Altjahresabend (31. Dezember 2016)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Gerhard Schäberle-Koenigs, Bad Teinach-Zavelstein [gerhard.schaeberle-koenigs@web.de]

Jesaja 30, 15-17

Liebe Gemeinde,
heute können wir in einer ruhigen Stunde dem nachsinnen, was wir denn erreicht haben im vergangenen Jahr. Was ist gelungen? Was ist schiefgelaufen? Worüber freu ich mich und was tut immer noch weh? Ich wünsche Ihnen, dass so eine Bilanz bei Ihnen einigermaßen ausgeglichen ist. Und dass Sie mit gutem neuen Mut in das neue Jahr gehen können.
An so einer Zeitenwende mischen sich ja unweigerlich unter die Gedanken der Rückschau auch gleich Fragen wie: Was will ich nächstes Jahr besser machen? Was hat sich bewährt? Was will ich unbedingt beibehalten?
Ich darf Ihnen dazu heute Abend noch einige Gedanken dazu legen, die aus der Ferne kommen. Alte Worte eines Propheten. Sie sind aufbewahrt in der Bibel im Buch des Propheten Jesaia.
[Predigttext Jes 30, 15 – 17]

Der Prophet verdirbt die StimmungDiese Sätze sind nicht angenehm zu hören. Das hat er auch selbst gemerkt, als er sie den Menschen in Israel entgegenschleuderte. Propheten sind ja selten angenehme Zeitgenossen. Zu einer Silvester-Party würde man sie besser nicht einladen. Sie verderben bestimmt die Stimmung und die Feierlaune.
Aber noch sind wir nicht auf der Party. So ist doch noch Zeit, auf ihn zu hören.
„Durch Stillesein und Vertrauen würdet ihr stark sein.“ Eine eigenartige Behauptung. Stark wird man doch durch Training und im Fitness-Studio, aber nicht, wenn man die Hände in den Schoß legt.
Zur Zeit dieses Propheten gab es einen politischen Streit. Stark sein und stark werden war in Israel ein Dauerthema. Israel war immer ein kleiner Staat. Selten konnte er Stärke nach außen zeigen. Meistens war er zusammen mit den anderen Kleinstaaten in der Gegend ein Spielball der Großmächte Babylonien im Norden und Ägypten im Süden. Da konnten die Israeliten nicht viel Staat machen. Sie waren immer höchstens in der zweiten Reihe. Soweit wir wissen, spürten sie aber gerade in der Zeit von Jesaia eine Morgendämmerung. Eine einmalige Chance. Denn eines der Großreiche war gerade am Zusammenbrechen. Und jetzt kamen Stimmen auf, die sagten: Wir können die Fremdherrschaft abschütteln. Wir müssen uns zusammentun, ein Bündnis schmieden und aufrüsten. Dann kann uns keine Macht der Welt mehr unterdrücken: „Auf Rossen wollen wir dahinfliegen und auf Rennern wollen wir reiten.“ Ein schöner Traum. Die Massen waren begeistert.
Die Stimmung wäre vollkommen gewesen, wenn nun auch noch ein Mann Gottes vollmächtig die Begeisterung angefeuert hätte mit einer Prophezeiung direkt von Gott selbst. Ich stelle mir vor: Einige von den wichtigen Leuten bemerkten, dass da noch was fehlt. „Wir müssen uns sicher sein, dass Gott mit uns ist. Sonst sind wir verloren“, sagten sie sich. „Wir müssen einen Propheten befragen. Einen Mann Gottes.“
Und so machen sie sich auf. Nach langem Suchen finden sie Jesaia vor seiner Hütte sitzen. Ganz in sich versunken sitzt er da. Seine Augen sind verschlossen. Eine große Stille ist um ihn. Scheu nähern sie sich. Sie grüßen ihn: „Shalom, Jesaia“. Er reagiert nicht. „Was siehst du?“, rufen einige. „Wird Gott mit uns sein, wenn wir sein Volk wieder groß machen? Sag es uns!“ Sie halten diese Stille kaum aus. Endlich wendet er sich ihnen zu. Und sagt einen einzigen Satz: „Durch Stillesein und Vertrauen würdet ihr stark werden.“ Sie sind wie vor den Kopf gestoßen. Manche tippen sich an die Stirn. „Der ist von Sinnen.“ Andere dringen auf ihn ein: „Sag uns, dass wir gewinnen werden, mit Gottes Hilfe.“ Und er: „Keiner von euch wird entrinnen. Wenn ihr umkehren würdet und stille halten, würde euch geholfen werden.“ Und dann schließt er wieder die Augen. Er ist wieder ganz in sich zurückgekehrt. Das Gespräch ist zu Ende. Die Besucher wenden sich ab und ziehen von dannen. Sie sind enttäuscht. Sie sind wütend. Ja, Hass steigt in ihnen auf gegen diesen Gottesmann. „Hätte er nicht mal ein Auge zudrücken und uns sagen können, was angenehm ist und was uns hilft? So ein sturer Kerl!“ Sie verfolgten ihre politischen Pläne nun ohne Gottes Zuspruch.

Stark sein auf Kosten der SchwachenImmer, wenn ein Staat sich aufmacht, stark zu werden, geht das zuerst zu Lasten der Schwachen im eigenen Land. Aufrüstung kostet Geld. Das muss an anderer Stelle eingespart werden. Das wird immer zuerst bei der Armenfürsorge eingespart. Das ist in unserem Land so weit gegangen, dass behinderte Menschen als lebensunwert eingeordnet wurden, als unnütze Esser, die man sich nicht mehr leisten könne. Und es geht einher mit Feindschaft gegen alles Fremde, sei‘s in der Religion, in der Art und Weise, wie jemand seine Liebe lebt, in der Sprache oder im Aussehen.
Wenn sich eine Gemeinschaft vornimmt, groß und stark zu werden und Macht nach außen zu zeigen, dann geht als erstes das gemeinschaftliche Leben im Innern vor die Hunde. Wir müssen es zurzeit wieder mit Schrecken beobachten, wie in vielen Teilen der Welt der Wille beherrschend wird: „Wir müssen wieder zeigen, wer wir sind. Wir müssen wieder stolz sein.“ Und die Kehrseite davon bekommen als erste die Schwachen im Innern zu spüren.
Die Menschen, mit denen es der Prophet Jesaia zu tun hatte, die wollten gern den Segen Gottes für ihre hochfliegenden Pläne. Stattdessen hörten sie diese schauerliche Aussicht: „Nichts wird von euch übrigbleiben, grad so viel wie eine zerfledderte einsame Fahne auf einem Stecken, grad so viel, wie wenn ein Tonkrug in tausend Scherben zerdeppert ist.“

Schaden nehmen an seiner SeeleDen Streit, der sich da im Großen auftat, den gibt’s auch im Kleinen. Sogar in einem einzelnen Menschenleben. Menschen, die sich vornehmen: Jetzt zeig ich mal, was in mir steckt. Jetzt mach ich meinen Weg. Mich hält keiner auf. Solche Menschen müssen, wenn sie ihre Ziele wirklich erreichen wollen, in gewisser Weise sehr rücksichtslos sein. Sie gehen oft Wege, die nicht ganz gerade sind. Sie lassen sich nicht durch Gefühlsduselei aufhalten. „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich.“ „Wer mir nichts nützt auf meinem Weg, mit dem hab ich nichts mehr zu tun.“ Der unbedingte Wille, stark sein zu wollen, der zerstört ganz viel. Der innere Mensch nimmt Schaden, wenn er sich nicht darin übt, Mitgefühl zu zeigen. Er nimmt Schaden, wenn er kein Erbarmen kennt. Er nimmt Schaden an seinem Innersten, wenn er keine Zeit hat für diejenigen, die ihn nötig haben. Der Mensch wird von innen zerfressen, wenn er nur noch Hass aufbringen kann gegen die, die anders sind als er.
Auch dieses Bild lässt uns der Prophet schauen: Menschen, die im Innersten tot sind, auch wenn sie sich nach Außen glänzend zeigen.

Beschenkt ins neue Jahr gehenWie wollen Sie in das kommende Jahr gehen? „Durch Stillesein und Vertrauen werdet ihr stark werden“, sagt der Prophet. Er hat offensichtlich eine eigene Vorstellung von Stärke. Es ist die Stärke, die mit Gott rechnet.
Ja, wir brauchen Stärke auch im neuen Jahr. Wir brauchen sie für das, was uns persönlich widerfahren kann oder wovor wir uns vielleicht fürchten.
Wir brauchen auch Stärke im neuen Jahr, damit wir uns nicht mitreißen lassen von Hass und damit Schaden nehmen in unserem Innersten.
Wir haben dabei einen Helfer. Er stellt uns ein kostbares Geschenk in Aussicht. In der Jahreslosung für das neue Jahr ist es angekündigt:
Gott sagt:
„Ich schenke euch ein neues Herz, und lege einen neuen Geist in euch.“
Ich nehme an, es wird ein Herz sein, das nicht verzagt, und ein Geist, der klug genug ist, mit Gott zu rechnen und nicht nur mit selbst.

Sollen wir mit Gott rechnen, heute, an der Schwelle zum neuen Jahr? Wäre das nicht einfach noch ein zusätzlicher guter Vorsatz zu den vielen, die wir uns bereits vorgenommen haben? Und von denen wir zum Teil im Innersten bereits ahnen, dass sie nicht lange halten werden?
Mit Gott rechnen: Wir feiern heute das Heilige Abendmahl. Bevor das Jahr zu Ende geht, dürfen wir die Hand aufhalten und empfangen, was Jesus Christus für uns erworben hat und freigiebig austeilt. An Starke und Schwache. An Menschen, die eine große Sorge mit sich rumtragen, an Andere, die einfach fröhlich und unbeschwert sind. An Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, und an solche, die unter den Umständen ihres Lebens oder der Unverständigkeit ihrer Mitmenschen stöhnen. Alle können sie damit rechnen, dass Gott ihr Leben im Auge hat. Jesus Christus bezeugt es uns. Er gibt uns ein Unterpfand dafür: Brot des Lebens. Und den Kelch des Heils. Einfach so. Wir haben‘s nicht verdient. Wir bekommen es geschenkt. Amen.

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