7. Sonntag nach Trinitatis (10. Juli 2016)
Apostelgeschichte 2, 41-47
Weißt du noch?Weißt du noch? Wie frisch verliebt waren wir alle miteinander.
Unsere kleine, feine Oberstufen-Klasse, Altsprachlicher Zweig.
Gerademal zwölf waren wir noch.
Sechs Schülerinnen, sechs Schüler.
Ständig hingen wir zusammen.
Konnten uns blind aufeinander verlassen.
Eine verschworene Gemeinschaft.
Konkurrenz war ein Fremdwort, Strebertum undenkbar.
Bewundert haben wir einander für das, was die Andere konnte.
Stolz waren wir auf den Erfolg des Anderen.
Und eine genial funktionierende Arbeitsteilung: eine Stunde vor Unterrichtsbeginn
verteilte der jeweilige Fachexperte die fertigen Hausaufgaben an den Rest der Klasse.
Niemand behielt etwas für sich. Alles wurde geteilt.
Weißt du noch, damals?
Täglich traf man sich nach der Schule bei Theo, dem Kneipenwirt um die Ecke.
Teilten, was es gab.
Aufbruch war angesagt.
Exodus aus der kleinen Fachwerkstadt, die uns zu eng wurde.
Möglichst weit weg.
Am besten nach Berlin.
Die Welt verändern, im Kleinen wie im Großen.
Freiheit, die uns lockte und zugleich mächtig Respekt einflößte.
Alles schien möglich … wie bei Detlev.
In der 7. Klasse sollte er von der Schule fliegen.
Arbeiterkind. Hoffnungsloser Fall.
Am Ende machte er preisgekrönt das beste Abi in der Stadt.
Wunder und Zeichen.
Erinnere uns an den Anfang„Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen; und an diesem Tage wurden hinzugefügt etwa dreitausend Menschen. Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Es kam aber Furcht über alle Seelen und es geschahen auch viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.“
(Apg 2, 41-47)
Weißt du noch?
Erinnerung an den Anfang.
Als alles begann.
So war es einmal – oder mag es gewesen sein…
Am jüdischen Wochenfest,
das Fest zur Erinnerung an die Gabe der Tora, der Gebote Gottes an sein Volk Israel.
Menschen aus allen Völkern reisen zum Feiern nach Jerusalem.
Bei den Christen wird es später Pfingsten genannt.
Die ersten Christen: eine verschwindend kleine Gruppe von Juden,
die daran glauben, dass der Jeschuah aus Galiläa der Messias, der Christus, der Gesandte Gottes ist.
Sein Tod hatte sie fast dem Vergessen der Geschichte preisgegeben.
Der feste Glaube an seine Auferstehung versetzt sie in Aufbruch-Stimmung.
Macht sie interessant: „Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.“
Erinnere uns an den Anfang.
Am Anfang, als Leben begann,
sprachst du zu uns: ihr seid willkommen,
hast du an die Hand uns genommen.(1)
Aber das ist es nicht allein.
Aufbruch in dem, was Jesus gelehrt hat.
Das ist kein Aufbruch in ein neues, von Israel getrenntes Gottesvolk.
Alles, was diese kleine Gruppe von Jesus-Anhängern ausmacht,
macht das Judentum insgesamt aus:
„Sie blieben beständig in der Lehre der Apostel.“
Sie hörten und lernten die Weisung Gottes, wie es Gott für das Wochenfest geboten hatte.
„Sie blieben beständig in der Gemeinschaft.“
Denn das Wochenfest soll immer gemeinschaftlich gefeiert werden.
Niemand bleibt allein.
„Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.“
Selbst die Besitzlosigkeit ist bis heute im orthodoxen Judentum verankert:
Üblicherweise vermachen Talmudschüler ihren Besitz bei Eintritt in eine Schule der Gemeinschaft und werden von ihr künftig versorgt.
„Sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel.“
Er blieb wie für Jesus, so auch für seine Anhänger,
Ort des Gottesdienstes, Mitte des Gebetes und der Lehre.
„Sie brachen das Brot hier und dort in den Häusern.“
So war es – und ist es bis heute – üblich bei Tischgemeinschaften in jüdischen Häusern.
Wo christlicherseits das Tischgebet gesprochen wird,
ist es im Judentum der Segen Gottes über Brot und Wein.
„Gelobt bist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du Brot aus der Erde hervorbringst…“
So tat es auch Jesus bei seinem letzten Mahl mit den Jüngern.
„Sie hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott.“
Je mehr hier nach dem jüdischen Verständnis am Tisch zusammenkommen,
desto größer wird das Lob Gottes: also etwa dreitausend Menschen sollten es dann schon sein.
Aufbruch-Stimmung? Ja.
Durch Jesus, den Christus, seid ihr nicht mehr Gäste und Fremdlinge (Eph 2, 19) in dieser Tischgemeinschaft.
Ihr gehört dazu.
Und gleichzeitig ist da viel Beständiges.
Etwas, was bleibt und trägt und verbindet.
Es war einmal – so soll es einmal seinJa, so mag es einmal gewesen sein.
Und heute?
Sollen wir in das alte Klagelied einstimmen: Früher war alles besser?
Die Apostelgeschichte des Lukas erzählt nicht, wie groß und schön die Kirche einmal war.
Sie erzählt, wie es gemeint ist, wie es einmal sein könnte – das Reich Gottes.
Das ist nicht dasselbe.
Die Ehre, das Recht Gottes – sie sollen wachsen.
Das heißt nicht einfach: die Kirche soll wachsen.
Es ist eine Falle, sich von wachsenden Zahlen faszinieren
und von geringen Zahlen entmutigen zu lassen.
Wer nur an Zahlen hängt, der vertraut nicht Gott.
Auch die kleine Gruppe von Jesusgläubigen wäre heute nicht konkurrenzfähig.
Dass das Reich Gottes wächst, können wir nicht herbeizwingen –
auch nicht mit besinnungslosem kirchlichem Aktionismus.
Erinnere uns an das Staunen.
mit staunendem offenen Blick
hast du uns als Kinder gesegnet,
sind wir allem Neuen begegnet.(2)
Lukas erzählt, wie es ist, im Glauben immer neu aufzubrechen.
Wie früher das Volk Israel beim Auszug aus Ägypten.
Jeder Auszug bedeutet Abschied, Schmerz, Verlust.
Besonders, wenn man noch nicht weiß, wohin der Weg führen wird.
Es ist nicht leicht, sich von Größe und Bedeutung der Kirche zu verabschieden.
Es ist nicht leicht, nicht mehr einzigartig zu sein.
Zuzusehen, wie neben uns Christen andere Religionen wichtiger werden.
Wie christliche Sprache nicht mehr die einzige Sprache der Hoffnung ist.
Erinnere uns an Erfahrung.
Erfahrung, die uns heute prägt,
hat uns auch durch Trauer geleitet,
hat unseren Glauben geweitet.(3)
„Sie lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.“
Das ist die Verheißung für uns.
Gottes Verheißung.
Auch wenn Christen die Kirche verlassen
oder sich von freikirchlich geprägten Gruppen angezogen fühlen.
Auch und gerade in der Welle des Hasses und der Gewalt, die wir gerade erleben.
Wir Christen brauchen uns nicht zu verstecken.
Wir sollen zeigen, was uns wichtig ist:
Die Geschichten davon, dass jedes Leben kostbar ist,
dass wir zur Freiheit berufen sind.
Geschichten von Recht und Gerechtigkeit:
dass das Recht wie Wasser fließen soll,
dass wir Fremde unter uns nicht bedrücken, ihnen in der Not vielmehr beistehen.
Dass das Zerbrochene wieder aufgerichtet werden soll,
und Tyrannen das Handwerk gelegt wird.
Und dass wir Christen dabei keine Angst um uns selbst haben müssen,
denn Gott sorgt für uns.
Kinder brauchen Väter und Mütter, Pfarrerinnen und Pfarrer, Lehrerinnen und Lehrer,
die zeigen, was sie lieben, worauf sie hoffen, woran sie glauben.
Menschen brauchen die fremden Lieder von der Nächstenliebe,
von der Würde des Alters, von der Vergebung schwer lastender Schuld,
von der Auferstehung aus dem Tode.
Erinnere uns an das Ende,
ans Ende, wenn du zu uns sprichst:
Willkommen seid ihr. Euer Bangen
Ist gänzlich in Liebe umfangen.(4)
Julian Barnes, vielleicht der charmanteste britische Atheist, sagte einmal:
„Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn.“
Auch wenn er mit der christlichen Hoffnung nichts anfangen kann,
sehnt er sich danach,
dass Christen sagen, wer sie sind, und sich nicht schämen für das, was sie glauben.
ErinnerungszeichenWeißt du noch? 40 Jahre ist das Abi jetzt her.
Kaum erkennen wir uns wieder.
Ergraut, beleibt.
Nach und nach entdecken wir altvertraute Gesichtszüge,
ein bekanntes schelmisches Lächeln,
immer noch strahlende Augen.
Immer noch neugierig aufeinander, entdecken wir uns wieder.
Wie verliebt sind wir immer noch.
Die kleine Fachwerkstadt bleibt uns.
Einander wiedersehen und Erinnerung teilen – das belebt!
Die Aufbruch-Stimmung inspiriert uns aufs Neue.
Wir sehen uns jetzt wieder öfter.
Das macht jung.
Denn die Verheißung bleibt.
Die Verheißung, sich an Gottes Wort als Weisung zum Leben zu halten.
In der Gemeinschaft zu bleiben mit den Geschwistern im Glauben.
Zu teilen mit denen, die bedürftig sind.
Gott zu loben.
Gesicht zu zeigen.
Erinnere uns an den Anfang,
an Ursprung und Werden, Vergehen,
damit wir das Leben verstehen, damit wir klug werden.(5)
So soll es sein.
Das heißt: Amen.
Anmerkungen 1: Aus: Kirchentagsliederbuch „ZeitWeise“, Stuttgart 2015. Nr. 66, Strophe 1, Text: Ilona Schmitz-Jeromin © Strube Verlag, München. 2: ebd, Strophe 2; 3: ebd., Strophe 3; 4: ebd., Strophe 4; 5: ebd., Kehrvers.
Wichtige Anregungen für diese Predigt sind entnommen aus: Fulbert Steffensky, Kleine Herde – großer Verein, in: Wo der Glaube wohnen kann, Stuttgart 2008, 91-109.
Predigt zum Herunterladen: Download starten (PDF-Format)