9. Sonntag nach Trinitatis (09. August 2020)
Pfarrer i.R. Dr. Gerhard Schäberle-Koenigs, Bad Teinach-Zavelstein [gerhard.schaeberle-koenigs@web.de]
Jeremia 1, 4-10
IntentionGott nimmt Menschen in seinen Dienst, auch wenn wir uns davor scheuen. Er gibt uns die dafür nötigen Gaben. Auch wenn unser Tun in unseren Augen vergeblich scheint – alles dient dem einen: Damit ihr lebt!
1,4 Und des HERRN Wort geschah zu mir: 5 Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker. 6 Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. 7 Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. 8 Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. 9 Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. 10 Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.
Ach Herr!Liebe Gemeinde,
so hat’s angefangen, das Prophetenleben des Jeremia. Was daraus werden würde, war noch nicht zu erkennen. Aber das erste Wort, das wir aus seinem Mund hören, ist dieses: „Ach, Herr“. War’s ein Seufzer, ein Erschrecken: „Um Gottes willen“, oder ein Erstaunen: „Ach wie schön“, oder lag so etwas wie Bescheidenheit darin „Ach, schick doch einen andern“. Am Anfang war’s noch nicht klar.
Ich wurde nicht gefragtEs ist immer etwas Besonderes, wenn eine Familie zusammensitzt, bei der Oma, und einer fragt plötzlich: „Oma, wie kam’s denn, dass du jetzt hier lebst, in diesem Häuschen? „Ja, erzähl mal: Wie hat alles angefangen, als du noch jung warst?“
Und Oma erzählt: Lang ist’s her. Da gab’s euch alle noch nicht. S‘war grad am Ende der Schule. Dreizehn war ich. Meine Eltern schickten mich in einen Haushalt in der Stadt. Gefragt hat mich keiner. Das hat mein Vater einfach so entschieden. Das war der Anfang, dass meine Mutter zu mir sagte: Du gehst in den Haushalt, gleich nach der Konfirmation. Wir haben da eine Adresse. Viel brauchst du nicht mitzunehmen. Das kleine Köfferchen reicht.“ „Und was hast du dazu gesagt?“ „Ich? Ich hatte doch nichts zu sagen. Ich wurde auch gar nicht gefragt. Ich war ja noch ein Kind. Mir ist nur rausgerutscht: ‚Ach Mutter, so ganz allein, und so weit weg?‘“ „Sei ruhig“, bekam ich zur Antwort, „du fährst da hin, und die Leute werden dir schon zeigen, was du zu tun hast.“ Und dann erzählt sie weiter, was aus dem Anfang geworden ist, wie viel Taschentücher sie nass geheult hat, und was sie alles hat durchmachen müssen – und wie sie sich verliebt hat. Und breitet alles Mögliche aus, alte Photos, Zeitungsartikel über die Leute, bei denen sie gearbeitet hat, die irgendwelche hohe Herrschaften waren, und ihre alte Bibel und das Gesangbuch, das sie zur Konfirmation bekommen hat. Und erzählt auch von den wenigen Menschen, die ihr da geholfen haben. Und wie sie so in ihrem Sessel sitzt und erzählt mit all den Erinnerungsstücken aus ihrem Leben, da wird der Kaffee in den Tassen kalt und grau, und der Kuchen bleibt stehen, und alle hören nur noch zu.
Hinter ihm die TrümmerEs ist immer etwas Besonderes, wenn jemand nach einem langen Leben erzählt, wie alles angefangen hat. Ich seh‘ auch den alten Jeremia vor mir. Er sitzt auf einem Stein, im Hintergrund sind die Trümmer der zerstörten Stadt Jerusalem zu sehen. Viel Schlimmes ist geschehen. Furchtbar war es, als die fremden Truppen in die Stadt eindrangen, sie anzündeten, den Tempel zerstörten, die Heiligen Geräte zertrümmerten und die Bewohner aus der Stadt vertrieben. Ein paar wenige Bruchstücke hat er aus dem Schutt zusammengesucht. Sie liegen jetzt auf seinem Schoß. Bei ihm sind ein paar jüngere Leute, darunter auch einer mit Namen Baruch, der schreiben konnte, und ein Afrikaner, Ebed Melech heißt der. Der hat ihm mal das Leben gerettet. „Wie hat das alles angefangen?“, wollen sie von Jeremia wissen. Erzähl mal.
Wie alles anfingUnd der alte Jeremia erzählt: Am Anfang, sagt er, am Anfang geschah des Herrn Wort zu mir. Er weiß nicht mehr, wann und wo. Das spielt auch keine Rolle. Nur so viel: Es war bereits alles entschieden. Er hatte nichts mehr dazu zu sagen. Sein Einwand, er sei doch noch zu jung, wurde weggewischt: „Sage nicht: ‚Ich bin zu jung‘, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete.“
Aber so allein, vor so mächtigen Leuten, Könige und Generäle und Priester, wollte ich einwenden, hörte aber schon: Hab keine Angst vor denen. Du bist nicht allein. Ich werde mit dir sein. -
Aber ich weiß doch nichts, kam mir in den Sinn. Ich hab keine Ausbildung, kein Zeugnis, nichts. - Du brauchst auch nichts zu wissen, du wirst genau das sagen, was ich dir auftrage. - Ja, soll ich denn von der Hand in den Mund leben? - Ja genau, schau‘, ich leg dir meine Worte in deinen Mund. - Und es war mir, als würde seine Hand meinen Mund berühren.
Niemand von den Umstehenden hatte je diesen Anfang gehört. Sie alle haben nur das Ende miterlebt. Aber Baruch, der schon viel aufgeschrieben hatte, schrieb auch noch diesen Anfang auf.
Mit drei Königen hatte es Jeremia nacheinander zu tun gehabt. Jeder hat auf seine Weise das Volk Israel noch tiefer in den Dreck gewirtschaftet. Sie wollten mit ihrer lächerlich kleinen Armee sich gegen die Großmacht Babylonien behaupten. Im Größenwahn haben sie vergessen, dass Gott es war, der diesem Volk immer wieder geholfen hat. Sie aber zusammen mit ihren Priestern und Heerführern dachten, sie seien selbst stark genug. Und Jeremia musste jedem sagen: Hör auf damit, die bringst das Volk ins Unglück. Keiner hat auf ihn gehört. Er störte nur. Und sie wollten ihn beiseiteschaffen.
Fürchte dich nicht, ich bin mit dir„Aber wenn alles umsonst war, warum hast du dann nicht aufgehört?“, fragt einer von den Umstehenden. „Ach“, sagt Jeremia, „ich war oft am Ende. Ich konnte nicht mehr. Meine Familie hat mich verstoßen, weil sie bedroht wurden. Wenn ich durch die Stadt ging, hörte ich wüste Beschimpfungen. Und einmal dachte ich, es wäre wirklich zu Ende, endlich. Sie haben mich klammheimlich in eine alte Zisterne geworfen, die voll mit Schlamm und Dreck und Mist war. Immer tiefer sank ich ein. Bis mir die Brühe bis zum Hals stand. Ich brachte nur noch raus: „Ach Herr, wozu hast du mich überredet. Es wäre besser gewesen, ich wäre nie geboren worden. Das Wasser steht mir bis zum Hals. Völlig verlassen muss ich zugrunde gehen. Ach, Herr!“
Da schweigen die andern ganz betreten. Sie merken, er hat Tränen in den Augen. Aber sein Gesicht hellt sich auf, mit glänzenden Augen schaut er den großen Afrikaner an, den Ebed-Melech: „Und dann kamst du. Hast leise in die Grube hinuntergerufen. Jeremia, nimm das Seil. Und nimm die Lumpen. Wickle sie um das Seil und dann bind es um deinen Oberkörper, damit’s nicht weh tut, wenn wir dich rausziehen.“
Mehr wollte er nicht mehr erzählen. Nur noch dies: Ich hatte ganz vergessen, dass am Anfang ja auch dieses Versprechen Gottes stand: Fürchte dich nicht, ich werde mit dir sein.
Scherben in meiner HandUnd jetzt schaut er auf die Bruchstücke, die in seinem Schoß liegen. In den Ruinen des Tempels hat er das alles zusammengeklaubt. Zerbrochene Opferschalen, Leuchter, Reste von Tüchern. Dazwischen ein Steinbrocken. Scharfkantig, mit Schriftzeichen beschrieben.
„Wozu schleppst du dich denn mit so einem Steinbrocken ab?“ Und Jeremia hält ihn hoch ins Licht und entziffert die Zeichen: „Damit ihr lebt“, kann er lesen. Mehr nicht. Aber es genügt. Alle merken: Jeremia hat ein Stück von den steinernen Tafeln in der Hand, auf denen die Zehn Gebote geschrieben waren.
Damit ihr lebt„Damit ihr lebt.“ Das ist die erste und letzte Absicht Gottes mit uns Menschen. Dazwischen führt er uns mitunter wunderliche Wege, einzelne auch sehr beschwerliche Wege. Mal gehen wir gern mit, mal würden wir lieber abbiegen oder uns verstecken. Aber so leicht lässt uns Gott nicht los.
Wenn einer mittendrin steckt und weder Gottes Wege verstehen kann noch seinen eigenen selbst gesuchten Wege ganz trauen will, dann bleiben Anfang und Ende ein Rätsel. Aber irgendwann schließt sich der Kreis, und zum Ende fügt sich der Anfang – und passt. Darum ist es so wichtig und auch so erhellend, wenn jemand so weit ist, dass er erzählen kann, wie alles angefangen hat.
„Das Leben kann man nur rückwärts verstehen, aber leben muss man es vorwärts“, sagte ein großer Denker. Wie gut ist es, dass wir nicht alles im Voraus wissen müssen. Wir würden es kaum wagen, ins Leben zu treten. Wie tröstlich aber ist es, wenn wir begreifen, wie alles geworden ist und wie alles angefangen hat. Und in der eigenen Geschichte Gottes gute Absicht erkennen können: Damit ihr lebt!
Amen.
Anregungen zu dieser Predigt kommen von Rembrandts Gemälde „Jeremia trauert über die Zerstörung Jerusalems“ (1630, Amsterdam Rijksmuseum), und von Franz Werfels Roman „Jeremias. Höret die Stimme“ aus dem Jahr 1937 (Frankfurt am Main 1981). Werfel setzt an den Schluss seines Romans dieses fiktive Bild, wie Jeremia die Trümmer der Gesetzestafel aus dem Tempel in Händen hält und darauf entziffern kann „damit ihr lebt“.
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