Estomihi (11. Februar 2018)
Pfarrer i.R. Dr. Karl-Theodor Kleinknecht, Tübingen [Karl.Kleinknecht@web.de ]
Amos 5, 21-24
Den Gottesdienst am Sonntag Estomihi zu halten, liebe Gemeinde, das war für protestantische Pfarrer früher immer eine ganz besondere Herausforderung – und ist es für manche bis heute.
Denn am Donnerstag war „der Schmotzige“ und morgen ist Rosenmontag und übermorgen Fasnacht, der Sonntag Estomihi also mittendrin, gleichsam der Mittwoch der unfrommen Woche, in der die Narren das Regiment führen, alles verkehrt ist und auf dem Kopf steht, singt und lacht und schunkelt – „und alle machen mit!“
Ganz bewusst hat die evangelische Tradition diesem Sonntag deshalb im Gegensatz zu solchem katholisch-heidnischen Treiben ein besonderes Profil gegeben, Jesu Weg zum Kreuz und den Ernst des Christseins in der Nachfolge zum Thema gemacht. Es ist zwar noch nicht Passionszeit, aber der Wochenspruch [Lk 18,31] wendet den Blick der Gemeinde schon auf Jesu Leidensweg nach Jerusalem. Während draußen lose Lieder und Sprüche an der Tagesordnung sind und mancherorts Weinbrunnen fließen, singen wir das Wochenlied: „Ein wahrer Glaube Gott’s Zorn stillt, daraus ein schönes Brünnlein quillt, die brüderliche Lieb genannt...“ Draußen toben die Narren, wir aber feiern Gottesdienst.
Nun, die Zeiten solcher Konfrontation sind (bei uns jedenfalls) gottlob vorbei, unser Gottesdienst ist keine betont protestantische Anti-Geste – weder gen Rottenburg noch gegen die Tübinger Versuche, die Fasnet auch hier heimisch zu machen wie ein Känguru im Schönbuch. Sondern wir sind hier an Estomihi, weil wir gern Gottesdienst feiern, vielleicht auch, weil uns in diesen lauten Tagen oberflächlichen Frohsinns besonders verlangt nach der Stille des schönen Raums, nach anderen Klängen, anderen froh machenden Gedanken, und wir das alles als besonders wohltuend empfinden. So wie wir’s dem Psalmisten vorhin nachgesprochen haben: „Das hätte ich gerne: im Hause des Herrn bleiben, zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn und seinen Tempel zu betrachten.“
Der Predigttext für diesen Sonntag gehört zu den ältesten Aufzeichnungen unserer Bibel. Worte des Propheten Amos, um 760 vor Christus gesagt und aufgeschrieben im 5. Kapitel des kleinen Prophetenbuches, die Verse 21 bis 24:
„So spricht der Herr: Ich hasse und verachte eure Feste und mag eure Versammlungen nicht riechen –
es sei denn, ihr bringt mir rechte Brandopfer dar –, und an euren Speisopfern habe ich kein Gefallen, und euer fettes Friedens-Mahlopfer sehe ich nicht an.
Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!
Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“
Liebe Gemeinde, was soll nun das?
Da kommen Sie in den Gottesdienst, noch dazu an diesem Sonntag, an dem sonst kaum einer hingeht, und bekommen das als Gottes Wort zu hören: Eure Gottesdienste gefallen mir nicht, bleibt mir weg mit dem Geplärr eurer Lieder!
So ein Frust. Da können wir ja gleich wieder gehen, sagen sich da vielleicht nicht nur unsere Konfirmanden.
Nett von Ihnen, dass Sie trotzdem bleiben. Denn ein starkes Stück ist es ja wirklich, was Amos sich da leistet.
AmosGenauso, nein, sogar noch um einiges schlimmer, wurde Amos’ Auftritt auch damals schon empfunden, als er, der Viehzüchter und Maulbeerbaumpfleger aus Teqoa bei Bethlehem in Juda, im Heiligtum von Bethel auftrat, also in Israel, wo er ja Ausländer war.
Das muss man sich mal vorstellen: Da platzt dieser Fremde mitten in den Gottesdienst hinein, in den schönsten Gesang der Leviten, die die feierlichen Opferdarbringungen musikalisch begleiten, während die Opfernden von Ganz- und Speisopfern fröhlich mitsingen und sich zur Melodie wiegen, in die Hände klatschen und tanzen. Und die anderen, die ein Friedens-Mahlopfer darbringen, eines also, das nicht völlig auf dem Altar verbrannt, sondern zum größten Teil gegessen wird, in froher Gemeinschaft das Opferfleisch verzehren und die Friedens-Einheit mit ihrem Gott genießen.
Bis Amos’ Stimme den Gesang durchschneidet, sein hartes Wort die fröhliche Stimmung zerschlägt: So spricht Gott: Ich kann eure Gottesdienste nicht riechen, ihr nervt mich mit dem Geplärr eurer Lieder und eurem Leierspiel.
Kein Wunder, dass Amazja, der verantwortliche Priester von Beth-El, zum König sendet und Amos des Aufruhrs und der Beunruhigung des Volkes bezichtigt und seine Ausweisung aus Israel erwirkt, wie es etwas weiter hinten im Amosbuch berichtet wird.
Kein Wunder und verständlich, nicht nur, weil Amazja für die Ruhe und den ungestörten Gottesdienstbetrieb verantwortlich war, sondern weil des Amos harten Gottesworte die religiösen Gefühle all dieser Menschen tief verletzten, die Grundlage ihres Glaubens, und damit ihres Lebens, erschütterten. Schließlich hatte doch Gott selbst den Opferkult gestiftet und angeordnet mit all den komplizierten Regeln als Möglichkeit zur Sühne für sein Volk. Und außerdem waren diese Opfer für die meisten Menschen wirklich ein „Opfer“, auf das sie lange hatten sparen müssen, und dann brachten sie’s mit viel Mühe zum Heiligtum als Zeichen ihrer Treue zum Gott ihrer Väter, ihm zur Freude und in der festen Meinung, dass er sich darüber freut und des Opfernden gnädig gedenkt. Mit welcher Genugtuung, Freude und Hoffnung kehrte man jedes Mal nach Hause zurück, wenn der Priester die Annahme des Opfers mit der Formel „le-razon“, „zum Wohlgefallen“, bestätigt hatte. Und nun kommt dieser dahergelaufene Prophet aus Juda und sagt: Das könnt ihr bleiben lassen. Nichts ist’s mit „le-razon“, Gott mag sie nicht riechen und hören, eure Gottesdienste.
Ziemlich unpsychologisch, dieses Vorgehen, der Prophet muss sich nicht wundern, dass die meisten den letzten Satz seiner harten Rede schon gar nicht mehr hören, geschweige denn an sich heranlassen: Es ströme aber Recht wie Wasser und Gerechtigkeit wie ein beständiger Bach.
Dabei ist dieser Satz mindestens so wichtig wie die anderen. Gerechtigkeit und Recht: Darauf kommt es Gott an.
Wobei diese beiden Begriffe in der Bibel bekanntlich ja etwas anders gedacht und gefüllt sind und noch ein bisschen mehr bedeuten als in unserem normalen deutschen Sprachgebrauch.
Gerechtigkeit und Recht sind biblisch immer vom Gedanken der Förderung von Leben, der Gemeinschaftstreue, des Heilens, Zurechtbringens und Heil-Erhaltens her gedacht. Also zum Beispiel: Dem Schwachen aufhelfen und aushelfen, Mangel beseitigen, die Lebensmöglichkeiten von Witwen und Waisen, Armen und Fremdlingen schützen und fördern, dem Hilfsbedürftigen und Hilfe Suchenden Hilfe gewähren, das gehört zur, ja das ist die Grundlage der biblischen Anschauung von Recht und Gerechtigkeit. Daran hapert es in Israel, das soll Amos dem Volk sagen, und das geht nicht zusammen mit euren Gottesdiensten.
Eure Treue zu Gott, zu dem Gott, der euch aus Ägypten befreit hat und euch wieder und wieder aufgeholfen und ausgeholfen, wieder und wieder Gnade und Barmherzigkeit gewährt hat, die könnt ihr nicht durch Opfergaben und schöne Lobpsalmen bekunden, wenn ihr gleichzeitig dem Armen sein Recht, dem Hilflosen Hilfe und eurem Nächsten Barmherzigkeit verweigert.
Eure Gottesdienste kommen dann nicht an. Sind wie eine Treppe, die ins Leere geht, schöne und sauber polierte Stufen vielleicht, hoch hinauf, aber ohne Ziel. Oder wie eine Brücke, die das andere Ufer nicht erreicht. Auf der man bekanntlich mit Freude tanzen kann, in Avignon zum Beispiel, „on y danse tout en rond“, aber ein Weg kann sie nicht sein.
Das könnt ihr bleiben lassen, sagt Amos. Stattdessen: Recht ströme wie Wasser, Gerechtigkeit wie ein beständiger Bach.
Wasser und RechtLiebe Gemeinde, mag der Vieh- und Maulbeerbaumexperte Amos im Blick auf sein psychologisches Geschick auch nicht gerade unseren Respekt herausfordern – mit diesem Satz, dem Vergleich des Rechtes mit dem Wasser, kann er uns auch nach fast 2800 Jahren immer noch Erstaunliches lehren.
Offensichtlich hat er von beidem, vom Wasser und vom Recht, etwas verstanden.
Recht ströme wie Wasser: hervorquellend aus dem Verborgenen, und dann unaufhaltsam voranstrebend und sich ausbreitend, überallhin. Recht hat eine Dynamik, ist in Bewegung, schreitet voran, greift immer weiter. Gerechtigkeit ist nicht eine starre Norm, sondern eine bohrende Herausforderung, ruhelos am Werk mit der Tendenz, auch den härtesten Felsen zu durchdringen – und kann das auch.
Und wie Wasser ist Recht lebensnotwendig. Wasser ist Leben. Gerechtigkeit auch. Wasser ist keine Selbstverständlichkeit, davon wusste man in Israel ein Lied zu singen, und weiß es bis heute. Man braucht es, und zwar in ergiebigem Maße, soll Leben nicht verkümmern und zugrunde gehen.
Genau diese kontinuierliche Ergiebigkeit betont Amos: Gerechtigkeit wie ein beständiger Bach. Nicht ein Wadi, das während der Regenzeit Wasser führt, mitunter als gefährlich reißender Strom, und gleich danach ein mageres Rinnsal und bald trocken liegt. Nicht wie die in Palästina häufigen Bäche, die plötzlich versickern, versiegendes Wasser, „ein ungetreues Gewässer“, nennt’s Jeremia einmal (15,18). Nein, einem beständigen Bach muss die Gerechtigkeit gleichen, wenn Leben gelingen soll. Durchhalten muss sie sich und in Treue durchgehalten werden, auch während der Dürre, auch in karger Zeit. Solche Gerechtigkeit kann menschliches Leben, humane Gemeinschaft, dann auch durchtragen durch Krisen und Un-Zeiten.
Und schließlich: Wasser, schon gar ein beständiger Bach, ist angewiesen auf eine beständige Quelle. Die man ja nicht machen kann, nur finden und freilegen. Um die zu wissen und deren Verlässlichkeit zu kennen aber gut ist.
So viel, immerhin, hat der Viehhirt und Sykomorenschlitzer Amos schon ein paar Jahrhunderte vor Platon und Aristoteles von Recht und Gerechtigkeit gewusst und verstanden, liebe Gemeinde, und als biblische Ur-Einsicht hinterlassen. Immerhin.
Und heute?Ur-Einsicht, die an Aktualität nichts verloren hat, bis heute nicht.
Denn wie steht es bei uns mit Recht und Gerechtigkeit? Wie steht es damit in unserem Land?
Durchaus nicht zum Schlechtesten, liebe Gemeinde. Wir haben einen Rechtsstaat, der uns – verglichen mit den meisten Ländern der Erde und mit fast allen Phasen der deutschen Geschichte – in hoher Rechtssicherheit leben lässt. Gott sei Dank. Und bei näherem Hinsehen gibt es, auch wenn man das manchmal angesichts der deprimierenden Skandale und Korruptionsfälle kaum glauben mag, auch in der Wirtschaft und der Politik immer noch so etwas wie Rechtschaffenheit. Auch das ist nicht selbstverständlich. Und gerade in diesen Tagen ist es sogar laut zu betonen gegen diejenigen, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geringachten und schlechtreden und Politikverdrossenheit schüren.
Und doch ist so manches kritisch zu fragen heute, angeregt von Amos’ Worten:
Was ist, wenn Recht bei uns zwar – in aller Regel – nicht käuflich ist, aber so kompliziert und dadurch risikoreich und teuer geworden, dass viele Menschen darauf verzichten müssen zugunsten der Stärkeren, die sich Anwälte leisten und gemächlich durch alle Instanzen klagen können?
Was ist, wenn der sogenannte globale Markt die in Jahrhunderten gewachsenen und errungenen Spielregeln humanen, dem Menschen zuträglichen wirtschaftlichen Handelns innerhalb weniger Jahre so stark ausgehebelt hat, dass Korruption und Ausbeutung, gezielte Arbeitsplatzvernichtung und Steuerflucht, grenzenloser Reichtum und grenzenlose Armut nicht nur stetig wachsen, sondern auch bei uns moralisch zunehmend salonfähig werden?
Und was ist, wenn immer mehr Rechte, die Menschenleben schützen und retten und die Menschenrechte weltweit stärken sollten, aus wirtschaftlichen und machtpolitischen Gründen aufgeweicht und ausgehöhlt werden? Welch beschämender Parteienstreit und Kuhhandel ist da nun schon seit einem halben Jahr im Gange um Flüchtlingsobergrenzen, Familiennachzug und sogenannte sichere Herkunftsländer, als ob es nicht um Menschen in Not ginge und um deren Leben, deren Schicksal, deren Angst und Hoffnung. Daran das staatliche Handeln auszurichten, klug und mit Augenmaß: Es wäre ohne Not möglich angesichts der deutschen Wirtschaftskraft, aber es könnte Wählerstimmen kosten…
Zum Leben helfende Gerechtigkeit? Wie ein beständig fließender Bach sollte sie sein unter Menschen, nicht wie ein Wadi, der bei jeder populistischen Zuckung vorsichtshalber versiegt.
Nein, liebe Gemeinde, Recht und Gerechtigkeit im Sinne des Amos als Fundamente und Triebfedern humanen Lebens, sie stehen auch im Jahre 2018 erschreckend schlecht im Kurs, und tun sich schwer im weltweiten Verdrängungswettbewerb der Werte, in dem so viel nach in Geld messbarer Effizienz und nur noch so wenig nach der Lebensqualität der Menschen gefragt wird.
Aber heißt das, dass die Welt deshalb nicht mehr nach Gerechtigkeit hungert und dürstet? Und dass wir uns diesem Trend einfach anzupassen haben?
Nein, die Frage, vor die Amos uns stellt, ist ja nicht nur die nach Recht und Gerechtigkeit in unserem Land und ringsherum in der Welt, sondern vor allem: Wie wir darin leben und damit umgehen, wir, die wir Gottesdienst feiern, Gottes und Jesu Gemeinde.
Unser (vernünftiger) GottesdienstWie steht es mit uns und mit unseren Gottesdiensten und des Amos harten Gottesworten: Ich kann sie nicht riechen, eure Opfer, ich mag euer Singen und Harfenspiel nicht hören... Recht ströme wie Wasser und Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.
Dürfen wir so einfach Gottesdienst feiern? Heute mit Kantorei und nächsten Sonntag mit Abendmahl, in der Karwoche mit besonderer Kunst und Ende des Jahres mit Bachs herrlichen Weihnachtskantaten? Haben wir nicht gerade gehört, dass Gott kein Gefallen hat an Gottesdiensten, so lange nicht Recht und Gerechtigkeit strömen?
Oder ist das bei uns Christen etwa anders als damals bei Amos in Israel?
Sicher nicht völlig anders, liebe Gemeinde: Wie sollte es das, wir haben doch denselben Gott.
Dem ganz gewiss auch unsere Gottesdienste missfallen und der auch unser Singen und Spielen nicht gern hört, wenn das, was wir hier bekennen und besingen sich nicht auch mit unserem Leben deckt. Das ist ja nicht nur bei Amos Thema, sondern hält sich durch in der Bibel, bei Jesaja, Hosea, Jeremia wie dann auch bei Jesus und immer weiter auch unter Christen bis hin zu Dietrich Bonhoeffers so oft zitiertem Satz: „Nur wer auch für die Juden schreit, darf gregorianisch singen.“ Wenn wir hier vom Reich Gottes, von Recht und Gerechtigkeit, von Gottes bedingungsloser Gnade und Barmherzigkeit predigen und schwärmen, unsere Kinder auf den Namen dieses Gottes taufen und uns konfirmieren lassen, und draußen vor der Kirche, zu Hause, in der Schule, am Arbeitsplatz all das verleugnen, sei es aus Egoismus, sei es aus Feigheit („denn alle machen mit“), dann kann auch das hier drin kein rechter Gottesdienst sein.
Wir haben’s ja vorhin ganz deutlich gehört aus dem Brief des Paulus, dass unser ganzes Leben Gottesdienst sein soll, „vernünftiger Gottesdienst“ sagt er, im Alltag der Welt, mit einer an Jesus Christus ausgerichteten, neu orientierten Vernunft, die uns leitet, die uns anleitet zur Liebe und zum Frieden gegen jedermann.
Im Alltag der Welt, ja, mittendrin in einer Welt, die von Haus aus nicht einfach zur Liebe und zum Frieden neigt, in der Recht und Gerechtigkeit nicht von selbst beständig strömen, sondern immer nur bestritten und angefochten werden, in der Auseinandersetzung mit Kräften, die anderes wollen (und oft genug sind wir das ja sogar selbst). Das ist die Situation. In der wir immer neu dazu berufen sind, den „vernünftigen“ Gottesdienst zu leben, jede und jeder in seinem, ihrem Umfeld, in seiner Familie, mit seinen Kindern und Enkeln, in der Verantwortung, dass die nicht nur möglichst schnell internetfähig werden, sondern auch (und möglichst in demselben Maße) fähig zu Gerechtigkeit und Frieden, sensibel für Liebe und Barmherzigkeit. Dazu sind sie uns anvertraut.
Gottesdienst im Alltag der Welt: also auch im Beruf, in der Schule, in der Gesellschaft, jeder in seiner Gemeinde, jede in ihrem Land, als Bürgerin und als Wähler, jeder in seiner Welt, die er mit allen anderen Menschen teilt und die eigentlich Gott gehört.
Konkret, im Blick auf die Flüchtlingsfrage ist es dann wohl unsere Sache als Christen, uns für sie einzusetzen. Ja, möglicherweise werden wir uns sogar daran gewöhnen müssen, für längere Zeit einen größeren Teil unserer Energie, unserer Phantasie und unserer Mittel darauf zu verwenden, der Erosion von Recht und Gerechtigkeit, von Rücksicht und Solidarität, von Liebe und Barmherzigkeit zu begegnen. Auch wenn wir dadurch als Christinnen und Christen unserer eigenen Gesellschaft ein Stück weit fremd werden und in Konflikt mit ihr geraten, und hin und wieder auch in Konflikt mit uns selbst. Und manchmal die (noch ungewohnte) Erfahrung machen, zu einer Minderheit zu gehören. Was uns ja eigentlich nicht wundern muss. „Passt euch nicht dieser Weltzeit an, sondern lasst euch umwandeln durch die Erneuerung des Denkens“, hörten wir vorhin aus dem Römerbrief, „bringt euch selbst (und natürlich meint Paulus damit auch unsere Kraft, unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten) als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer dar“ – was heißt das denn anderes als: Setzt euch ein für das, was Gott will!? Was noch nie einfach „Mainstream“ war. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.
Und die anderen Gottesdienste? Dieser hier heute an Estomihi und Sonntag für Sonntag... Wozu sind die denn da?
Liebe Gemeinde, wer sein Leben als Gottesdienst im Alltag dieser nach Gerechtigkeit hungernden und dürstenden Welt begreift und zu gestalten versucht, der wird auch den Sinn der Sonntagsgottesdienste neu erfahren und sehen. Nämlich als immer wieder neue Möglichkeit, sich bestärken und beraten zu lassen von dem Wort des Gottes, der Recht und Gerechtigkeit nicht nur will und fordert, sondern selbst die Quelle ist, aus der jener beständige Bach sich speist.
Als Ort der Nähe und Gegenwart Gottes, an dem uns Gottes Ja zu unserem Leben, seine Vergebung und sein Segen zugesprochen werden, an dem wir immer wieder neu erfahren, was er für uns getan hat, dass unser Leben Geschenk ist, gestundete Zeit, verdankte Existenz. Als Raum der Begegnung miteinander, des gemeinsamen Bittens, Lobens, Dankens, als Orientierungs- und Kraftquelle für den Gottesdienst im Alltag der Welt. Kraftquelle, ohne die seine Ansprüche und Zumutungen nicht zu bewältigen wären. So begriffen, sind unsere „schönen Gottesdienste des Herrn“ samt Musik und Kunst dann Treppen, die nicht ins Leere gehen und Brücken, die hinüberführen zu einem anderen Ufer, zum anderen Menschen und zu Gott, dem Freund und der Quelle der Gerechtigkeit – wie im Himmel so auf Erden. Amen.
Liturgische Vorschläge:
• Psalm 27
• Schriftlesung: Römer 12,1-2
• Wochenlied vor der Predigt: EG 413,1-3.6.8
• Lied nach der Predigt: Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen (EG Württ 658)
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