Ewigkeitssonntag / Totensonntag (22. November 2020)
Pfarrerin Miriam Hechler, Stuttgart [Miriam.Hechler@elkw.de]
Offenbarung 21, 1-7
IntentionWer in diesem Jahr einen geliebten Menschen verloren hat, soll sich in seiner Trauer von Gott gesehen fühlen. Dass das Leid zum Leben gehört, soll entlasten von der Erwartung, dass es einem schnell besser gehen muss. Die Hoffnung auf den neuen Himmel und die neue Erde taucht das Jetzt in ein neues Licht.
Liebe Gemeinde!
Unscharf und undeutlich ist ein Bild, wenn es verpixelt ist. Man erkennt Umrisse, erahnt Farben und Formen, aber so ganz genau kann man es nicht sehen. So sind die Worte der Bibel über die Ewigkeit: Hinweise, Atmosphären, erste Umrisse, so dass ich vermuten kann, was kommen wird. Die Bibel malt Bilder in den Farben Rot und Gold und Blau. Besonders im Buch der Offenbarung. Man erkennt Umrisse eines Himmels, einer Erde und einer Stadt, und die Bewegung einer Quelle. Dazwischen kann man eine tröstliche, zärtliche Atmosphäre erahnen, einen Ort, der Geborgenheit und Frieden ausstrahlt.
Der Seher Johannes zeichnet ein solches Bild aus verschiedenen Elementen der Tradition – im Buch der Offenbarung schreibt er über seine Vision:
„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. 2 Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. 3 Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; 4 und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. 5 Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss! 6 Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. 7 Wer überwindet, der wird dies ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein.“
Gesehene TränenWie viele Tränen sind ungesehen geweint worden in den letzten Monaten. Tränen der Menschen, die alleine waren. Tränen derer, die sie nicht erreichen konnten. Wer zu Corona-Hoch-Zeiten einen lieben Menschen verabschieden musste, hat die Trauer nur mit wenigen anderen teilen können. Mir steht vor Augen, wie wir mit fünf, zehn Menschen am Grab standen, wo sonst vielmehr gekommen wären. Wie reduziert die Trauerfeier sein musste, wie erschwert die Vorbereitungen, Gespräche nur am Telefon, immer wieder die Frage, welche Auflagen zu erfüllen seien. Ein Beieinanderstehen mit Abstand, Trostworte aus der Ferne, in Gedanken oder auf Video diejenigen, die nicht da sein können. Wie viele Tränen wurden geweint, weil die Trauer eingeschränkt war, ein Treffen nicht möglich. Manche hätten sich gerne abgelenkt, indem man mal ins Kino geht oder in ein Restaurant. Oder weil man einfach niemand hatte, mit dem man hätte gemeinsam trauern können.
Mich tröstet der Gedanke, dass bei Gott keine Tränen ungesehen sind, dass er sehr genau wahrnimmt, wie es mir geht. Dass er die vielen Nächte und Tage gesehen hat, in denen einer wach liegt und sich herumwälzt und nicht weiß, wohin mit seiner Trauer, mit seiner Angst oder mit seiner Wut. Bei Gott sind diese Tränen gesehen, sie gehören ja zum Leben dazu. Auf der neuen Erde, im neuen Himmel, die einmal kommen werden, da wird es anders sein, aber noch nicht jetzt, jetzt gehören die Tränen dazu. Es ist normal, dass es schlechte Zeiten im Leben gibt. Zeiten, in denen die Traurigkeit größer ist als jeder Sonnentag, in denen man nicht einfach sich schnell wieder fröhlich ins Leben stürzen kann und will.
Weil der Verlust so etwas Großes ist. Weil jemand gegangen ist, der lange zu meinem Leben gehört, der es mitbestimmt und geprägt und mit mir geteilt hat. Das ist nicht schnell wieder gut. Das braucht Zeit, und es braucht Raum, um all das zu betrauern, was verloren gegangen ist. Auch die Menschen in der Bibel haben erfahren, dass Tränen, Trauer, Leid zum Leben dazu gehören.
Johannes spricht aber davon, dass eine andere, eine neue Zeit kommen wird. So behutsam wie eine Mutter, wie ein Vater bei einem Kind streicht Gott die Tränen von den Wangen. Er wird die Menschen trösten, nimmt mich bei sich auf und Sie auch, in eine tiefe Geborgenheit hinein, in ein Leben ohne Leid, ohne Schreien, ohne Schmerzen. Die können am Lebensende manchmal so allgegenwärtig sein, dass es fast eine Erleichterung ist, wenn es endlich vorbei ist.
Das ist aber nicht alles. Johannes sieht noch etwas anderes.
Neu gemachtDie neue Erde – der neue Himmel. Ein Sehnsuchtsort, Sehnsucht aus dem heraus, wie es jetzt ist. Ich stelle es mir vor wie ein großes Fest, ohne Abstandsregeln und Mund-Nasen-Schutz, aber auch ohne die kalten Distanzen, die Verletzungen und den herunter geschluckten Ärger, der manche meiner Beziehungen zeitlebens begleitet hat. Beides braucht es: die Versöhnung, aber auch die Anerkennung dessen, was im Leben gewesen ist. Die Tränen, die ich geweint habe, werden abgewischt, aber auch die Tränen, die ich verursacht habe. Was krumm und schmerzhaft war zwischen Menschen, wird gerade gemacht und geheilt. Ich stelle mir vor, dass ich erst dann wirklich so sein werde, wie Gott mich gedacht hat. In Gottes neuer Welt erstrahlt jeder in der Schönheit, innen und außen, die ihm und ihr entspricht. Dann erkenne ich die Liebe, die im Leben vielleicht verschüttet war, die jemand nicht gezeigt oder gelebt hat.
Neu sind der Himmel und die Erde, erneuert sind die Menschen in der Stadt der Zukunft. Mitten in der Stadt steht eine unscheinbare Hütte. Das ist der Wohnort Gottes – er begibt sich mitten unter seine Menschen. Er wohnt bei ihnen. Es ist ein naher und nahbarer Gott. Einer, der einen Blick hat für den Einzelnen, der die Lebensgeschichten genau kennt, auch die verborgenen Wünsche, all das, was geworden ist und das, was offen geblieben ist. Die kleinen Macken und Ticks. Ich stelle mir vor, wie er in der Stadt umhergeht, die Gedanken und Gefühle teilt, lacht und redet und Trost und Nähe gibt. Wie er das gesamte Wesen und die Art eines Menschen liebevoll betrachtet. Und manches, was im Leben keine Kontur bekommen hat, wird nun herausgearbeitet. Was verschüttet war und nicht zum Zuge kam von dem, wie der Mensch hätte sein können, was für positive Seiten er noch hätte entwickeln können. Das wird jetzt sichtbar, tritt klar heraus, und die Menschen staunen übereinander. Siehe, ich mache alles neu. Das sagt der, der auf dem Thron sitzt. Der Gott, der mächtig ist, mächtiger als Gewohnheiten und Dinge, die ich nicht mehr ändern kann. Das lebendige Wasser, das von ihm kommt, wäscht den Dreck aus den Ritzen und belebt und erneuert. Was er mit mir angefangen hat, das wird er auch vollenden.
In ein neues Licht getauchtMir kommt es manchmal so vor, als ob diese Perspektive auf die Ewigkeit auch meine Zeit jetzt in ein neues Licht taucht. Ich weiß dann: Es ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Da kommt noch etwas. Das, was hier nicht gelingen will, wird nochmal eine Wendung bekommen. Wo ich ungerecht behandelt wurde, kommt nochmal zur Sprache. Meine Verletzungen werden gesehen und können so ganz verheilen. Auch die Wunden derer, die ich schlecht behandelt habe, auch diese Wunden werden verschlossen werden. Und wenn ich erkenne, was ich selbst falsch gemacht habe, werde ich gereinigt und aufgerichtet. Die Bruchstücke meines Lebens werden am Ende so zusammengesetzt, dass ich einverstanden sein kann mit dem, wie es gewesen ist. Die Tränen wurden gesehen, und was schmerzt, wird dann verheilt sein. So kann ich das Leben, wie es jetzt ist – mit allem Unvollkommenen, allem Leid und Schmerz - besser annehmen. Das Leid, der Schmerz, sie sind jetzt da und sie gehören dazu. Aber sie werden nicht ewig da sein. Amen.
Anregungen sind entnommen aus:
Kühn, Andrea: So ein Ding. 80 Andachten mit Gegenständen, 5. Aufl. Stuttgart 2019, S. 112; Kick, Annette, Predigtmeditation zum Ewigkeitssonntag (22. November), Offenbarung 21, 1-7(8), in: Für Arbeit und Besinnung. Zeitschrift für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Nr. 20 vom 15. Oktober 2020, S. 13-18.
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