Drittletzter Sonntag des Kirchenjahrs (12. November 2017)
Pfarrer Jochen Maurer, Stuttgart [Jochen.maurer@elkw.de]
Lukas 11, 14-23
Liebe Gemeinde,
die Rede von bösen Geistern ist archaisch – aber immer noch spüren wir Unbehagen.
Hilft uns der Hinweis, dass böse Geister ihren Platz in einem alten, längst überholten Bild von der Welt hatten?
Eine Zeit, in der es noch keine Psychologie gab; keine Neurologen; keine Psychopharmaka.
Für den antiken Menschen war die Luft der Aufenthaltsort unreiner, böser Geister und Dämonen.
Unser Weltwissen sagt uns anderes: Nicht mehr Aschmodai, Belial oder Beelzebub heißen sie, sondern Depression; Epilepsie, Schizophrenie, alle Arten von Süchten. Unser Wissen vom Menschen besagt, dass es sich um Erkrankungen des Nervensystems oder der Psyche handelt.
Das sind auch heut noch unheimliche Widersacher – wir aber können diese Phänomene verstehen und z.T. auch heilen.
Die Luft ist jetzt „rein"! Haben wir nicht für jeden bösen Geist die passende Schublade?
Vernunft, Aufklärung und Wissenschaft sind der beste Schutz vor jenen „bösen“ Geistern.
Welcher Segen!
Es ist kaum zu überschätzen, welche Bürde von erkrankten Menschen genommen wurde:
Nicht besessen, sondern krank sein zu können.
Können wir uns also zurücklehnen?
Wir wissen doch so viel mehr als unsere Vorfahren – wie naiv, wie kindlich ist dagegen ihr Aberglauben!?
„Ein Dämon ist das fremde Ich, das meine Gedanken packt.“(1)
Liebe Gemeinde: Diese Begriffsbestimmung stammt von Professor Michael Trowitzsch, einem deutschen Theologen. Er übersetzt die antike Vorstellung so, dass auch wir, Menschen des 21. Jahrhunderts, verstehen können, was die Zeitgenossen Jesu in Gestalt der Dämonen plagte.
Dass die eigenen Gedanken gepackt, in Besitz genommen werden – finden wir dafür nicht Beispiele genug? In unserer modernen, aufgeklärten Gesellschaft, im 21. Jahrhundert?
Was ist es anderes, wenn Jugendliche sich in virtuellen Welten verlieren, dass Eltern oder Freunde sie immer weniger ansprechen können? Internetsucht – der Name einer Form seelischer Abhängigkeit.
Wie nennen wir Prozesse, durch die in Klassen- bzw. Betriebsgemeinschaften einige wenige sich gegen den Schwächeren zusammentun; ihn vor den anderen schlechtmachen, demütigen und ausgrenzen – so, dass auch die unbeteiligte Mehrheit sich am Ende einlässt: Der gehört nicht zu uns!
Mobbing heißt das heute und ist Teil der destruktiven Realität, die viele Schüler und Berufstätige erleiden.
Oder wie soll die absichtliche Streuung von objektiv falschen Behauptungen in Medien oder sozialen Netzwerken bezeichnet werden: Wenn das Prinzip der Meinungsfreiheit beansprucht wird, um bewusst Menschen in Verruf zu bringen, oder um ganze Gruppen zu verleumden? Fake-News – ein modernes Mittel der Manipulation.
Ja: Das sind Beispiele für Besessenheit durch ein fremdes Ich; und je mehr ein Mensch sich solchen fremden, destruktiven Zielen verschreibt – umso deutlicher zeigt sich das dämonische Wesen.
Nein: Die Luft ist nicht rein! Jede Zeit hat ihre Dämonen.
Oberster der Dämonen vs. Finger GottesLiebe Gemeinde:
Predigen wir heute von der Macht der anderen Seite?
Es ist deutlich: Die Dämonen unserer Zeit sind gewaltige Mächte – und wer von uns könnte sagen, er weiß nichts von all den Versuchungen, in die unser Ich geführt wird, sich einem fremden Ich zu fügen, zu folgen, nicht immer fragen und suchen zu müssen, was recht ist.
Auch wir dienen fremden Mächten – oft aber erkennen wir diese Besetzung des Willens und Erkenntnisvermögens bei anderen klarer, als wenn es um uns selbst geht: Den Splitter im Auge des Nächsten sehen wir, den Balken im eigenen blenden wir aus.
Aufklärung, Wissenschaft, Medizin – wie soll das helfen, wenn keine Einsicht vorhanden ist; wenn Menschen Tatsachen leugnen und Wissenschaft als Lüge bezeichnen?
Unser Predigttext, Jesus selbst, geben keine Anleitung zur Resignation!
Am Anfang steht die Heilung: Ein Mensch, der unter der Übermacht des Dämons verstummt ist, findet seine Sprache wieder! Wird frei, der Gemeinschaft zurückgegeben – fürs Gespräch, für die Freude, für das Lob Gottes!
Ein Streitgespräch um die Bewertung und Einordnung der Tat Jesu schließt sich an:
Die Kritiker versuchen, die Heilung zu diskreditieren.
Was der gemacht hat, scheint nur gut – in Wahrheit aber ist Jesus der Wolf im Schafspelz; der gute Anschein nur die Kreide, damit die Stimme des Bösen vertrauenerweckend klingt.
Jesus konfrontiert das Argument der Verschwörungstheoretiker mit einer Verheißung.
Dort, wo Menschen von inneren oder äußeren Zwängen befreit werden, von den Mächten, die Untergang und Zerstörung bringen, frei werden, wo ihre eigene Stimme wieder erklingt – dort verfestigt sich das, was Jesus Reich Gottes nennt.
Liebe Geschwister:
Wir sind zusammengekommen am Sonntagmorgen.
Weil wir genau das erwarten: dass wir von inneren und äußeren Zwängen befreit werden – dass das Reich Gottes auch in und um uns greifbar wird.
Wir hoffen auf das, was stärker ist als die bösen Geister um uns herum und über uns.
Auch wir brauchen die Kraft des Geistes Gottes, die gegen diese Geister wirkt.
Gottes Herrschaft – Freiheit zum Dienst am NächstenJa - aber ...!
Wie soll das zugehen?
Auch dafür finden wir Beispiele – gar nicht weit hergeholt.
Renate Künast, die sich im Sommer 2016 ein Herz fasst und etliche der Internet-Pöbler besucht, die sie teils übel verunglimpft hatten.
Völlig überrascht entschuldigen sich viele und finden, Aug´ in Auge, zu einer ganz manierlichen Sprache.
Oder Ali Can und seine Hotline für besorgte Bürger:
Im Alter von zwei Jahren nach Deutschland gekommen, sucht er heute den Kontakt zu Menschen, die AfD wählen oder mit Pegida marschieren – und die in ihm einen Ansprechpartner finden, sozusagen von der anderen Seite, der ihnen zuhört und einfach mit ihnen redet.
Oder Ahmad Mansour:
Er bringt junge arabisch-stämmige Leute mit einem Holocaust-Überlebenden zusammen –
eine für beide Seiten enorm bereichernde Erfahrung, weil sich hier Menschen treffen, deren Erfahrungen so oft als unvereinbar angesehen werden.
Vielleicht denken Sie jetzt:
Wo ist da der Finger Gottes? Wo Jesus, der den Dämon vertreibt?
Ja: Alle drei Genannten würden sich wohl nicht als Christen bezeichnen.
Aber alle drei tun, was Jesus getan hat:
Geben Menschen ihre Sprache zurück; lösen Befangenheiten, Besetzungen, Blockaden durch Hass, Wut, Zorn – ermöglichen Begegnung von Angesicht zu Angesicht.
Auch wenn diese drei keine Christen sind:
Sie tun, was Sache der Christen ist.
Mit Luthers Worten: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Jesus behandelt die Randexistenzen als Menschen.
Dass das Herz der Menschen frei wird – von der Herrschaft der Dämonen.
Dass Gerechtigkeit, Liebe und Gottesfurcht, die in der verheißenen Welt nach Gottes Willen herrschen sollen - dass diese Worte, wie Samen, Wurzeln schlagen in der Gegenwart.
Auch in unserer Gegenwart,
die von so vielen bösen Geistern beherrscht wird.
Denn wir sind durch unsere Taufe nicht zu einem Leben unter der Herrschaft der bösen Geister bestimmt, sondern zur Freiheit der Kinder Gottes.
Wir begegnen diesem Geist, wenn wir Abendmahl feiern:
Die Gemeinschaft des Auferstandenen unter uns.
Wir stoßen auf diesen Geist, wo wir Vergebung empfangen
Und denen vergeben können, die uns enttäuscht, beleidigt, ungerecht behandelt haben.
Da sind die kleinen Funken des Reiches Gottes.
Da strahlt die Kraft des großen Liebesfeuers aus:
Aus Worten - in Herzen - in Taten - in die Welt.
Amen.
Anmerkung
1 Das Zitat stammt aus einer Predigt zu Mk 3,22ff: http://www.schlosskirche.ch/lesestoff/predigten/styled-71/
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