2. Weihnachtsfeiertag (26. Dezember 2017)
Offenbarung 7, 9-17
Liebe Gemeinde,
vorgestern haben wir im Krippenspiel die Engel gesehen: in ihren weißen Kleidchen, mit strahlenden Gesichtern. Nun ja, ein bisschen zappelig, wie die Engelkinder im Krippenspiel es immer sind. Miteinander haben wir gesungen: „Gloria in excelsis Deo.“ Und da waren wir für ein paar Augenblicke alle Engel, eins mit den Engeln auf dem Hirtenfeld, eins mit den Engeln Gottes, die die frohe Botschaft verkünden, dass Gott uns so nahe gekommen ist, wie wir es uns niemals hätten erträumen können: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallen“ (Lk 2,14).
Und heute? Heute werden wir mit den Worten des Sehers Johannes auf Patmos noch einmal unter die Engel gestellt, in den Himmel erhoben, in eine ganz andere fremde Welt. Es ist keine heile Kinderwelt. Oder doch? Die heile Welt der Kinder Gottes? Hören wir, was der Seher sieht:
Offenbarung 7,9-17
Danach sah ich, und siehe, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen,
und riefen mit großer Stimme: Das Heil ist bei unserm Gott, der auf dem Thron sitzt, und bei dem Lamm!
Und alle Engel standen rings um den Thron und um die Ältesten und um die vier Wesen und fielen nieder vor dem Thron auf ihr Angesicht und beteten Gott an
und sprachen: Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
Und einer der Ältesten antwortete und sprach zu mir: Wer sind diese, die mit den weißen Kleidern angetan sind, und woher sind sie gekommen?
Und ich sprach zu ihm: Mein Herr, du weißt es. Und er sprach zu mir: Diese sind's, die aus der großen Trübsal kommen und haben ihre Kleider gewaschen und haben sie hell gemacht im Blut des Lammes.
Darum sind sie vor dem Thron Gottes und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel; und der auf dem Thron sitzt, wird über ihnen wohnen.
Sie werden nicht mehr hungern noch dürsten; es wird auch nicht auf ihnen lasten die Sonne oder irgendeine Hitze;
denn das Lamm mitten auf dem Thron wird sie weiden und leiten zu den Quellen lebendigen Wassers, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.
Don’t pray. Just look!Liebe Gemeinde,
auch ich habe etwas gesehen und gehört. Eine große Schar, Menschen in vielerlei Trachten, Menschen verschiedener Hautfarbe und Sprache. Blasse Frauen mit weißen Spitzentüchlein auf dem Haar, rumänische Sprachfetzen, dunkelhäutige Familien in bunten Gewändern, afrikanische Sprachen, die ich nicht zuordnen konnte, Männer mit großen Turnschuhen an den Füßen, das Basecap in der Hand, englische Brocken …
Das war nicht im Himmel. Das war nicht aus der Welt. Das war im Sommer in der Grabeskirche in Jerusalem. Vor dem Heiligen Grab drängelten sich Christen aus aller Welt; der Strom der Pilger wurde durch Absperrgitter kanalisiert.
Es ging nur langsam voran. Die große Gruppe der Rumänen begann zu singen. Ich habe nicht verstanden, was. Es war wohl ein anderes: „Lob und Ehre … sei unserem Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit!“
Am Eingang zum Grab stand der unvermeidliche griechische Mönch. Seit fünfunddreißig Jahren kenne ich den Typ. Es ist bestimmt nicht immer derselbe Mann. Aber sie finden immer wieder einen, der bärbeißig genug ist, um die Pilger anzutreiben: „Don’t pray. Just look!“ versucht er die Besichtigung der Grabeskapelle zu beschleunigen: „Nicht beten. Nur gucken!“
Man steht lange genug in der Schlange, um sich so seine Gedanken darüber zu machen. Zu gucken gibt es eigentlich wirklich nicht viel. Das Grab ist natürlich leer. Lediglich mit ein paar Ikonen und Öllampen geschmückt und gelegentlich auch mit Plastikblumen von zweifelhafter Schönheit. Zu gucken gibt es nichts.
Zu beten schon. Die Augen schließen und wahrnehmen, dass einer, der einen grausamen, schändlichen Tod gestorben ist, von Gott auferweckt wurde. Aufs Engste verbunden mit Gott. Das erschließt sich nicht im flüchtigen Blick in eine Grabkapelle, angetrieben von einem brummigen Mönch, dem das ganze Treiben sowieso zu viel ist.
Wollen wir zu seinen Gunsten annehmen, dass er ein anderes Verhältnis zu diesem Ort hat, den er auch nachts kennt, wenn die Kirche still wird und man nur noch die Gebete und Gesänge der Mönche darin hört.
Unterdrückung und Verfolgung damals, heute…Der Seher Johannes sieht und hört nicht nur aus der Ferne. Er steht dabei. So, dass einer der 24 Ältesten ihn ansprechen kann: „Wer sind diese, die mit den weißen Kleidern angetan sind, und woher sind sie gekommen?“
Das ist eine rhetorische Frage. Sie leitet die Nachricht ein, die der Seher an seine Leute weitergeben soll.
Die in den festlich weißen Kleidern kommen aus der „großen Trübsal“. So übersetzt das Martin Luther.
Das griechische Wort an dieser Stelle bedeutet „niederdrücken“, „zusammenpressen“, „Unterdrückung“. Die da jetzt aufrecht vor dem Thron Gottes stehen, sind Menschen, die man kleingemacht hat, ja sogar einen Kopf kürzer, denn es sind die Männer und Frauen, die um ihres Glaubens willen Verfolgung und Tod erlitten haben.
Christenverfolgung – das klingt wie ein Phänomen aus ferner Vergangenheit. In vielen Länder dieser Welt ist die Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung von Christen jedoch auch heute noch – oder wieder – gängige Praxis. Besonders bedroht sind Christen in Ländern und Gebieten, in denen islamistische Extremisten oder Terroristen Macht ausüben. Dort werden häufig nicht nur christliche Gemeinden, sondern alle religiöse Minderheiten verfolgt.
Die Formen der Unterdrückung reichen von Diskriminierung im Bildungsbereich oder auf dem Arbeitsmarkt über Inhaftierungen bis hin zu grausamen Gewalttaten wie Hinrichtungen und Folter.
In manchen muslimischen Ländern werden traditionelle christliche Gemeinschaften akzeptiert, wie zum Beispiel die armenische Gemeinde in Isfahan in Iran. Der Gottesdienst und die christliche Unterweisung dürfen aber nur in armenischer Sprache gehalten werden. Muslime, die zum Christentum konvertieren, müssen mit harten Strafen, ja sogar der Todesstrafe rechnen.
Christliche Mission ist in Iran verboten. Als ich im vergangenen Jahr mit der Reisegruppe eines christlichen Veranstalters dort unterwegs war, durften wir nicht einmal im Bus – in Gegenwart des muslimischen Busfahrers und der muslimischen Reiseleiterin – eine Andacht halten.
Das ist nur ein Beispiel. Christen werden auch in mehreren arabischen Ländern verfolgt, in China, Nordkorea und Vietnam, in Indonesien, Pakistan und Afghanistan, in Nigeria und Kenia … und diese Liste ist längst nicht vollständig.
Manchmal muss die Religion als Begründung herhalten, wenn Verfolgung eigentlich wirtschaftlichen oder politischen Interessen dient.
Das war schon in Bethlehem so. Unser Krippenspiel endete dieses Jahr mit der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten, weil Herodes das Kind als Konkurrent um den Thron verfolgte (Vgl. Mt 2,13ff.).
Vor Jahren war ich einmal im armenischen Kloster in Bethlehem. Es ist direkt an die alte Geburtskirche angebaut und liegt hinter der großen Mauer, die man rechts vom Eingang sieht. Durch eine Seitentür der Kirche kommt man in den Klosterhof mit einer Kapelle, in der zahlreiche Knochen aufgeschichtet sind. Schädelknochen überwiegend. Eine fromme armenische Christin zeigte mir den Ort und flüsterte ehrfürchtig: „Das sind die Köpfe der Kinder, die Herodes ermorden ließ.“
Ich zeigte mich beeindruckt. Warum auch soll man widersprechen? Was ich sah, waren Schädel von Erwachsenen. Nicht zweitausend Jahre alt, sondern nach meinen bescheidenen archäologischen Kenntnissen vermutlich aus der Kreuzfahrerzeit.
Schlimm genug, wie man sich da die Köpfe eingeschlagen hat – um des Glaubens und beträchtlicher wirtschaftlicher und politischer Interessen willen.
Wer von diesen Toten allen steht wohl vor dem Thron Gottes und des Lammes?
Das Lamm – Opfer des GlaubensDas Lamm ist natürlich das Sinnbild des gekreuzigten Jesus, der den Weg des Opfers gegangen ist. Selbst ein Opfer seines Glaubens.
Und doch gehört zu diesem Glauben die feste Hoffnung, dass das, was unter die Füße getreten wird, das Unterste, nach oben kommen soll: „Die Letzten werden die Ersten sein“ (Mt 19,30).
Diejenigen, die es nicht schaffen nach Jerusalem, nach Bethlehem als Pilger oder Touristen. Diejenigen, die es nicht schaffen dahin zu gelangen, wo sie nicht mehr verfolgt werden, weil sie „falsch“ glauben und beten. Diejenigen, die enden in Kerkern und Folterkammern, das sind die, unter denen Christus, das Opfer, heute schon lebt und mit ihm Gott. Der Thron steht nicht in den Wolken, sondern in den Gefängnissen.
Wo wohnt Gott? Wo lässt er sich nieder?Ich hatte im Studium einen Predigtlehrer, der sagte im Seminar einmal: „Haben Sie keine Angst, an Weihnachten das Richtige zu predigen. Gott hört nicht zu. Gott ist in diesen Tagen ganz woanders unterwegs. Er ist bei den Kindern im Krieg, bei den Hungernden. Er ist nicht in unseren Kirchen, die nach Parfüm riechen; er ist nicht unter den Leuten, die sich auf den Weihnachtsbraten freuen …“
Das hat mir Eindruck gemacht. Obwohl ich es nicht ganz geglaubt habe und bis heute nicht glaube. Ich hoffe, dass Gott auch hier ist, mit seiner allumfassenden Aufmerksamkeit. Ich hoffe, dass er auch uns sieht, die wir hungern und dürsten nach Anerkennung und Geborgenheit und Gemeinschaft und Gerechtigkeit und Würde und Trost und und und … So viele Nöte fallen mir ein.
An Weihnachten, wenn die Tage still um uns sind, da werden manche Sorgen laut. Aber der Seher Johannes hat einen der Ältesten vor Gottes Thron sagen hören, was auch in unserem Alltag weiterklingen soll: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen“ (Vgl. auch Jes 25,8). – Das soll uns trösten. Und der Blick auf die verfolgten Brüder und Schwestern soll unsere eigenen Sorgen an den rechten Platz rücken.
Dass wir uns nicht leiten lassen von der Anweisung: „Don’t pray. Just look!“ Im Gegenteil: Hinschauen und beten, beten und handeln! Jesus ist auferstanden, um überall unter uns zu wohnen. In den Ställen und in den Gefängnissen, in den Villen und in den Palästen.
Amen.
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