Buß- und Bettag (18. November 2020)
Jesaja 1, 10-18
IntentionDer Predigttext zum Buß- und Bettag ist von seinem Ende her zu verstehen. Nicht Frömmigkeit an sich prangert Jesaja an, sondern Frömmigkeit ohne Mitmenschlichkeit. Buße tun heißt, seine Komfortzone verlassen. Gottes Gnade und Vergebung schenken Freiheit zu entschlossenem mitmenschlichem Handeln.
Der Predigttext für den heutigen Buß- und Bettag steht im Prophetenbuch Jesaja und zwar gleich im ersten Kapitel dieser gewaltigen Anklage- und Verheißungsschrift von Gott her.
Jesaja versteht sich als Mund Gottes. Er verkündigt, was Gott ihm auszusprechen geboten hat und im Laufe seines Propheten-Lebens immer wieder neu zu verkündigen gebietet. Dabei paart sich radikale Kritik am Verhalten des Volkes Gottes mit unerhört tröstlichem Zuspruch.
Hören Sie Jesaja 1, 10-18:
(10) Höret des HERRN Wort, ihr Herren von Sodom! Nimm zu Ohren die Weisung unsres Gottes, du Volk von Gomorra!
(11) Was soll mir die Menge eurer Opfer?, spricht der HERR. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes von Mastkälbern und habe kein Gefallen am Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke.
(12) Wenn ihr kommt, zu erscheinen vor meinem Angesicht – wer fordert denn von euch, dass ihr meine Vorhöfe zertretet?
(13) Bringt nicht mehr das so vergebliche Speisopfer! Das Räucherwerk ist mir ein Gräuel! Am Neumond und Sabbat ruft ihr Zusammenkünfte aus, ich halte Frevel und Festlichkeit nicht aus!
(14) Eure Neumondfeste und eure Festversammlungen sind mir (in tiefster Seele) verhasst; sie sind mir eine Last, ich bin’s müde, sie zu tragen.
(15) Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut.
(16) Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen. Lasst ab vom Bösen,
(17) lernt Gutes tun! Trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache.
(18) „So kommt denn und lasst uns miteinander rechten“, spricht der HERR. „Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie rot ist wie Purpur, soll sie doch wie Wolle werden.“
Liebe Gemeinde, Schwestern und Brüder!
Es liegt schon mehr als vierzig Jahre zurück. Es muss um Weihnachten 1977 oder 1978 gewesen sein. Wir waren jung verheiratet; ich hatte eine Stelle am Evangelischen Stift in Tübingen. Für meine Frau und mich und für viele in unserem kirchlichen Umfeld war die Ökumene wichtig geworden, der Horizont der weltweiten Christenheit. Da erreichte uns eine Anfrage vom Ökumenischen Institut in Bossey bei Genf. Die dortigen Studierenden aus Kirchen der ganzen Welt sollten über Weihnachten nicht allein sein, sondern Gastfreundschaft genießen. Ob wir jemanden aufnehmen könnten? Wir sind dieser Bitte mit Freude nachgekommen, auch wenn wir wussten: Über Weihnachten Fremde ins familiäre Feiern aufzunehmen und einzubeziehen, würde nicht ganz einfach sein. Es war auch nicht ganz einfach, aber es war eine ungeheure Erfahrung und Bereicherung.
Zu uns kam Una Matawalu, eine nicht mehr ganz junge Frau, Diakonin (was auch immer dieses Amt in ihrem Lebenskontext bedeutet haben mag) von den Fidschi-Inseln im Pazifischen Ozean. Der Studienaufenthalt in Bossey war ihr allererster Aufenthalt außerhalb ihres Heimatlandes Fidschi. Auf dem Weg nach Europa hatte sie in Australien zum ersten Mal Hochhäuser gesehen und war in einen Aufzug gestiegen. Alles oder fast alles war neu für sie, überraschend, aufregend, befremdlich auch und manches sogar beängstigend. Und nun Deutschland: Winter, der Weg zum Gottesdienst an Heiligabend eine gefährliche Rutschpartie auf gefrorenem Regen.
Und dann war Schnee gefallen. Una Matawalu war außer sich. Sie war bibelkundig. Zum ersten Mal Schnee. Sie hatte sich das bisher nicht vorstellen können, und jetzt auf einmal Schnee, ringsum alles schneebedeckt. Sie muss unseren heutigen Predigttext gekannt haben; denn auf einmal brach es aus ihr heraus: „‚Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden.‘ Jetzt weiß ich, was das bedeutet: schneeweiß. Da ist ja überhaupt nichts mehr zu sehen von dem, was vorher war. Weiß wie Schafwolle, das konnte ich mir gut vorstellen. Aber schneeweiß, das ist noch einmal anders. Überwältigend. Alle Sünde weg!“
Frömmigkeit mit und ohne MitmenschlichkeitWarum ich Ihnen diese Begebenheit so ausführlich erzählt habe? Weil ich der Überzeugung bin, dass man unseren heutigen Predigttext von seinem Ende her verstehen muss. Es wird Ihnen beim Hören von Jesajas Botschaft gegangen sein wie mir: Ja, geht’s denn noch! Da gibt sich ein ganzes Volk die äußerste Mühe, es seinem Gott recht zu machen: Frömmigkeit auf der ganzen Linie. Herrliche Gottesdienste, ein reiches Gebetsleben, Opfer en masse, religiöse Feste, Wallfahrten, Studium der Heiligen Schriften, fromme Unterweisung der Jugend. Und das alles soll nichts sein, bei Gott nur Ärger und Überdruss, ja geradezu Ekel hervorrufen? Ja, hat denn Gott das alles nicht geboten? Ist das nicht sein heiliger Wille, den wir erfüllen? Wir suchen doch mit alledem seine Nähe, wollen seine Treue mit unserer Treue erwidern. Und ER – wendet sich ab „verbirgt seine Augen vor uns“, hört uns nicht – will uns nicht hören. Geht’s denn noch?
Ja doch – es geht noch! Es geht dahin, wo dieser ganze religiöse Eifer sich als hohl entpuppt. Nicht der religiöse Eifer ist das Problem in Gottes Augen. Er könnte seinen Gefallen daran haben, wenn er stimmig wäre, aber er stimmt nicht. Religiöser Eifer stimmt nur, wenn er einhergeht mit einem sozialen Verhalten, das dem Willen Gottes entspricht. Daran mangelt es, das ist der Kern des Vorwurfs, den Gott seinem Volk macht durch den Mund seines Propheten Jesaja. Kehrt um, tut Buße nicht durch immer noch größeren religiösen Eifer. Der läuft völlig ins Leere, ja er verkehrt sich geradezu in eine Verhöhnung Gottes, wenn da nicht die elementarsten Regeln der Mitmenschlichkeit eingehalten werden. Denn Gott hat seinen Gefallen an der Mitmenschlichkeit seiner Geschöpfe, die er nach seinem Bilde geschaffen hat.
„Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen. Lasst ab vom Bösen, lernt Gutes tun!“ Und dann wird es an einigen Beispielen ganz konkret: „Trachtet nach Recht“ will sagen: Verbiegt das Recht nicht zu euren Gunsten! „Helft den Unterdrückten“ will sagen: Fallt den Unterdrückern in den Arm. Solidarisiert euch mit den Unterdrückten, damit sie Freiraum bekommen. „Schafft den Waisen Recht“ will sagen: Nehmt unbegleitete Ge-flüchtete bei euch auf! „Führt der Witwen Sache“ will sagen: Versteht euch in erster Linie als Anwälte der Schwächeren und nützt deren Schwächen nicht aus! Ist das etwa zu viel verlangt? Das sind doch lauter Forderungen, Gebote, die universal gelten, in jeder Ethik, sei sie philosophisch oder religiös begründet.
Buße tun heißt, seine Komfortzone verlassenFreilich, die Erfüllung solcher ethischer Forderungen erfordern Buße, Umkehr. Das kann je nach Situation ein hartes Geschäft sein. Denn das Böse, von dem man sich da abwenden muss, kommt oft ganz banal daher. Das tun doch alle: zuerst den eigenen Vorteil suchen. Das tun doch alle: die „eigenen“ Leute begünstigen und die „Fremden“ benachteiligen. Das tun doch alle: lieber nicht nachfragen, aufgrund von welchen „Mechanismen“ wir reicher und andere ärmer werden. Das tun doch alle: sich davonstehlen und nicht eingreifen, wenn jemand rassistisch angegriffen wird.
Erstens stimmt das nicht, dass „alle“ sich so verhalten. Wenn man die Augen aufmacht, kann man auch anderes Verhalten immer wieder beobachten. Und zweitens ist ein Verhalten nicht weniger böse, wenn eine große Mehrheit sich so verhält. Buße tun heißt: sich nicht herausreden, nicht auf andere zeigen, sondern stets bei sich selbst anfangen, auch wenn man seine Komfortzone verlassen muss. Fromme Übungen sind kein Ersatz für konkrete Verhaltensänderung. Das prägt uns der Prophet Jesaja im Namen Gottes unmissverständlich ein.
Lassen wir uns das heute Abend (/Morgen) gesagt sein? Oder schrecken wir vor dem Buße-Tun zurück? Vielleicht mit dem Hinweis: Wir schaffen das nicht. Wir sind und bleiben doch Sünder. Nein, das stimmt nicht! Hören wir auf das Evangelium, die ganz frohe und befreiende Botschaft dieses alttestamentlichen Predigttextes: „Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden.“ Es ist Gott doch nicht daran gelegen, dass Du in Deinem Versagen vor den elementaren Forderungen der Mitmenschlichkeit scheiterst und daran zugrunde gehst. Hör ihn doch sagen: In Deiner Umkehr schon schenke ich Dir Vergebung. Gnade ist meine ganze Leidenschaft. Leidenschaft heißt Passion. In der Passion Gottes hat Dein Sünder-Sein ein Ende. Umkehr ist möglich, denn „alle Dinge sind möglich bei Gott“ (Mk 10,27). Amen.
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