Ewigkeitssonntag / Totensonntag (20. November 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrerin i.R. Monika Schnaitmann, Tübingen [G.Schnaitmann@gmail.com ]

Markus 13,28–37

Intention„Mit dem Tod der andern muss man leben“ (Mascha Kaléko). Das Herz fühlt sich leer an, das Haus ebenso. Angesichts und trotz Vergänglichkeit mahnt Jesus: Wachet! Nicht einschlafen, sondern denen Hilfe, Gemeinschaft und Trost geben, die es heute brauchen. Gott selbst wird „alle Tränen abwischen von unseren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein“, so der Seher Johannes in seiner Offenbarung 21,4.


Mit dem Tod der andern muss man lebenVor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
Und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muss man leben. (1)

So hat die Schriftstellerin Mascha Kaléko ihre Gefühle gegenüber dem Tod im Gedicht „Memento“ beschrieben.
Der Monat November bringt mit sich immer kürzer werdende Tage, Volkstrauertag, Buß-und Bettag, Ewigkeitssonntag, eine schwermütige Grundstimmung. Die Natur stirbt sichtbar ab – die wärmende Vorweihnachtszeit ist noch nicht da.
Heute ist Ewigkeitssonntag. Menschen, deren Herz und Seele wund ist, besuchen die Gottesdienste. Vielerorts werden die Namen derer verlesen, die im zu Ende gehenden Kirchenjahr gestorben sind: Mann oder Frau, Opa oder Oma, Sohn oder Tochter, Onkel oder Tante, Bruder oder Schwester, Freundin oder Freund, Kollegin oder Kollege, Nachbarin oder Nachbar. Die Vergänglichkeit des Lebens wird nirgends dichter und schmerzlicher erfahrbar als an diesem Sonntag im November. „Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur. Doch mit dem Tod der andern muss man leben.“ Wer wüsste das nicht!
Biblische Texte, Gebete und Musik in unseren Gottesdiensten holen uns ab, wo wir gerade sind. Sie helfen, unsere Einsamkeit, unsere Unruhe, unsere Trauer, unsere Tränen zuzulassen und auszuhalten. Biblische Texte, Gebete und Musik bieten Trost und Kraft, wenn man mit dem Tod des Andern leben muss: in einem leeren Zimmer, einem leeren Haus, einer inneren Leere, einem leeren Herzen.
„Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang, nur vor dem Tode derer, die mir nah sind. Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?“

Leere Häuser – leere HerzenDer Predigttext spricht von einem leeren Haus, von einem Hausherrn, der eine längere Reise antritt und den Hausbewohnern Arbeiten zuweist. Sie wissen nicht, wann er wiederkommt und zu welcher Tageszeit. Im Markusevangelium Kapitel 13 lesen wir in den Versen 28 bis 37:

„An dem Feigenbaum aber lernt ein Gleichnis: Wenn seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, so wisst ihr, dass der Sommer nahe ist. Ebenso auch, wenn ihr seht, dass dies geschieht, so wisst, dass er nahe vor der Tür ist. Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht. Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen. Von jenem Tage aber oder der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater. Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. Es ist wie bei einem Menschen, der über Land zog und verließ sein Haus und gab seinen Knechten Vollmacht, einem jeden seine Arbeit, und gebot dem Türhüter, er sollte wachen: So wacht nun; denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder am Morgen, damit er euch nicht schlafend finde, wenn er plötzlich kommt. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!“

Mit diesem Bild wird Menschen in der Zeit des Neuen Testaments ihre Situation beschrieben. Seit Jesus nicht mehr bei ihnen ist, kommen sie sich vor wie in einem leeren Haus. Äußerlich mag alles funktionieren. Jeder erledigt das, was er zu tun hat. Aber dennoch ist alles anders. Seine spürbare Nähe fehlt ihnen. Sie trauern. Wie sollen sie nun leben ohne ihn? Mit ihrer Trauer verbinden sie sich, wir uns, über zwei Jahrtausende hinweg. Was uns von ihnen trennt, ist deren feste Erwartung, dass der von ihnen Vermisste wiederkommen wird.

Himmel und Erde werden vergehen. Wachet!Uns geht es ähnlich wie den Jüngern Jesu damals. Der Tod eines geliebten Menschen verändert das Leben. Durch den Tod eines Angehörigen, eines geliebten Menschen, ist der Himmel des Lebens vergangen, die Erde unter den Füßen entzogen. Durch den Tod eines geliebten Menschen ist das Herz leer, die Seele wund. Die Wohnung, das Haus scheinen die Verstorbene oder den Verstorbenen noch auszustrahlen, so wie eine Steinwand die Wärme hält, auch wenn die Sonne schon untergegangen ist. Doch wenn der Tod ins Haus kommt, verändert es sein Gesicht. Häuser verändern sich, wenn die Menschen gehen, die es gestaltet haben. Dann wird uns schmerzhaft bewusst: nie wieder! Nie wieder seine/ihre Stimme, sein/ihr Lachen hören, nie wieder seine/ihre Wärme spüren, nie wieder!
Doch dann höre ich im Markusevangelium die Stimme Jesu: „Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. (…) So wacht nun; denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder am Morgen, damit er euch nicht schlafend finde, wenn er plötzlich kommt. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!“
Es gibt Zeiten, in denen Schlafen Verrat ist. Ich denke an Jesu letzte Stunden. Selten ist mir Jesus so menschlich, so nahe, wie im Garten Gethsemane – der betende Jesus, der seinen Tod kommen sieht. Man spürt buchstäblich seine Angst, die Panik vor dem, was da an Furchtbarem auf ihn zukommt. Da ist der Sohn Gottes wahrer Mensch, da wird ganz deutlich, was es heißt: Gott wird Mensch – eben auch mit unseren menschlichen Ängsten und Sorgen. Er sucht einen Ort, an dem er mit seiner Angst ringen kann. Er sucht Hilfe und Gemeinschaft bei seinen Jüngern Petrus, Jakobus und Johannes. Doch die Jünger schlafen ein. Jesus bleibt allein mit seiner Angst. Es gibt Zeiten, in denen Schlafen Verrat ist.
Jesus ermahnt: „Seht euch vor. Wachet!“ Diese Aufforderung geht an uns. Wir geben denen Hilfe und Gemeinschaft, die Trost und Gemeinschaft brauchen. Eben nicht einschlafen, sondern im irdischen Haus die Aufgabe erfüllen. Christoph Blumhardt (1842–1919) unterstreicht dies mit drastischen Worten und schreibt: „Wo wird Gott geoffenbart werden? Auf Erden! Nicht im Himmel, da braucht er dich nicht, da sind Engel genug.“

Menschliches Leben ist begrenztes LebenMenschliches Leben ist begrenztes Leben. Das ist schmerzlich. Aber das macht ein Leben auch kostbar. Gott umsorgt uns, wenn es zu Ende geht. Wie gut ist es, einen Sterbebegleiter zu haben. In Gott. Aber auch in Menschen. Jesus lädt mich ein, den Blick zu heben, um zu sehen, woher mir Hilfe kommt. Jesus sagt: Öffne deine Augen, öffne deine Ohren, lausch auf die Botschaft deines Herzens. Rechne jede Stunde mit der Ewigkeit. Wenn Gott der Hausherr ist, dann ist er unter uns. Das heißt, er kann jedes Haus zu einem Hospiz, einem Ort der Liebe und Fürsorge machen für Kranke und Sterbende, für Arme und Reiche. Mit Jesus wird die Kirche zu einem Haus, in dem die Hoffnung lebt. Solange Himmel und Erde Bestand haben, kommt es darauf an, beherzt die Chancen zu ergreifen und wachsam die Aufgaben wahrzunehmen, die uns in unserem irdischen Leben gegeben werden. Darin erfährt unser irdisches Leben seinen Wert und seine Würde.

Was kommt nach dem Tode – Versuch einer AntwortMein inneres Haus verändert sich angesichts von Tod und Ewigkeit. Mir wird klar: Alles, was lebt, hat ein Ende. So entdecke ich plötzlich Trost in dem Satz: Himmel und Erde werden vergehen. So wie die Welt und mein Leben einen Anfang haben, haben sie auch ein Ende. Auch Trauer hat ein Ende.
Der Evangelist weist in unserem Predigttext darauf hin, dass der Hausherr einmal wiederkommen wird. Der Seher Johannes nimmt das Bild auf und spricht am Ende seiner Offenbarung von einem neuen Himmel und einer neuen Erde. Dann wird Gott „alle Tränen abwischen von unseren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein“. Es wird Häuser voller Leben geben. Und ihre Türen sind weit geöffnet, weil alle Menschen wie Schwestern und Brüder zusammenleben.

Ein Liederdichter spricht (1983)Der Liedermacher Reinhard Mey hat versucht, die Frage „Was kommt nach dem Tod?“ so zu beantworten:

„Ich stelle mir das Sterben vor
so wie ein großes, helles Tor,
durch das wir einmal gehen werden.
Dahinter liegt der Quell des Lichts,
oder das Meer, vielleicht auch nichts,
vielleicht ein Park mit grünen Bänken.
Doch eh nicht jemand wiederkehrt
Und mich eines Bessren belehrt,
möcht’ ich mir dort den Himmel denken.
Jenseits der Grenzen unsrer Zeit,
ein Raum der Schwerelosigkeit,
ein guter Platz, um dort zu bleiben.
Fernab von Zwietracht, Angst und Leid,
in Frieden und Gelassenheit,
weil wir nichts brauchen, nichts vermissen.
Und es ist tröstlich, wie ich find,
die uns vorangegangen sind,
und die wir lieben, dort zu wissen.
Und der Gedanke, irgendwann
auch durch dies Tor zu gehn, hat dann
nichts Drohendes, er mahnt uns eben,
jede Minute bis dahin,
wie ein Geschenk, mit wachem Sinn,
in tiefen Zügen zu erleben.“ (2)

Lichter der Erinnerung und Lichter der Hoffnung: Unser Gott kommtHeute zünden wir die Lichter der Erinnerung an unsere Verstorbenen an. Viele Gedanken und Blicke gehen zurück. Und am kommenden Sonntag werden auf dem Adventskranz andere neue Lichter entzündet: Lichter der Hoffnung. Lichter, die uns daran erinnern, dass auch wenn wir eines Tages gehen werden, unser Gott kommt. In einer Woche heißt es dann: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit.“ Am Ewigkeitssonntag sehnen wir uns bereits danach. Amen.

Anmerkungen:
1 Aus: Mascha Kaléko, Verse für Zeitgenossen, Hamburg 1980, S.9.
2 © 1983, edition reinhard mey GmbH, Berlin

Predigt zum Herunterladen: Download starten (PDF-Format)