. Es ist die Chance, „klug“ zu werden, ein weises Herz zu gewinnen, und damit fähig zu sein, Wichtiges im Leben von Unwichtigem zu unterscheiden, Gut und Böse in neuer Weise zu erkennen.

Die wirkende Kraft erfahrenGlücklich macht es die Filmemacherin Julie Delpy, ihren siebenjährigen Sohn zu lieben und von ihm geliebt zu werden. Schmunzelnd erzählt sie, wie bereits kleine Kinder „genau wissen, wie sie dich zum Schmelzen bringen – mein Sohn setzt dann sein niedlichstes Gesicht auf. Und ich? Ich sage ihm: ´Du kannst alles haben, was du willst.` Die Liebe zwischen Eltern und Kind ist wunderschön, sie ist nicht immer rein, aber sie ist sehr stark.“

Leuchtet in diesen Erfahrungen nicht die Kraft auf, die in unserem Leben wirkt? Der Apostel bittet um die Kraft, deren Ursprung er Vater nennt, so wie es auch Jesus ganz selbstverständlich tat. Gott geht über das hinaus, was wir überhaupt erbitten und was wir gar verstehen können. Durch ihre paradox erscheinende Unterstellung kommt Madame Delpy dem Apostel recht nahe: Gott ist „überall und in allem, und er ist jenseits dessen, was wir verstehen könnten“. Gottes Existenz steht ihr freilich unter Vorbehalt.

Während die Welt sich dreht und funktioniert, als gäbe es Gott nicht, betet der Apostel und bittet für die Gemeinde. Der Betende hält sich an Gott. Wer betet, entzieht sich der Welt und beugt sich zu Gott. Sich so der Welt zu entziehen, bewirkt, sie in neuem Licht zu sehen, im Licht Gottes. Durch seine Haltung des Betens findet der Apostel die Kraft zur Fürbitte. Er findet sie in der Kraft – Dynamis –, „die in uns wirkt“. Er bittet um diese Kraft, die zur Erkenntnis der Liebe Christi führt. Sie übertrifft alle Erkenntnis, weil sie teilhaben lässt. Im alten Paradies führt die Erkenntnis zur Trennung von Gut und Böse und zur Begrenzung des Lebens. Das Erkennen der Liebe Christi bringt alle Heiligen im Begreifen der Welt zusammen. Es erwartet für alle, die der Gemeinde angehören, die ganze Gottesfülle.

Teilhaben und erfüllt werden, das können wir im Beten und Bitten erfahren. Es ist nicht zu verwechseln mit dem Wunsch nach Kompensation bestimmter Mängel im Leben durch ein paar Worte. Vielmehr eröffnet unser Beten einen weiten Raum, in dem uns Gott begegnen will. Gerhard Tersteegen beschreibt diesen Raum bildhaft (EG 165): „Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben, aller Dinge Grund und Leben, Meer ohn Grund und Ende, Wunder aller Wunder.“ Die Kraft, die in uns wirkt, kommt von Gott. Ihm spricht der Liedermacher zu: „Du durchdringest alles; lass dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte.“ Gott ist gegenwärtig. Ihm sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus! Amen.

Literaturhinweis:
Fragen an das Leben. Die Schauspielerin und Regisseurin Julie Delpy. In: chrismon 4/2016, S.32.

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