Ewigkeitssonntag / Totensonntag (21. November 2021)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Georg List, Leonberg [Georg.List1@gmx.de]

Jesaja 65, 17-25

IntentionDie Predigt setzt voraus, dass im Gottesdienst der Verstorbenen des Kirchenjahres namentlich gedacht wird (Ewigkeitssonntag als Totensonntag). Die Erinnerungen der Angehörigen sollen entgegen dem Wortlaut des Textes Raum bekommen, aber im Sinne des Textes in einen größeren Horizont gestellt werden, der neben den individuellen Hoffnungen auch eine universale Perspektive eröffnet. Dabei versuche ich, weitgehend im Rahmen des Prophetentextes zu bleiben. Auf die Fortführung im NT (Offb 21, 1ff – Schriftlesung?) wird nur kurz angespielt.

Liebe Gemeinde,
mit den Namen, die wir gehört haben, sind Erinnerungen wach geworden. Erinnerungen an Menschen, mit denen wir verbunden gewesen sind: als Angehörige, als Freunde, als Nachbarn, als Glieder unserer Gemeinde.
Sie sind uns – und sie sind Gott in Erinnerung gerufen worden. Auf seinen Namen sind sie getauft, sie gehören zu seinem Volk, sind seine Auserwählten.
Wir vertrauen darauf, dass diese Verbundenheit stärker ist als die Trennung durch den Tod.

Seine Auserwählten: Dieser Ausdruck steht im heutigen Predigttext aus dem 65. Kapitel des Jesajabuchs. Gemeint ist hier das Volk Israel, sind die Juden, die aus dem Exil nach Jerusalem zurückgekehrt sind. Zu ihnen spricht Gott durch seinen Propheten (Jesaja 65, 17-25):

„Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe.
Denn siehe, ich will Jerusalem zur Wonne machen und sein Volk zur Freude, und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk.
Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens.
Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt, und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht.
Sie werden Häuser bauen und bewohnen, sie werden Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen. Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne, und nicht pflanzen, was ein anderer esse. Denn die Tage meines Volks werden sein wie die Tage eines Baumes, und ihrer Hände Werk werden meine Auserwählten genießen.
Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen; denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des HERRN, und ihre Nachkommen sind bei ihnen.
Und es soll geschehen: Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören.
Wolf und Schaf sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muss Erde fressen. Sie werden weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.“

Gott will etwas anfangen mit euch!Die ins Exil Verschleppten sind heimgekehrt. Aber was sie sehen, ist trostlos. Felder und Weinberge sind verwüstet. Die Stadt Jerusalem und der Tempel: nichts als ein Trümmerfeld.
Und wie die Häuser und das Heiligtum zerbrochen sind, so fühlen sich die Menschen.
Nur wenige sind es. Das Volk und die Familien sind auseinandergebrochen.
In Trümmern liegt auch die Verbindung des Volkes zu seinem Gott.
Der Mut, Neues anzufangen, ist gebrochen. Die Erinnerung an die Vergangenheit und die Last der Gegenwart wiegen zu schwer.

Gott aber will etwas anfangen mit euch! Mit Jerusalem und mit der ganzen Welt, in der so viel in Trümmern liegt und immer neu zu Trümmern geschlagen wird. Das hören sie jetzt.
Was Gott tut, wird so überwältigend sein, dass alles verblassen wird, was euch jetzt beschwert auf dieser Erde und unter diesem Himmel: eure Not, eure Schuld, alle Trauer, die euch zu Herzen geht. „Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.“
Hören wir, nehmen wir zu Herzen, in welchen Worten, Bildern und Visionen der Prophet dieses Versprechen Gottes ausmalt, um seinem Volk und uns Mut zu machen, über die Trümmerlandschaften unseres Lebens hinauszusehen! Uns zu freuen! Uns nicht mehr an das Alte zu erinnern, es nicht mehr zu Herzen zu nehmen!
Weckt aber, was wir da vor Augen gemalt bekommen, nicht gerade Erinnerungen, die unser Herz schwer machen? Ich weiß nicht, an welchen Einzelheiten Sie hängen geblieben sind. Ein paar möchte ich antippen.

Erinnerungen IIWonne und Freude: Wir erleben sie, können sie aber nicht festhalten. Sie sind bei uns nur flüchtige Gäste. Das Weinen und Klagen ist oft lauter.

Bei den Namen der Verstorbenen reichte die Spanne von zwei Tagen bis fast an die hundert Jahre. Freilich: Die Kindersterblichkeit ist bei uns, Gott sei Dank, sehr gering. Gerade deswegen aber ist es besonders hart, wenn ein Kind nur wenige Tage oder Jahre leben darf, wenn es Opfer einer Krankheit, eines Unfalls, gar eines Verbrechens wird.
Und denken wir an die vielen Kinder, die vor Hunger oder im Krieg umkommen. Die Bilder aus Afghanistan oder dem Jemen können einem das Herz zerreißen.

Und auf der anderen Seite des Lebens? Menschen, die in Frieden alt werden und dabei genießen können, was sie sich erarbeitet haben: Siehe! Für viele Ältere ist das heute der Fall. Hundert Jahre sind gar nicht mehr so selten.
Aber das bedeutet nicht nur reine Freude. Manche Begleitumstände des Alterns und des Sterbens machen Angst. Die Corona-Zeit hat vielleicht verhindert, dass wir den Menschen, der uns so nahe stand, in seiner Krankheit und seinem Sterben begleiten und danach so von ihm Abschied nehmen konnten, wie wir uns das gewünscht hätten.
Und oft höre ich: „Es war trotzdem immer noch zu früh!“

Erfülltes Leben?Außerdem geht´s ja nicht nur darum, möglichst lange zu leben, sondern unser Leben soll erfüllt sein und sich lohnen. Alles geschieht auf Hoffnung, auf Zukunft hin:
Ein Haus baut man auf längere Sicht.
Es braucht seine Zeit, bis Kinder groß werden.
Ein Weinberg wird nicht nur für ein Jahr angelegt. Es dauert, bis er Frucht bringt. Dazu ist es nötig, dass Eltern, Kinder und Kindeskinder miteinander in Frieden leben, gleichzeitig und nacheinander ein Haus bewohnen, einen Weinberg gemeinsam bearbeiten und ihn von einer Generation an die nächste weitergeben.

Wenn ich vor einer Trauerfeier mit den Angehörigen spreche, scheint oft der Stolz und der Dank durch. Es ist gelungen, einiges aufzubauen, und auf den Zusammenhalt der Familie konnte man sich verlassen.

Manchmal aber überwiegt die Trauer, dass es anders gelaufen ist, als man sich das vorgestellt hat.
Beziehungen sind zerbrochen.
Es kommt der Krieg zur Sprache, der äußerlich und innerlich so viel zerstört hat; die Meisten von denen, deren Namen wir vorhin gehört haben, mussten ihn durchmachen. Und manche in dieser Generation werden von den schrecklichen Erinnerungen noch heute bis in ihre Träume hinein verfolgt.
Der Verlust der Heimat.
Wenn ich mit Vertriebenen und Flüchtlingen von damals und von heute rede, ähneln sich manche Fragen:
Wer bewohnt jetzt unser Haus?
Wer bearbeitet die Felder und Weinberge? Werden sie überhaupt noch bearbeitet, oder ist alles kaputt?
Haben wir hier eine neue Heimat gefunden, und zwar nicht nur äußerlich?
Heimatlosigkeit ist ein Menschheitsschicksal. Und sie ist ein Kennzeichen unserer Zeit – auch in dem Sinn, dass viele fragen: Wo gehöre ich eigentlich hin? Wo bin ich zu Hause? Lohnt es sich, in die Zukunft zu investieren?

Erfülltes Leben! Heile Welt!Gott verspricht Zukunft und Frieden. Das hebräische Wort „Schalom“ steht zwar nicht in diesem Text, aber genau das ist gemeint.
Die Bilder am Schluss steigern die Vision ins Unvorstellbare:
Wolf und Schaf, die Erzfeinde, sollen beieinander weiden, der Löwe Stroh fressen wie das Rind. Natürlich wäre der Löwe dann kein Löwe mehr, aber, als Bild genommen, wäre das Schalom, der Schalom der ganzen Schöpfung.

Der entscheidende Punkt dabei ist die Frage, ob das größte Raubtier – der Mensch! – einmal zum Frieden finden kann;
ob die Zeit einmal zu Ende gehen wird, in der „der Mensch dem Menschen ein Wolf“ ist;
ob er weiterhin als Zerstörer der Natur lebt oder von diesem Weg umkehren kann.
Im Rückblick auf die Menschheitsgeschichte und im Blick auf die heutige Zeit sehen wir leider zerbrochene Friedenshoffnungen und viele Trümmerlandschaften.

Das gilt auch für unser Verhältnis zu Gott.
Auf viele unserer Fragen finden wir keine Antwort. Das „Warum?“ bleibt oft so stehen, die Hilferufe scheinen ins Leere zu gehen.
Wir durchleben Zeiten, in denen wir nichts von Gottes Nähe spüren; oder ich selbst bin gleichgültig, vergesse ihn und will nichts von ihm wissen.
Liegt hier nicht der tiefste Grund für alles, was in der Welt und in unserem Leben zerbricht? Das Verhältnis zum Schöpfer allen Lebens ist zerbrochen!

Wenn der nun verspricht: Ich will Neues schaffen, neues Leben, einen neuen Himmel und eine neue Erde, heißt das im Kern: Ich will eben diesen Bruch heilen, denn ihr selbst könnt es nicht. „Und es soll geschehen: Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören.“
Gott, der Ursprung und das Ziel – ganz nahe bei uns! „Ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk.“ Und wo Gott sich über uns freut, haben wir allen Grund, fröhlich zu sein. „Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein“ (Offb 21, 3f).
Dem Seher Johannes ist Jesus erschienen, der als der Gekreuzigte den Tod überwunden hat. Darum hat Johannes die Vision des Jesaja in einem noch größeren Horizont weiter ausgemalt. Und darum können Juden und die Menschen anderer Nationen als seine Völker diese Botschaft an Jerusalem auch auf sich beziehen und aus ihr Hoffnung und Kraft schöpfen für ihre Situation.
Das geht weiter – bis die große Verwandlung geschieht, von der wir nicht wissen, wie und wann; die Verwandlung, die wir uns noch nicht vorstellen können. Aus all den Trümmern und Bruchstücken soll etwas Ganzes werden, eine „heile Welt“.

Wenn wir in dieser Perspektive leben, wenn diese Hoffnung in uns lebt, werden wir bei manchen unserer Bruchstücke schon sehen können, wie sie ins Ganze hineingehören, uns darüber freuen und dankbar sein.
Dankbar auch für das Leben eines Menschen, von dem wir Abschied nehmen mussten. Es ist uns vielleicht zu kurz erschienen. Wir wissen auch um die Brüche in diesem Leben. Über sein Ende sind wir traurig und dürfen es sein. Tränen gehören dazu. Auch sie zeigen: Dieses Leben hat seinen einzigartigen Wert gehabt für uns – und hat es in den Augen Gottes für immer. Amen.


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